# taz.de -- Kolumne Blicke: Putin in Neukölln | |
> Vormittags trifft man im Berliner Szene-Bezirk noch Menschen, die man | |
> dort gar nicht mehr vermutet hätte. Ob Russland nicht auch ihnen | |
> beistehen könnte? | |
Bild: Auch in Neukölln wird jetzt russisch geflaggt. | |
Gut zwei Wochen waren für den „Grundkurs Erde“ nicht wirklich großzügig | |
angesetzt. Aber das Kind wusste ja noch nicht, dass es in ein Land gekommen | |
war, in dem eine ausgetickte Industrielobby nicht mehr um Lebensjahre, | |
sondern um Lebensminuten raufte ('Mindestlohn erst ab 20 Jahren, zwei | |
Monaten und 17 Stunden - sonst Exportnation Deutschland sofort kaputt!'). | |
Und so nahm das kleine Wesen die gestellte Aufgabe „Leben“ vorurteilsfrei | |
an, es gewöhnte sich an Luft und Licht, an Warm und Kalt, an Hart und | |
Weich, an Leise und an Laut. Und auch die Eltern verhielten sich | |
artgerecht, stellten die Telefone ab, verwiesen Besucher freundlich und | |
dankbar auf die Zeit nach dem Einführungsseminar und gaben so allen | |
Beteiligten die Chance, sich aneinander zu gewöhnen. | |
Doch auch die vorausschauendste Bunkerbevorratung stieß bald an ihre | |
Grenzen, frische Dinge sollten her, es galt, nach draußen zu gehen. Und da, | |
in Berlin-Neukölln, waren sie dann doch wieder alle: Die Krim und die | |
Hipster, das vermisste Flugzeug und neue, schöne Biosupermärkte. | |
Sich nach draußen zu wagen hieß für den Vollzeitarbeitnehmer aber auch, | |
ganz unverhoffte Begegnungen zu haben. Ging man zum Beispiel um elf Uhr | |
morgens noch leicht schlafmangelverkatert zum Einkaufen, so konnte man | |
Menschen sehen, die man nach Jahren des eight-to-six gar nicht mehr im | |
Szenekiez vermutet hätte. | |
## Männer um die fünfzig, schlank | |
Der Typus des Mannes etwa, dem man seine 50 Jahre erst auf den zweiten | |
Blick ansieht: Nicht nur weil er noch immer wie in den späten 1980ern | |
gekleidet ist, sondern auch, weil er - dank eines seit Jahren festen | |
Fußballtermins und filterlosen Zigaretten - schlank geblieben ist und sich | |
beim Gang zum Tabakkaufen (seinem ersten am Morgen) etwas | |
verträumt-jugendlich Trotziges bewahrt hat. | |
Aber da ist auch eine Angst in seinem Gesicht, die früher nicht da war: Wie | |
lang wird seine Altbauwohnung noch billig sein, wie lange seine | |
prekär-intellektuelle Existenz noch nicht von der nächsten Technologiewelle | |
überrollt und zermatscht? | |
## Das Neue draußenhalten | |
Und dann all die anderen böse lauernden Fragen: Ist es überhaupt | |
vorstellbar, dass er mit dem Rauchen/Saufen/Kiffen noch einmal aufhört? | |
Was, wenn die Frau, mit der er seit Jahren in einer On/off-Beziehung lebt, | |
endgültig die Schnauze voll hat; wenn er nicht mal mehr an Weihnachten | |
familiäre Geborgenheit findet, weil die Eltern gestorben sind? | |
Dann lässt man den Mann, den eine gescheiterte Existenz zu nennen er sich | |
inzwischen selber nicht mehr untersagen kann, hinter sich. In den Cafés am | |
Kanalufer sitzt die Englisch sprechende junge Elite beim Frühstück, | |
unglaublich unaufgeregt, die Zukunft der Gegenwart sozusagen - die Zukunft | |
der Zukunft liegt daheim in ihrem Bettchen und schläft. | |
Aus dieser Laune heraus kauft man sich doch eine Zeitung, die Krimkrise | |
eskaliert. Unser Mann um die 50 hat keinen Putin, der ihm mit Waffengewalt | |
seine triste Gegenwart konserviert und das Neue denunziert und draußen | |
hält. Es war dann doch gut, in einem Land zu leben, in dem man sich mal | |
zwei Wochen lang ausklinken konnte. Um der Zukunft willen. | |
28 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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