| # taz.de -- Werksausgabe von Martin Heidegger: Sprung in die Irre | |
| > Sie sollten Martin Heideggers Werke beschließen: die „Schwarzen Hefte“ | |
| > von 1939 bis 1941, mit ihrer Hoffnung auf eine Welt ohne Judentum. | |
| Bild: „Rechenhaftigkeit“, „Entrassung“ und „Machenschaftlichkeit“. … | |
| Nein, jetzt, nach dem Erscheinen der Bände 95 und 96 der Gesamtausgabe von | |
| Martin Heideggers Werken, der „Schwarzen Hefte“ aus den Jahren 1939 bis | |
| 1941, ist ein vernünftiger Zweifel nicht mehr möglich: Der Philosoph, der | |
| sich lieber als „Denker“ verstanden hat, war ein überzeugter | |
| Nationalsozialist. Mehr noch: Sein Denken war bis in die letzten | |
| Verästelungen nationalsozialistisch, das heißt, menschenverachtend, das | |
| Töten und Sterben verklärend sowie gewollt widervernünftig. | |
| Dieser Befund resultiert aus zwei Umständen: Zum einen sind die nun | |
| publizierten Texte alles andere als flüchtige Notizen des Tages, | |
| versuchsweise hingeschrieben und dann dem Lauf der Zeit überlassen; nein, | |
| es handelt sich um sorgfältige, wohlüberlegte, immer wieder um Genauigkeit | |
| von Sache und Ausdruck bemühte Niederschriften. Zum anderen: Diese | |
| Aufzeichnungen sind vom Autor, der 1976 im Alter von siebenundachtzig | |
| Jahren bei klarem Bewusstsein gestorben ist, gewollt als Abschluss der | |
| Gesamtausgabe seiner Werke verfügt worden. | |
| Das lesende Publikum hat also zu respektieren, dass Heideggers | |
| „denkerisches Vermächtnis“ in einem glasklaren Bekenntnis zum | |
| Nationalsozialismus besteht. Und zwar trotz aller Kritik, die er im | |
| Einzelnen an der Universität im Nationalsozialismus, der biologistischen | |
| Fassung des Rassedenkens, ja sogar an Hitler selbst geübt hat. | |
| Wahrscheinlich noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs notierte der noch | |
| immer von seinem missglückten Rektorat enttäuschte Denker: „Aus der vollen | |
| Einsicht in die frühere Täuschung über das Wesen und die geschichtliche | |
| Wesenskraft des Nationalsozialismus ergibt sich erst die Notwendigkeit | |
| seiner Bejahung und zwar aus denkerischen Gründen. Damit ist zugleich | |
| gesagt, dass diese „Bewegung“ unabhängig bleibt von der je zeitgenössisch… | |
| Gestalt und der Dauer dieser gerade sichtbaren Formen.“ | |
| ## Geheimgehaltenes, einsames Denken | |
| Wie kommt ein Philosoph dazu, jenseits aller opportunistischen Anpassung, | |
| einsam in geheimen Aufzeichnungen, den Nationalsozialismus „denkerisch zu | |
| bejahen“? Einfach ist es nicht, das, was Heidegger philosophisch wollte, | |
| nachzuvollziehen. Worum es ihm ging, war, hinter den mehr als zwei | |
| Jahrtausende alten okzidentalen Rationalismus, mehr noch, sogar hinter das | |
| weit ältere mythische Denken zurückzugehen und ein Weltverhältnis | |
| (wieder)zugewinnen, das Menschen vor der Entfaltung narrativen, aber auch | |
| begrifflichen Denkens hatten. | |
| Der US-amerikanische Religionssoziologe Robert N. Bellah hat in seinem 2011 | |
| erschienenen Hauptwerk „Religion in Human Evolution“ eine Stufenfolge | |
| religiöser Verhaltensweisen im Lauf der Geschichte postuliert: Sie reichen | |
| von ersten Formen episodischer, körperlicher Ergriffenheit über mimetische, | |
| nicht notwendig sprachlich gefasste Rituale über die großen, mythischen | |
| Erzählungen bis hin zu theoretisch reflektierten Theologien. Diesen Stufen | |
| entsprechen Weisen herrschaftlicher Vergesellschaftung: von tribalen über | |
