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# taz.de -- Menschenrechtsmuseum in Winnipeg: Marx und Mandela
> Das Museum für Menschenrechte in Winnipeg feiert den ersten Jahrestag. Es
> befasst sich mit Diskriminierung, Rassismus und Völkermord weltweit.
Bild: Das Museum für Menschenrechte in Winnipeg
„Jetzt reicht‘s, fanden David Shepherd und Travis Price. Der neue Junge aus
der 9. Klasse war diesem Morgen in einem rosa T-Shirt in ihre Schule in
Cambridge, Nova Scotia, gekommen – ein prima Anlass für ein paar
Klassenkameraden, ihn fertig zu machen. „Du schwule Sau, was willst du
hier?“, war noch eine der harmloseren Hetzereien.
Am Nachmittag telefonierten die beiden 17-Jährigen eine ganze Weile. Und am
nächsten Morgen standen Hunderte ihrer Mitschüler vor der Schule – alle in
einem leuchtend rosa T-Shirt. Als der Neue kam, ging ein breites Lächeln
über sein Gesicht. Und er wurde nie mehr getriezt. Seitdem ist der zweite
Donnerstag im September in Kanada Anti-Mobbing-Tag.
Es sind kleine Geschichten wie diese, die das neue Kanadische Museum für
Menschenrechte in der Hauptstadt der Provinz Manitoba so abwechslungsreich
machen. Nicht nur historische Ikonen wie Martin Luther King oder Nelson
Mandela werden abgefeiert, der Alltag von heute zählt genauso. Was kann ich
tun, wenn ich mich mit Diskriminierung nicht mehr abfinden will? Wäre ich
im Kino sitzen geblieben wie Viola Desmond, die sich 1946 als Schwarze
weigerte, den Sektor für Weiße zu verlassen? Wie mutig bin ich, wenn mein
behinderter Kumpel angemacht wird?
Fragen wie diese durchziehen alle neun Ausstellungsbereiche. Eröffnet wurde
der Bau am 19. September 2014 und er ist ein echter Hingucker. Mattsilbern
glitzern die 1.300 Glaspaneelen in der Sonne. Sie bedecken eine Halbkugel
aus fünf übereinander geschlagenen Bändern, aus der schmal und filigran der
„Turm der Hoffnung“ 100 Meter hoch aufsteigt. Rund um das Gebäude mitten in
der Stadt wächst jenes Präriegras, das einst das ganze Land bedeckte und
längst den Weizen- und Rapsfeldern gewichen ist.
Izzy Asper, Gründer eines Medienkonzerns, brachte die Idee um die
Jahrtausendwende erstmals auf. Als er drei Jahre später starb, kümmerte
sich seine Tochter Gail um das Projekt. Umgerechnet 234 Millionen Euro
kostete es am Ende. 100 davon brachten die Aspers und andere private
Spender auf. Den Rest übernahmen Provinz- und Bundesregierung.
Die neun Stockwerke sind über eine Rampe aus Spanischem Alabaster
verbunden, die von innen beleuchtet ist. Symbolträchtig führt sie im
Zickzack vom Dunklen ins Helle nach oben. Jede Etage steht unter einem
anderen Thema. Gleich zu Beginn wird gefragt: Was sind Menschenrechte? Auf
einer großen Videowand erklären Künstlerin und Unternehmer, Lehrer und
Rechtsanwältin und viele andere Menschen aus aller Welt, was daran wichtig
für sie ist.
Gegenüber sind auf einer Zeitschiene hundert Schlüsselereignisse
aufgelistet, die die Menschheit ein Stück weitergebracht haben: 1215
akzeptiert König John in England die Magna Charta. 1867 veröffentlicht Karl
Marx das Kapital. 1969 beginnt mit den Stonewall Riots in New York der
militante Kampf der Schwulen um ihre Rechte.
Überall laufen Filme und Videos, an Bildschirmen kann der Besucher
juristische Grundsatzfragen entscheiden und wird dann mit den dazugehörigen
realen Gerichtsurteilen konfrontiert. Technik wie Architektur sind vom
Feinsten, der „Garten der Kontemplation“ wurde mit Hunderten von
Basaltsäulen, Grünpflanzen und Teichen dem irischen „Giant´sCauseway“
nachempfunden und, man höre, nicht nur die Namen von Architekten und
Sponsoren sind unter Glas verewigt, sondern die aller Arbeiter, die am Bau
tätig waren – über 2.000 sind es.
Das alles ist imponierend und sehr ansehnlich – aber manchmal eine Spur zu
perfekt, zu pfiffig, zu ästhetisch. Manchmal erschlägt die Form den Inhalt.
