# taz.de -- Tscherkessen-Ausstellung: Was nach dem Massaker blieb | |
> Anlässlich der Olympischen Winterspiele beleuchtet das Hamburger | |
> Völkerkundemuseum das Schicksal der Tscherkessen. | |
Bild: Tscherkessische Reitkunst im Exil: 1921 beim Besuch des Hohen Kommissars … | |
HAMBURG taz | Der Gast muss sich nicht anmelden. Er kann einfach kommen und | |
das Gästehaus beziehen. Und er kann auch einfach wieder seiner Wege gehen. | |
Den Grund seines Kommens muss er nicht nennen; muss nicht angeben wie lange | |
er bleiben wird. Wird aber entdeckt, dass er gekommen ist, dann wird er | |
fürstlich bewirtet und genießt allen Schutz, den ein Gast im Kaukasus | |
genießen kann – selbst wenn er aus einer verfeindeten Familie stammt. | |
Ein Modell zeigt das ummauerte Wohnhaus eines tscherkessischen Hofes samt | |
eben jenem Gasthaus; im Hintergrund laufen in einer Diashow Bilder, die die | |
Berge des Kaukasus zeigen. „Tscherkessen – Vom Kaukasus in alle Welt | |
verweht“, so heißt die [1][Ausstellung im Hamburger Völkerkundemuseum], die | |
zur rechten Zeit kommt. Denn das – sagen wir ruhig – Schicksal des | |
kaukasischen Volkes der Tscherkessen ist eng mit dem Ort verbunden, an dem | |
gerade die Olympischen Winterspiele stattfanden: Sotschi. | |
Nach Sotschi zogen sich im Frühjahr 1884 die letzten Tscherkessen zurück, | |
Angehörige eines Reitervolkes, das in den vergangenen Jahrhunderten immer | |
wieder um seine Unabhängigkeit gekämpft hatte. In Sotschi werden sie von | |
der Armee des Zaren eingekesselt, der den Kaukasus endgültig unterwerfen | |
will. Im Mai 1884 ist alles vorbei: Die letzten Aufständischen werden | |
gnadenlos zusammengeschossen. | |
400.000 bis 600.000 Menschen sollen damals und bei der anschließenden | |
Vertreibung ins seinerzeit osmanische Reich ums Leben gekommen sein. Es | |
gibt Historiker, die die Vertreibung der Tscherkessen – meist über das | |
Schwarze Meer – als den ersten Genozid der Moderne beschreiben. Zur | |
bitteren Seite der Geschichte gehört, dass später tscherkessische Reiter im | |
Dienst der osmanischen Armee an der Vertreibung und Ermordung der Armenier | |
beteiligt gewesen sein sollen, wie jüngere Forschungen belegen. | |
Bis heute hat Russland den Völkermord an den Tscherkessen nicht anerkannt. | |
Was es offiziell gibt, sind tscherkessische Tanz und Musikensembles; | |
folkloristische Einsprengsel, die auch zum Begleitprogramm der Olympischen | |
Spiele gehörten. Von einem Gedenktag ist man weit entfernt, auch einen | |
zentralen Gedenkort sucht man vergebens. | |
## Überleben in der Fremde | |
Das alles stellt auch die Ausstellung vor Probleme. Es gibt nur sehr wenige | |
Exponate, die die Vertreibung überstanden haben, und was die Tscherkessen | |
an Waffen, Schmuck, Kleidung und Hausrat ins osmanische Reich mitnehmen | |
konnten, wurde dort oft zu Schleuderpreisen verkauft, denn sie mussten um | |
ihr Überleben in der Fremde kämpfen. Zu sehen sind kunstvoll geschmiedete | |
Schwerter, eine Tscherkesska, das traditionelle Kleid der Krieger, oder | |
Gürtel, die heute begehrte Objekte auf dem Kunstmarkt sind. Ein | |
Pferdemodell mit tscherkessischem Sattel verweist auf die Tradition der | |
Pferdezucht. | |
Das Ende des osmanischen Reiches leitete die nächste Fluchtbewegung ein: | |
Zwar gab es nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches und während der Wirren | |
der russischen Revolution von 1917 bis 1922 kurzzeitig eine eigenständige | |
tscherkessische Republik und es leben noch immer etwa 700.000 Tscherkessen | |
in drei kaukasischen Teilrepubliken. Doch die Mehrheit der Tscherkessen | |
