# taz.de -- Parlamentswahlen in Indien beginnen: Ohrfeigen und Bescheidenheit | |
> Der regierenden Kongresspartei droht ein Absturz. Profitieren könnten | |
> Hindunationalisten, aber auch die „Partei des einfachen Mannes“. | |
Bild: Chef der „Partei des einfachen Mannes“: Arvind Kejriwal bei einer Wah… | |
DELHI taz | Die Zeichen stehen auf Abwahl, nur die regierende | |
Kongresspartei selbst scheint das noch nicht gemerkt zu haben. Auf der | |
Marktstraße in Shalimar Park animiert eine Frau die Menge. „Sandeep | |
Dikshit“, ruft sie. „Zindabad“ antworten sie. „Lang lebe Sandeep Dikshi… | |
Der kommt aus einer Seitenstraße, die Hände zur Begrüßung gefaltet. Unter | |
den gut einhundert Unterstützern bricht Jubel aus. | |
Sandeep Dikshit ist seit 10 Jahren der Abgeordnete aus Ostdelhi. Parallel | |
regierte seine Mutter Sheila Dikshit als Ministerpräsidentin den Stadtstaat | |
Delhi, bis sie im Dezember 2013 bei den Regionalwahlen eine verheerende | |
Niederlage einstecken musste. Die neu gegründete Aam Aadmi Partei (AAP, | |
„Partei des einfachen Mannes“) holte aus dem Stand 28 der insgesamt 70 | |
Sitze und übernahm zeitweise die Regierung. Die Zahl der Sitze der | |
Kongresspartei aber sackte von 43 auf 8 ab. | |
Für die indische Parlamentswahl, die am Montag beginnt, sagen [1][alle | |
Prognosen] das gleiche Schicksal voraus. Jeder zweite Abgeordnete der | |
Kongresspartei wird wohl aus dem Parlament fliegen. 543 Sitze werden im | |
indischen Unterhaus vergeben. Die Kongresspartei soll von 201 Sitzen auf | |
nur noch 105 abstürzen, ihr schlechtestes Ergebnis seit der Unabhängigkeit | |
Indiens, [2][eine Ohrfeige für Korruptionsaffären], die Verteuerung der | |
Lebensmittel und das Absacken des Wirtschaftswachstums. Doch in Shalimar | |
Park lässt sich Sandeep Dikshit feiern, als stünde sein Sieg fest. | |
Dikshit und seine Mutter stehen in Ostdelhi für große | |
Infrastrukturprojekte, die Metro und breite Schnellstraßen. Viele Einwohner | |
beschweren sich aber darüber, dass Nebenstraßen nicht gepflastert sind und | |
Wasser- und Gasleitungen fehlen. „Die Preise steigen, und Dikshit | |
unternimmt nichts“, sagt der Besitzer eines Melassestands. Ein Teeverkäufer | |
ärgert sich, dass er seit zwanzig Jahren brav die Wasserrechnung bezahlt, | |
„aber einen Wasseranschluss bis heute nicht bekommen“ hat. | |
Der Wahlkreis Ostdelhi hat etwas von der Vielfalt von ganz Indien. Sechs | |
Millionen Menschen bewohnen verschnörkelte Villen am Stadtrand oder | |
schlafen, kochen und spielen auf wenigen Quadratmetern in zahlreichen Zelt- | |
und Barackensiedlungen – oft Migranten aus anderen Teilen des Landes. Der | |
Melasseverkäufer will die BJP – die indische Volkspartei – wählen, und | |
damit steht er nicht allein. Die Umfragen versprechen den | |
Hindunationalisten eine Verdopplung ihrer Parlamentssitze von 112 auf etwa | |
215. Es wäre das beste Ergebnis der Partei seit ihrer Gründung, und anders | |
als die Kongresspartei macht sie offensiv Werbung. Vor allem mit ihrem | |
Spitzenkandidaten, Narendra Modi. | |
## Antimuslimische Pogrome | |
Modi steht für die Hoffnung, dass es nach dieser Wahl wieder aufwärtsgeht. | |
Seit gut zwölf Jahren regiert er das westindische Bundesland Gujarat; er | |
hat den Ruf, ein effizienter Manager zu sein. Doch während Modis | |
Industrieprojekte für sehr hohes Wachstum sorgten, blieb das Bundesland bei | |
der Armutsbekämpfung im Mittelfeld Indiens. Umstritten ist Modi auch, weil | |
er erst sehr spät gegen die [3][antimuslimischen Pogrome in Gujarat | |
vorging], bei denen es 2002 mehr als tausend Tote gab. Doch all das konnte | |
Modis Image noch nichts anhaben. Der Standbesitzer in Ostdelhi wird seine | |
Stimme zwar dem Yogalehrer geben, der für die BJP in Ostdelhi antritt – | |
doch sie gilt Modi. „Er kann das Land retten“, schwärmt er. | |
Glaubt man den indischen Medien, gibt es bei dieser Wahl nicht nur zwei, | |
sondern drei Volksparteien. Beflügelt vom Überraschungserfolg in Delhi, | |
will die AAP nun auch landesweit zu punkten. Unter den über 400 Kandidaten | |
finden sich zahlreiche Aktivisten und Akademiker. So auch in Ostdelhi, wo | |
Rajmohan Gandhi, Enkel und Biograf des Unabhängigkeitskämpfers Mahatma | |
Gandhi, antritt. | |
## Parteisymbol: ein Besen | |
Gandhis Wahlkampfbüro befindet sich an der Abfahrt einer Schnellstraße, im | |
zweiten Stock einer Ladenzeile. Der Eingang ist mit mannshohen | |
Plastiksäcken vollgestellt, in denen sich weiße Bauernkappen stapeln. Die | |
Kappen sind das Markenzeichen der AAP, ihr bescheidenes Symbol: ein Besen. | |
Gandhi ist erst spät in die Partei eingetreten, Ende Februar, aber gleich | |
zum Kandidaten gemacht worden. „Wenn ich gewinne, will ich die Slum- und | |
Villenbewohner zusammenführen“, sagt der 79-Jährige. „Wir müssen die | |
Lebensbedingungen in den Slums verbessern.“ Zumindest hier in Ostdelhi | |
könnte es der AAP gelingen, einen Parlamentssitz zu ergattern. Ein | |
Parteisprecher spekuliert, dass viele Wähler von der Kongresspartei zur AAP | |
wechseln könnten, um einen Sieg der BJP zu verhindern. Gerade Muslime | |
würden niemals für die Hindunationalisten stimmen, sagt er. Deren Anteil | |
beträgt in Ostdelhi ca. 35 Prozent. | |
Die Prognosen sagen der Partei aber nur wenige Sitze voraus. In einem | |
Elektrowarengeschäft der Ladenzeile will Besitzer Faizan Ali ihr zumindest | |
eine Chance geben: „Wir haben ja gesehen, was die anderen Parteien bisher | |
getan haben.“ Jetzt gebe es doch endlich eine Alternative. | |
6 Apr 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://timesofindia.indiatimes.com/home/lok-sabha-elections-2014/news/Two-s… | |
[2] http://www.tehelka.com/an-epitaph-for-the-congress/ | |
[3] http://indianexpress.com/article/opinion/columns/gujarats-growth-for-growth… | |
## AUTOREN | |
Lalon Sander | |
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