| # taz.de -- Besuch im ukrainischen Revolutionsstab: Die Gestrandeten vom Maidan | |
| > Pascha, Witja und Elizaweta haben auf dem Maidan gekämpft und wollen | |
| > ausharren. In ihr altes Leben können oder möchten sie nicht zurück. | |
| Bild: Reste von Barrikaden, Blumen und Lichter für die Toten und ein Hauch von… | |
| Männer in Uniform sitzen vor abgenutzten Barrikaden, rauchen gelangweilt | |
| eine Zigarette und machen gelegentlich Platz für kleine Gruppen weiterer | |
| Uniformierter, die das Gebäude verlassen oder betreten. Das Kiewer | |
| Stadtparlament, nach der ersten Schlacht auf dem Maidan von | |
| nationalistischen Svoboda-Anhängern zum Revolutionsstab umfunktioniert, ist | |
| noch immer einer der wichtigsten Orte der Protestbewegung. | |
| Unbekannte werden unfreundlich angepöbelt, bevor sie sich erklären können. | |
| Gute Manieren gehen in einer Revolution wohl verloren, aber immerhin | |
| bewachen die Männer den Revolutionsstab und keinen Vergnügungspark. Erst | |
| wenn die Besucher glaubhaft erklärt haben, dass sie nicht aufseiten der | |
| russischen Medien stehen, dürfen sie das Gebäude betreten. In Begleitung, | |
| versteht sich. | |
| Pascha* kommt aus Luhansk, einer Stadt an der russischen Grenze im Südosten | |
| des Landes. Er ist 30, ordentlich angezogen und freundlich, aber betrunken. | |
| Der Alkohol wird langsam zum Problem des Maidan, trotz Vereinbarungen, die | |
| den Alkoholkonsum verbieten. Wer trinkt, wird aggressiv und greift | |
| schneller zur Waffe; bei so vielen jungen, von den Kämpfen aufgeheizten | |
| Männern kommt es leicht zu Auseinandersetzungen. | |
| Immer wieder fragt Pascha, was man denn in Europa vom Maidan höre – und vom | |
| Revolutionsstab. „Die Russen erzählen herum, dass wir hier wie Schweine | |
| leben“, sagt Pascha und führt die Besucher in eine große, prunkvolle und | |
| saubere Halle. „Alle zusammen haben wir diese Säulen geschrubbt, alle | |
| Fenster repariert“, sagt er. Nach den Kämpfen mit den Sicherheitskräften in | |
| der Nacht zum 1. Dezember wurde das Kiewer Stadtparlament zum Zufluchtsort | |
| für Hunderte von Kämpfern, Sanitätern und friedlichen Demonstranten. | |
| Sauberkeit war das oberste Gebot, Vandalismus strengstens verpönt. | |
| Die Revolution hatte auch im Kern ihren eigenen Prinzipien zu entsprechen – | |
| Volkseigentum zu zerstören und verdreckt zurückzulassen gehört nicht dazu. | |
| Wenn heute noch etwas zerstört wird, dann von den Nationalisten. Aber die | |
| Svoboda-Partei und der Rechte Block haben mittlerweile anderswo ihre Zelte | |
| aufgeschlagen; der Revolutionsstab gehört keiner Partei mehr an, keiner | |
| Bewegung. | |
| ## Alle sind willkommen | |
| Was ganz am Anfang geschah, kennt auch Pascha nur aus dem Fernsehen. Erst | |
| seit Februar ist er auf dem Maidan. Seit dem 19. Februar, genauer gesagt. | |
| Am 18. hatte die zweite, mehrere Tage andauernde Welle gewaltsamer | |
| Auseinandersetzungen begonnen, die eine neue Generation von Kämpfern und | |
| Demonstranten auf den Maidan brachte. Die ersten Tage waren furchtbar, | |
| erzählt Pascha. Nie im Leben habe er so viel Angst gehabt wie beim Anblick | |
| bewaffneter Spezialeinheiten, die zu Hunderten den Maidan stürmten, | |
| begleitet von Berichten über Scharfschützen, bezahlte Schläger und | |
| Polizeifolter. | |
| Er erinnert sich an ein Mädchen vom Roten Kreuz, das weinend hinter einer | |
| kleinen Barrikade kauerte, nur wenige Meter entfernt von kämpfenden | |
| Polizisten. Zusammen mit einem Freund trug Pascha sie weg und versuchte, | |
| sie zu beruhigen, während er selbst vor Angst zitterte. Die junge Frau habe | |
| ihm dafür ihren Schal geschenkt. Aber wo der hingekommen ist, weiß er | |
| nicht. Die Revolution gibt, die Revolution nimmt. | |
| Im zweiten Stock über der großen Halle schlafen die Hausbesetzer auf | |
| Isomatten und Schlafsäcken. Tagsüber sind es an die fünfzehn, zwanzig | |
| Leute, nachts bis zu hundert. Ob jemand hier wirklich wohnen oder nur | |
| gelegentlich der Kälte entkommen will, spielt keine Rolle. Alle sind | |
| willkommen. Hier lässt Pascha seine Gäste allein, damit auch andere mit den | |
| Ausländern sprechen können. Während Pascha sich mit einem angeblichen | |
| „Sotnik“, einem Anführer einer Hundertschaft, unterhält, macht Elizaweta | |
| die Runde. Die 50-jährige, müde aussehende Frau ist Ärztin aus | |
| Weißrussland. | |
| Wie Pascha ist auch sie seit dem 19. Februar auf dem Maidan dabei. Im | |