| archaische Formen, die noch Gottkönige kennen, bis zu den ersten, durch | |
| Schrift, stehende Heere und Rechtssysteme gekennzeichneten Hochkulturen. | |
| Jene Religionen, die Heidegger in seinen „Schwarzen Heften“ immer wieder | |
| auf das Schärfste kritisiert, nämlich vor allem das Christentum, aber auch | |
| das Judentum, setzen staatliche Herrschaft, große Erzählungen und – vor | |
| allem – den Glauben an transzendente, den Menschen weitgehend entrückte | |
| Gottheiten voraus. | |
| Heidegger ging es um den paradoxen Versuch, mit den Mitteln einer | |
| reflektierten, philosophischen Sprache jenes Weltverhältnis neu zu | |
| artikulieren, das – wie er meinte – die Menschen in ihren frühesten | |
| Anfängen vollzogen. Es ging ihm also um die Rekonstruktion und | |
| Rehabilitierung eines noch nicht einmal mythischen, sondern eben | |
| „mimetischen“ (Bellah) Weltverhältnisses. Die großen Narrative der | |
| biblischen Tradition sowie das begriffliche Denken der Philosophie seit | |
| Platon galten ihm als Formen der Aneignung von Welt und Natur, die deren | |
| Wesen nicht gerecht werden können und sie daher unterjochen müssen. | |
| ## Machenschaftliches Unwesen | |
| Mindestens in dieser Hinsicht kommt Heideggers Philosophie dem Denken von | |
| Adorno und Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ nahe. Wo sie die | |
| „Herrschaft des Begriffs“ sowie das Missachten des „Nichtidentischen“ | |
| beklagen, hofft Heidegger auf ein neues Weltverhältnis, das er mit dem | |
| Beginn der NS-Zeit gekommen sieht: „Was jetzt geschieht, ist das Ende der | |
| Geschichte des großen Anfangs des abendländischen Menschen, in welchem | |
| Anfang der Mensch zur Wächterschaft des Seyns berufen wurde, um alsbald | |
| diese Berufung umzuwandeln in den Anspruch der Vorstellung des Seienden in | |
| seinem machenschaftlichen Unwesen.“ | |
| Dieses „machenschaftliche Unwesen“ äußert sich darin, dass Natur und | |
| menschliches Leben „gestellt“, kalkuliert, aus ihren ursprünglichen Bezüg… | |
| gerissen und somit entfremdet werden. Dieser Prozess ist durch Maßlosigkeit | |
| gekennzeichnet: In ihm kommt zur Herrschaft, was Heidegger als das | |
| „Riesige“ im Unterschied zur „Größe“ bestimmt. Das „Riesige“ kann… | |
| verbergen; jedoch: Ist es einmal als solches erkannt, dann wird deutlich, | |
| dass sich in ihm genau jenes Weltverhältnis verbirgt, dem der | |
| Nationalsozialismus den Kampf angesagt hat: „Eine der verstecktesten | |
| Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste ist die zähe | |
| Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens, | |
| wodurch die Weltlosigkeit des Judentums gegründet wird.“ „Weltlosigkeit“ | |
| aber ist ein Zustand, der vornehmlich Tieren und Steinen eignet, nicht aber | |
| Menschen. | |
| So ist es nur schlüssig, dass Heidegger nicht nur – wie viele deutsche | |
| Akademiker jener Jahre – ein ordinärer Antisemit war, sondern dass es ihm | |
| darauf ankam, das, was er für „Judentum“ und damit auch für „Christentu… | |
| hielt, zu überwinden, vielleicht: zu seiner Verwindung beizutragen. Die | |
| Juden, so Heidegger in den „Schwarzen Heften 1939–1941“, „leben bei ihr… | |
| betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip“. | |
| Ihren Einfluss verdanken sie einer Schwäche der abendländischen Metaphysik, | |
| die deshalb zu einer „zeitweiligen Machtsteigerung des Judentums“ führte, | |
| weil sie eine „Ansatzstelle […] für das Sichbreitmachen einer sonst leeren | |