lebt jetzt verstreut in der heutigen Türkei, aber auch in Jordanien, im | |
Irak, in Ägypten, in Syrien und in einer kleinen Gruppe in Israel. | |
Auch die Konflikte unserer Gegenwart haben immer wieder die Exilgemeinden | |
der Tscherkessen berührt, wie der Krieg im Kosovo oder aktuell der | |
Bürgerkrieg in Syrien: Die dortigen Tscherkessen gelten wie die anderen | |
Minderheiten häufig pauschal als regimetreu und werden so Ziele der | |
militärischen Opposition. | |
## Tscherkessen in Deutschland | |
Nach Deutschland kamen Tscherkessen vor allem in den 1960er Jahren als | |
Arbeitsmigranten, wie die Großeltern und Eltern von Gülay Gün. „Ich bin | |
Deutsche, und ich bin Tscherkessin, und das schließt sich keinesfalls aus“, | |
sagt sie. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr ist sie im tscherkessischen | |
Verein in Oyten bei Bremen tätig. | |
Die studierte Historikerin ist als Co-Projektleiterin in die Ausstellung | |
involviert. Nein, vor Ort sei sie nicht nicht gewesen, sagt sie, aber im | |
nächsten Jahr will sie hinfahren. Gerade unter jungen Tscherkessen gebe es | |
einen wahrnehmbaren Trend, zurück in den Kaukasus zu gehen, so Gün: „Es ist | |
nicht einfach, es bedeutet vor allem finanzielle Einbußen, aber es ist | |
möglich.“ | |
Woher sich dieser Wunsch speise? „Wenn ich für mich sage, dass ich | |
Tscherkessin bin, dann weiß ich, was damit gemeint ist; andere wissen das | |
nicht“, benennt sie einen wohl nicht erklärbaren Moment solider Identität. | |
## Innere Verlorenheit | |
Es sind die vordergründig privaten Fotos tscherkessischer Familien, die in | |
der Ausstellung von der auch inneren Verlorenheit der Exil-Tscherkessen | |
zeugen – und von dem Willen, ihre Zugehörigkeit zu bewahren, trotz eines | |
sich wandelnden Alltags: Zeigen die Schnappschüsse aus den 1950er und | |
1960er Jahren tscherkessische Familien vor ihren Häusern inmitten einer | |
dörflichen, oft etwas staubigen Umgebung, präsentieren sie sich später in | |
verhaltenem Stolz in ihren Großstadtwohnungen oder in gemieteten Festsälen, | |
die den Dorfplatz ersetzen. | |
Gülay Gün berührt ein Bild aus den 1980er Jahren besonders, das einen | |
kleinen Jungen mit einem aufgeklebten Schnurrbart zeigt: „Seine Eltern | |
haben ihn zum Fasching geschickt, weil es in Deutschland nun mal Fasching | |
gibt. Einerseits ist das Bild sehr komisch“, sagt sie. „Andererseits frage | |
ich mich: Gibt es denn keine andere Darstellungsweise für uns als das | |
Stereotyp des Türken?“ | |
Dass die Tscherkessen völlig losgelöst von ihrer Verfolgungsgeschichte | |
wiederum in den Anfängen der Medienmoderne auch als Projektionsfläche für | |
das wilde und ungestüme Leben herhalten mussten und wie zuletzt noch eine | |
Spur nach Hamburg führt, zeigen Plakate der großen sogenannten | |
Völkerschauen bei Hagenbeck, wo angebliche Tscherkessen Reiterkämpfe | |
simulierten. Später standen sie ähnlich wie die amerikanischen Indianer für | |
die Träume und Illusionen vom unbeugsamen, aber zum Untergang verurteilten | |
Volk. | |
## Die Ausstellung im Hamburger Völkerkundemuseum endet am 25. Mai. | |
Begleitend lohnt sich die Lektüre des Buches: Manfred Quiring: Der | |
vergessene Völkermord – Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen, Chr. | |
Links Verlag 2014, 16,90 Euro | |
24 Feb 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.voelkerkundemuseum.com/570-0-Tscherkessen---Vom-Kaukasus-i-n-all… | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
## TAGS | |
Sotschi | |
Sotschi 2014 | |
Sotschi 2014 | |
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