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# taz.de -- Wahlkampf in Indien: Zwischen Slums und Wolkenkratzern
> Wandel, Wohltaten, aber auch Korruption sind Schlagworte des Wahlkampfs.
> Drei der Kandidaten: ein Yogalehrer, ein Akademiker und ein Millionär.
Bild: Straßenszene in Gurgaon (Archivbild).
DELHI/GURGAON/KAITHAL taz | Der Regen macht Maheish Girri nichts aus. Breit
lächelnd steht der rundliche Mann auf dem offenen Jeep, mal faltet er die
Hände, mal macht er mit den Fingern ein „V“, ein Siegeszeichen. Mit ihm
ergießt sich eine Prozession auf die Straßen des Zentralmarktes im Südosten
Delhis: Gut fünfzig Aktivisten in weißen T-Shirts und Fahnen der
hindu-nationalistischen BJP verteilen Flyer. Vorne hinweg gehen Trommler;
aus Lautsprechern intoniert eine Stimme „Ganz Delhi hat nur eine Botschaft
- Modi-Maheish, Modi-Maheish“.
Am Nachmittag ist der Zentralmarkt in Lajpat Nagar im Südosten Delhis
eigentlich voller Menschen, die in den Läden nach Schuhe, Goldschmuck,
Saris und Haushaltswaren stöbern. Mit dem Nachmittagsschauer sind die
schmalen Straßen aber leergefegt und Girris Demonstration füllt sie wieder
auf. Am Markt steigt er von seinem Jeep, um sich von Ladenbesitzern
Girlanden um den Hals legen zu lassen.
Mit Girri versucht die BJP sich den Wahlkreis Ostdelhi zu holen. Girri ist
Yogalehrer und war bis vor kurzem internationaler Direktor der
Anti-Stress-NGO „Art of Living“. Für sie hat Girri im Stadtteil
Gesundheitskampagnen organisiert und verweist nun als Kandidat auf seine
„sozialen Arbeiten“. Doch so ganz sicher scheint er sich nicht zu sein und
so sagen seine Helfer immer wieder, dass eine Stimme für Girri auch eine
Stimme für den BJP-Spitzenkandidaten, Narendra Modi, sei. „Modi wird für
Indien tun, was er für Gujarat getan hat“, sagt Sahill, ein
Ingenieurs-Student.
Modi ist seit zwölf Jahren Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat und
hat sich das Image gegeben, ein Macher zu sein. Seine Regierung hat mit
Steuererleichterungen vor allem Automobilkonzerne angelockt. Während viele
Modi als „Entwickler“ feiern, verweisen andere auf die antimuslimischen
Pogrome in Gujarat zu Beginn seiner Amtszeit und vermuten, er habe diese
absichtlich gewähren lassen. Doch im Wahlkampf setzt die BJP fast
ausschließlich auf eine „Modi-Welle“. Offenbar mit Erfolg, denn fast alle
Umfragen sagen einen Sieg der Hindu-Nationalisten voraus.
Im Wahlkreis Ostdelhi kann Girri die „Modi-Welle“ gut gebrauchen, denn er
hat prominente Gegner: Der Enkelsohn Mahatma Gandhis tritt hier für die
Antikorruptionspartei Aam Aadmi (AAP, „Partei des einfachen Mannes“) an und
Kongresspolitiker Sandeep Dikshit verteidigt seinen Platz im Parlament.
Dikshit steht in der Kritik, weil noch viele Gegenden schlechte Straßen und
Sanitäranlagen haben. Girris Wahlversprechen sind allerdings andere:
Niemand soll hungrig schlafen gehen und die Straßen sollen für Frauen und
Senioren sicher werden. Wie das passieren soll, sagt er nicht.
Nach dem Halt auf dem Markt läuft die Demonstration durch die anliegenden
Wohnviertel. Immer wieder stockt sie, weil auf den schmalen Straßen kein
Platz für den Gegenverkehr bleibt. Bei dem Lärm kommen Frauen und Kinder
auf die Balkone um dem Treiben zuzuschauen. Girri grinst nach oben, faltet
die Hände und zeigt sein Siegeszeichen, aber es kommt kaum etwas zurück.
##
Gurgaon, eine Vorstadt südlich von Delhi, kann man wahlweise mit der
modernen U-Bahn – sie fährt hier überirdisch – erreichen oder über eine
sechsspurige Autobahn. Während sich links die Glasfront eines Hochhauses an
das nächste reiht, stehen rechts niedrige Wohnhäuser. Sie sind aus einer
Zeit als Gurgaon noch eine selbstständige Stadt war und nicht nahtlos in
die Hauptstadt überging.
Das neue Gurgaon nennt sich „Millennium City“, hier haben sich viele der
wichtigsten Konzerne Indiens angesiedelt, und zu den hohen Bürogebäuden
gesellen sich dutzende in die Höhe schießende Wohnkomplexe. Viele gehören
einer einzigen Firma, Delhi Land and Finance (DLF), die sogar eine private
Feuerwehr stellt. Das Personal für die vielen Wohnungen, die Wächter,
Fahrer und Haushälterinnen, kommen aus den Slums des alten Gurgaon.
Für die Stimmen beider Welten Gurgaons wirbt hier Yogendra Yadav,
Sozialwissenschaftler und einer der Spitzenpolitiker der AAP. An diesem
Vormittag war Yadav noch mit einem Besen – dem Wahlsymbol der AAP - in den
Gassen des alten Gurgaon unterwegs, am Nachmittag wird er auf den
„Rasenflächen“ des Wohnkomplexes „DLF Exclusive Floors“ erwartet.
