| # taz.de -- Europawahl ohne Dreiprozenthürde: Einfach nur anders | |
| > Das Europaparlament ist kein Parlament zweiter Klasse, nur weil das | |
| > Bundesverfassungsgericht am Mittwoch die Dreiprozenthürde gekippt hat. | |
| Bild: Eine Katastrophe? Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem Urteil jedenfa… | |
| So ein schlechtes Echo hat das Bundesverfassungsgericht selten. Am Mittwoch | |
| kippte es die Dreiprozenthürde bei der Wahl der deutschen | |
| Europaabgeordneten. Die Europawahl am 25. Mai wird in Deutschland also ohne | |
| Dreiprozenthürde stattfinden. Dann bekommt jede Partei, die mehr als etwa | |
| 0,7 Prozent der Stimmen erzielt, mindestens eines der 96 deutschen Mandate. | |
| Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete das Urteil als „Katastrophe“. Es werde | |
| die Demokratisierung Europas „dramatisch schwächen“, meinte die Berliner | |
| Zeitung. Dem Verfassungsgericht wird vorgeworfen, dass es das Europäische | |
| Parlament nicht ernst nehme. Es werde behandelt wie ein „Parlament zweiter | |
| Klasse“, wie ein „Debattierclub“, wie ein „Parvenü“, wie eine | |
| „Schießbudenfigur“ und so weiter. | |
| Das lässt tief in die ordnungsliebende deutsche Seele blicken. Eine | |
| Parlamentswahl ohne Prozenthürde, das scheint keine ordentliche | |
| Parlamentswahl zu sein. Und ein Parlament ohne Zugangshürde ist demnach ein | |
| ungeliebtes, ein missachtetes Parlament. Ohne Prozenthürde werde das | |
| Europaparlament, so Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung, „zum | |
| Rummelplatz“. Auch das noch. | |
| Angesichts all der Empörung muss mal eine bescheidene Frage gestellt | |
| werden. Wem dient eigentlich das Recht? Dem Bürger oder den Institutionen? | |
| Das Bundesverfassungsgericht hat jedenfalls den Bürger in den Mittelpunkt | |
| gestellt. Seine Stimme soll bei der Wahl zählen und nicht unter den Tisch | |
| fallen. Seine Entscheidung soll respektiert und nicht gelenkt werden. Eine | |
| freie Wahl ohne Prozenthürde ist, so gesehen, die Regel und das Aufstellen | |
| künstlicher Hürden die Ausnahme. | |
| Eine Prozenthürde kann es daher nur geben, so der Karlsruher Maßstab, wenn | |
| die Funktionsfähigkeit des zu wählenden Parlaments ohne sie beeinträchtigt | |
| wäre. Es genügt nicht, dass ein Parlament die Hürde gerne hätte, weil es | |
| sich dann wichtig und ernst genommen fühlt. Oder weil der Bundestag doch | |
| auch eine Prozenthürde hat. | |
| ## Der Gegensatz | |
| Es gibt nun mal entscheidende Unterschiede zwischen dem Bundestag und dem | |
| Europaparlament. Im Bundestag gibt es eine Koalitionsmehrheit, die die | |
| Regierung trägt, und eine Opposition, die die Regierung kritisiert. Die | |
| Fronten sind klar, man ist entweder Teil der Regierungsmehrheit oder Teil | |
| der Opposition. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass immer gemeinsam | |
| abgestimmt wird, um die Regierung nicht zu gefährden. Wenn es schwierig | |
| ist, die Regierungsmehrheit zu bilden, weil zu viele Parteien im Parlament | |
| vertreten sind, dann ist das ein Problem. Deshalb ist eine Prozenthürde bei | |
| Bundestagswahlen gerechtfertigt. | |
| Das Europaparlament ist aber anders. Nicht minderwertig oder zweitklassig, | |
| sondern anders. Das Europaparlament trägt keine Regierung, denn es gibt | |
| keine Europaregierung. Die EU-Kommission, die die Gesetze vorschlägt, wird | |
| im Wesentlichen von den EU-Staaten beschickt. Der Ministerrat, der mit dem | |
| Parlament gemeinsam die Gesetze beschließt, besteht aus Ministern der | |
| EU-Regierungen. | |
| Es gibt im Europaparlament auch keine festen Koalitionen, denn es gibt | |
| keinen Grund, immer gemeinsam abzustimmen. Selbst die Fraktionen stimmen | |
| oft nicht geschlossen, weil die Interessen auch innerhalb politischer | |
| Richtungen wie der Sozialdemokraten oder der Grünen sehr unterschiedlich | |
| sein können. | |
| Das Europaparlament ist also so bunt und lebendig wie Europa. Es wird nie | |
| so geordnet und statisch sein wie der Bundestag. Und es ist ja auch nicht | |
| unsympathisch, wenn sich von Fall zu Fall Sachkoalitionen bilden, eben nach | |
| den Interessen der Abgeordneten und nicht nach einem Koalitionsvertrag. | |
| Ein so funktionierendes Parlament kann auch ein paar versprengte | |
| Abgeordnete zusätzlich integrieren oder verkraften. Diese Position des | |
| Bundesverfassungsgerichts ist gut vertretbar. Jedenfalls ist darin keine | |
| Missachtung oder Herabwürdigung des Europäischen Parlaments zu sehen. Es | |
| zeugt eher von Ignoranz gegenüber europäischen Prozessen, wenn manche | |
| Kritiker glauben, dass die EU bald wie ein größeres Deutschland | |
| funktionieren könnte oder sollte. | |
| ## Antieuropäische Parteien | |
| Die Richter haben auch die „Prognosen“ zurückgewiesen, dass das | |
| EU-Parlament ausgerechnet nach der kommenden Wahl einen großen Schritt in | |
| Richtung konventionelles Parlament machen werde. So solle die Aufstellung | |
| von EU-weiten Spitzenkandidaten dazu führen, dass sich nach der Wahl | |
| plötzlich wie im Bundestag eine feste Mehrheit und eine Minderheit | |
| gegenüberstehen. Diese Prognosen haben sich die etablierten Parteien | |
| ausgedacht, die natürlich keine Lust haben, Mandate an Kleinparteien | |
| abzugeben. Was von solchen Prophezeiungen zu halten ist, kann ja jeder in | |
| ein oder zwei Jahren selbst überprüfen. | |
| Nicht die deutschen Kleinparteien werden nach der Wahl zum Problem des | |
| Europaparlaments, sondern das Einrücken großer antieuropäischer Parteien | |
| wie des Front National aus Frankreich. Vielleicht wird sich dieser Fraktion | |
| dann auch ein einzelner deutscher NPD-Abgeordneter anschließen. Aber das | |
| ist dann offenbar kein Problem der Zersplitterung, um deren Verhinderung es | |
| bei der Prozenthürde doch angeblich geht. | |
| Manche rechtfertigen Prozenthürden deshalb damit, dass bestimmte Parteien | |
| wie die NPD gar nicht ins Parlament kommen sollen. Dafür kann man in | |
| Karlsruhe aber erst recht kein Gehör finden. Die Verfassungsrichter dulden | |
| keinen Missbrauch des Wahlrechts zur Diskriminierung missliebiger oder | |
| unappetitlicher Parteien. Das aber ist lange bekannt und keine Erkenntnis | |
| des aktuellen Urteils. | |
| 28 Feb 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
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