Im Mittelpunkt steht die kanadische Gesellschaft: Welche Fortschritte in
Sachen Menschenrechte wurden wann gemacht – und wofür muss man sich heute
noch schämen? Dabei schonen die Ausstellungsmacher sich und ihre Landsleute
nicht: Die abgegriffenen Koffer? Sie erinnern an die Kanadier mit
japanischen Wurzeln, die im 2. Weltkrieg interniert wurden.
Die roten Kleider im Wald? Die stehen für die vielen Frauen der First
Nations, die spurlos verschwinden, ohne dass ihr Fall je aufgeklärt würde.
100.000 Boatpeople aus Vietnam hat Kanada aufgenommen – aber die „St.
Louis“ 1939 mit ihren über 900 jüdischen Passagieren zurückgeschickt nach
Europa. Die Hochzeitstorte mit den Fotos männlicher Paare dagegen ist ein
eindeutiges Erfolgssymbol: seit 2005 ist die gleichgeschlechtliche Ehe
legalisiert. Angehörige der Ureinwohner, der First Nations, haben bei der
Konzeption der Ausstellung mitgearbeitet. Andere protestierten bei der
Eröffnung, weil die Ausrottung ihrer Völker nicht explizit als „Genozid“
anerkannt wurde.
## Bedrückende Interviews
Auf jeden Fall aber ist die Darstellung des Themas „Residential Schools“
ungeschönt: Von 1880 bis 1990 wurden Kinder der First Nations, der Inuit
und Métis ihren Eltern weggenommen und in staatliche Internate gesteckt.
Dort durften sie ihre Sprache nicht mehr benutzen, wurden geschlagen und
manchmal auch missbraucht. Die Interviews mit ehemaligen Schülerinnen und
Schülern, oder besser: Insassen, sind bedrückend.
Die Abteilung zwei Stockwerke höher befasst sich mit dem Holocaust. Nicht
um die Deutschen an den Pranger zu stellen, wird betont, sondern als
exemplarisches Beispiel, wie Faschismus entsteht und funktioniert. Auch
hier sind es oft die unscheinbaren Objekte, die am meisten erschüttern. Das
Foto jener lachender Männer und Frauen mit einer Ziehharmonika etwa, Wärter
des Konzentrationslagers Auschwitz, die im „Urlauberheim“ Solahütte
entspannen.
Und auch hier bleibt der kanadische Blick selbstkritisch: Ein Film im
„broken glass“-Kino belegt, wie salonfähig zu jener Zeit Antisemitismus
auch in Kanada war – gerade mal 5.000 Juden nahm das Land auf, am wenigsten
von allen Alliierten. Nach dem Krieg waren es allerdings Zehntausende.
## Hungertod in der Ukraine
Bei der langen, öffentlichen Diskussion über die Konzeption des Museums
hatte sich auch die starke ukrainische Gemeinde Kanadas zu Wort gemeldet.
Sie setzte durch, dass der Holodomor, der Hungertod von Millionen von
Ukrainern 1932/33, verursacht durch die Zwangsmaßnahmen Stalins, als
Genozid behandelt wird – neben der Vernichtung der Armenier, den Gemetzeln
in Ruanda und Srebrenica und dem Holocaust, die von der kanadischen
Regierung als Völkermord anerkannt werden.
Ausführlich wird hierbei die Rolle von Schriftstellern und Journalisten
beleuchtet, die aus ideologischen Gründen die Augen vor der Realität
verschlossen oder sie bewusst verschwiegen.
Vorwürfe an die Verantwortlichen, wichtige Komplexe auszublenden, kommen
von vielen Seiten. Palästinenser etwa fühlen sich ignoriert, und die Frage,
inwieweit das Thema Menschenrechte im Kampf der Systeme auch als politische
Waffe dient, wird an keiner Stelle aufgeworfen. Das alles ändert nichts
daran, dass dieses Museum eine richtige und wichtige Einrichtung geworden
ist. Schließlich hat auch die Linke schmerzhaft lernen müssen, dass jede
künftige Gesellschaft, die Bestand haben will, ohne grundlegende Rechte für
den einzelnen nicht auskommt.
Gut also, dass dieses Projekt kein Mausoleum geworden ist. Sondern ein
Labor wichtiger Ideen für die Zukunft.
11 Oct 2015
## AUTOREN
Franz Lerchenmüller
## TAGS
Reiseland Kanada
Schwerpunkt Rassismus
Diskriminierung
Ehrung
Kanada
Reiseland Kanada
Menschenrechte
Sotschi 2014
Kanada
Bürgerkrieg
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