Sein Publikum besteht aus grauhaarigen, wohlhabenden Rentnern. Und so
trudeln sie auf das Feld: Männer in Polohemden und akkurat geölter Frisur
und Frauen in eleganten Saris, die Haare im Dutt. Vor einer leicht erhöhten
Plattform sind rote Teppiche zum Sitzen ausgerollt, dahinter Plastikstühle.
Die meisten nehmen sich einen Stuhl und lassen ihn von Dienern in den
Schatten stellen.
Yadavs Jeep mit wehenden Fahnen ist pünktlich da. Er ist hier
offensichtlich unter seinesgleichen: Auch er hat einen akkuraten, leicht
ergrauten Vollbart – doch er trägt eine traditionelle Kurta, ein Gewand,
das bis zu seinen Knien reicht. Eine weiße Bauernkappe schmückt den Kopf.
Bevor er sich auf seinen Sitz im Podium begibt, macht er die Runde und gibt
allen Anwesenden die Hand. „Ich wollte dir nur sagen: ich bin voll hinter
euch!“ sagt ein Mann und schüttelt Yadav energisch die Hand. Der lacht
charmant und bedankt sich.
Auf dem Podium hält Yadav eine kurze Rede: Die Wahl sei eine Chance für
Wandel und mehr ehrliche Politik. Dann dürfen Fragen gestellt werden. „Was
macht ihr eigentlich zum Thema Überbevölkerung?" fragt ein Mann. „Das ist
doch das wichtigste Thema überhaupt." „Quatsch", unterbricht ihn eine junge
Frau. „Das wichtigste Thema ist doch Bildung." Lächelnd und im
freundlich-erklärenden Ton eines Hochschullehrers antwortet Yadav eine
Stunde lang die Fragen. Dann entschuldigt er sich, er habe noch einen
Fernsehtermin.
##
Gurgaon liegt im Bundesland Haryana, das Delhi im Süden, Westen und Norden
umgibt. Nordöstlich der Hauptstadt liegt die Kleinstadt Kaithal inmitten
von gelb-grünen Weizenfeldern. Viele Menschen sind hier vergleichsweise
wohlhabend: in den 60er Jahren begann hier die sogenannte Grüne Revolution,
der Anbau von erntesteigernden Hybridsorten, die vielen Bauern hohe
Einkommen bescherte. Heute hat Haryana eines der höchsten
Pro-Kopf-Einkommen Indiens (allerdings sind darin auch die Gewerbegebiete
Gurgaons enthalten).
Naveen Jindal will im Wahlkreis Kurukshetra, zu dem auch Kaithal gehört,
zum dritten Mal Abgeordneter für die Kongresspartei werden. Jindal ist
Millionär, er und seine Frau besitzen knapp 40 Millionen Euro in Aktien,
Bankguthaben und Schmuck, der achtzehnjährige Sohn soll bald die Eliteuni
Yale besuchen. Die Familie des 44-Jährigen ist allerdings nicht in der
Landwirtschaft reich geworden, sondern mit Kohleabbau und Kraftwerken.
Seit März 2012 wird Jindal vorgeworfen, für die Zuweisung von
Kohleabbaurechten Regierungsbeamte bestochen zu haben – ein Vorwurf, den er
dementiert. In gewisser Weise steht er so auch für die regierende
Kongresspartei, die wegen mehrerer Korruptionsskandale bei dieser Wahl wohl
viele Stimmen verlieren wird. Doch anders als die Partei hat Jindal kaum
Zweifel an seiner Wiederwahl. In Ansprachen erwähnt er seine Gegner mit
keinem Wort und über Parteichef Rahul Gandhi sagt er nur kurz: „Er tut sein
bestes“.
Im Wahlkampf in Kaithal geht es nicht um Korruption, sondern um Wohltaten.
Jindals Karawane von sechs Geländewagen fährt von Dorf zu Dorf. Überall ist
von Parteimitarbeitern bereits eine kleine Menschenmenge vorbereitet,
überall zählt Jindal auf, was er alles für die Einwohner getan habe: Den
Bau von Straßen und Brücken angeschoben, Gesundheitscamps organisiert und
aus der eigenen Tasche Brillen „für 200.000 Menschen“ finanziert. „Ihr
kennt mich doch. Glaubt ihr, dass ich ein schlechter Mensch bin?“ fragt er
eine Bauernversammlung. Sie verneinen gehorsam und laut.
Jindal hat einen straffen Tagesplan: Fünfzehn Nachbarschaften und Dörfer
soll er an diesem Tag abarbeiten. Am Nachmittag ist er fast eine Stunde im
Verzug, schuld ist ein Fernsehinterview, das er nach dem Mittagessen
gegeben hat. Die Geländewagen fahren langsam durch die Gassen eines Slums
von Balmiki-Dalits, die einst als „unberührbar" galten. Die Menschen wohnen
in Einzimmerhäusern, dazwischen liegen Brachflächen mit streunenden Hunden
und Schweinen.
Als Jindal aussteigt, bildet sich eine Menschenmenge um ihn. Mit schnellen
Schritten wird er an die Slum-Kreuzung geführt, wo er unter einer Plane
seine Wohltaten aufzählt. Er wird zügig in ein Wohnhaus geführt - das
Betreten eines Dalit-Hauses steht symbolisch für die Überwindung von Kasten
- und dann wieder zurück in den Geländewagen. Er wird noch bis in die Nacht
hinein unterwegs sein.
3 Apr 2014
## AUTOREN
Lalon Sander
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