| Rationalität und Rechenhaftigkeit“ geboten habe. | |
| Verteidiger Heideggers haben immer wieder darauf hin gewiesen, wie sehr er | |
| seinen Lehrer jüdischer Herkunft, Edmund Husserl, respektiert habe. Die | |
| Aufzeichnungen widerlegen das. In unmittelbarem Anschluss an die | |
| antisemitischen Behauptungen zu „leerer Rationalität“ und | |
| „Rechenhaftigkeit“ attestiert er Husserls Philosophie zwar eine gewisse | |
| „Wichtigkeit“, die aber „nirgends in die Bezirke wesentlicher | |
| Entscheidungen“ reiche. | |
| ## Das Rechnen der Bolschewisten | |
| Diese jüdischen Eigenschaften: „Rechenhaftigkeit“ „Entrassung“ und | |
| „Machenschaftlichkeit“ gelten ihm schließlich als die wesentlichen | |
| Eigenschaften von Bolschewismus hier und englischem Denken dort, von | |
| autoritärem Staatssozialismus und Liberalismus. Sie gehören für den Denker | |
| aus dem Schwarzwald schon deshalb zusammen, „weil beide im Wesen dasselbe | |
| sind – die unbedingte Entfaltung der Subjektivität in die reine | |
| Rationalität“. Beider aber könne sich das „internationale Judentum“, so | |
| Heidegger 1941, „bedienen“. | |
| An dieser Stelle ist auf eine überraschende Dimension von Heideggers | |
| Überlegungen hinzuweisen: auf seine in den „Schwarzen Heften“ entfalteten, | |
| keineswegs kenntnislosen Stellungnahmen zu Lenin und dem Leninismus! Es | |
| sind dies Überlegungen, die dem „Linksheideggerianismus“, wie man ihn etwa | |
| bei Alain Badiou findet, ein für allem Mal den Boden entziehen dürften. | |
| Unter Bezug auf Lenins Wort, dass Kommunismus Sowjetmacht plus | |
| Elektrifizierung sei, urteilt Heidegger, dass die Technik weder Mittel noch | |
| Zugabe, sondern die „Grundform der Vermachtung der Macht“ sei. Als | |
| Kehrseite des Bolschewismus aber galt ihm der „Amerikanismus“: „die | |
| historisch feststellbare Erscheinung der unbedingten Verendung in die | |
| Verwüstung […] die Zusammenraffung von Allem, welche Zusammenraffung immer | |
| zugleich die Entwurzelung des Gerafften bedeutet“. Der Krieg sollte all | |
| dies zur Entscheidung bringen. | |
| Am 22. Juni 1941 eröffnete Hitlers Wehrmacht ihren mörderischen Angriff auf | |
| die Sowjetunion. Vermutlich im September, „am Beginn des dritten Jahres des | |
| planetarischen Krieges“ notierte Heidegger zehn Feststellungen. | |
| Feststellung Nr. 9 besagte: „Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus | |
| Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht | |
| sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu | |
| beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der besten des eigenen | |
| Volkes zu opfern.“ | |
| Wenn überhaupt die politische Form des Nationalsozialismus mit all ihrer | |
| Unmenschlichkeit und Widervernunft einer philosophischen Artikulation fähig | |
| war, dann war es Martin Heidegger, der diese Artikulation versucht hat. Sie | |
| musste freilich – sogar jenseits aller Moral – schon deshalb scheitern, | |
| weil es ein Unding ist, mit den Mitteln begrifflichen Philosophierens ein | |
| vorbegriffliches, noch nicht einmal mythisches Weltverhältnis zu | |
| rekonstruieren. In einem helleren Augenblick war das Heidegger auch | |
| bewusst. In den „Überlegungen XIII“ notierte er: „Der Denker springt ste… | |
| hinter sich her, weil er sich schon übersprungen haben muß.“ | |
| 16 Mar 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
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