| Fernsehen hatte sie die Kämpfe verfolgt, und als die Gewalt eskalierte, | |
| packte sie ihre Sachen und fuhr nach Kiew. Die ersten Tage auf dem Maidan | |
| verbrachte sie im provisorischen Lazarett im Hotel Ukraine. „Meine erste | |
| 72-Stunden-Schicht“, sagt sie zynisch. Dutzende von Leicht- und | |
| Schwerverletzten mussten versorgt, in Krankenhäuser gebracht oder wieder | |
| kampftauglich gemacht werden. „Wir wussten ja nicht, wann es mit dem | |
| Schießen wieder losgeht. Da wollte sich niemand drücken“, berichtet | |
| Elizaweta. Sie bedauert, dass Ähnliches in Minsk undenkbar ist. „Aber die | |
| Weißrussen und Ukrainer sind Brüder. Eure Revolution ist unsere | |
| Revolution.“ | |
| ## „Wofür demonstriert du eigentlich?“ | |
| Doch die Revolution ist eigentlich schon vorbei. Es sind auch nicht die | |
| Hartgesottenen, die noch auf dem Maidan sind. Die Demonstranten der ersten | |
| Stunde, der Dezember- und Februarkrawalle, sind schon seit Wochen zu Hause, | |
| arbeiten und versorgen ihre Familien. Übrig geblieben sind die, die nicht | |
| zurückkönnen. Oder nicht wollen. Für viele wurde der Maidan zu einem | |
| Zuhause. Sie fanden Freunde, hatten plötzlich Macht und Stärke. | |
| Mehr noch, sie hatten ein Ziel, einen Feind, ein Gut und ein Böse. Die | |
| Berkut-Einheiten waren der Feind, befehligt von Präsident Janukowitsch, dem | |
| Teufel höchstpersönlich. Das einte den Maidan und gab den Menschen einen | |
| Sinn. Doch jetzt, da undurchsichtige Politiker versuchen, eine instabile | |
| Übergangsregierung heil bis zu den Wahlen zu manövrieren, sind die klaren | |
| Linien plötzlich weg und damit auch die Notwendigkeit, auf dem Maidan zu | |
| bleiben. Wohin Pascha jetzt gehen sollte, weiß er nicht. | |
| Warum er noch da ist, schon eher. Erst letzte Woche hat ihn seine Frau | |
| angerufen, die mit seiner kranken Tochter in Luhansk lebt. „Wofür | |
| demonstrierst du eigentlich?“, schrie sie ihn am Telefon an. Auf diese | |
| Weise erfuhr er, dass es im Kindergarten seiner Tochter nun kein Essen mehr | |
| gibt. Die Staatskassen sind leer, die Generalmobilmachung kostet Geld. | |
| Auf dem Maidan gibt es viele Menschen wie Pascha. Menschen, denen | |
| politische Ideen fremd sind und die für sich und ihre Familien | |
| demonstrieren. Wenn Pascha davon erzählt, was er erreichen will, klingt er | |
| wie ein Träumer. „Ich will, dass Menschen sagen können, was sie denken. | |
| Dass jedes Kind in Freiheit aufwächst und Chancen hat; dass ich auf die | |
| Straße gehen kann, ohne Angst zu haben.“ | |
| ## Prügel sind zu befürchten | |
| So oder so ist es schwer, zurückzukehren. In Luhansk ist der Maidan nicht | |
| beliebt, ist als faschistisch und antirussisch verschrien. Man würde ihn | |
| gleich bei der Ankunft verprügeln, sagt Pascha. Angst hat er nicht, | |
| immerhin schmückt eine Bissnarbe seine Hand, die vom Nahkampf mit dem | |
| Berkut geblieben ist. „Da hatte ich Angst, aber ein paar Schläge in Luhansk | |
| …“, das sei wirklich nichts, wovor ein Revolutionär sich fürchten müsse. | |
| „Ein Leben ist das trotzdem nicht“, meint er. | |
| Wie Pascha geht es vielen Aktivisten. Der Großteil der Besetzer kommt aus | |
| allen Teilen der Ukraine. Wer nach Lviv oder Riwne zurückmuss, den erwarten | |
| keine Schläge; in Donezk und Charkiw dagegen sieht das anders aus. | |
| Pascha ist jung, er wird es schon irgendwie schaffen. Sein Freund Witja, | |
| einer der älteren Kämpfer im Revolutionsstab, wird auch in der neuen | |
| Ukraine womöglich untergehen. Er sitzt im dritten Stock des Stabs und | |
| bewacht die Straßen. Tagsüber ist nicht viel los, aber wenn er nachts Alarm | |
| schlägt, versammeln sich hundert Männer und Frauen vor dem Eingang, um eine | |
| Stürmung des Gebäudes abzuwehren. Nur erfahrene Soldaten und Polizisten | |
| tragen auf dem Maidan so viel Verantwortung wie Witja. | |
| ## Rente ausgesetzt | |
| Witja stammt aus einem Ort nahe der ungarischen Grenze, auch er ist für | |
| seine Familie hier, dafür, dass es ihnen sozial besser geht. Mit Freunden | |
| war er oft in Ungarn. Einfach so, zum Biertrinken. „Es ist gut, wenn man | |
| sich besucht“, sagt er. Er will Ungarn auch weiter besuchen dürfen und am | |
| liebsten ganz Europa. Das ist ein schönes Ziel von Witja – aber weit weg. | |
| Wie er weiterleben wird, steht in den Sternen. Als Militärtaucher arbeitete | |
| er jahrelang in Russland, bis ihn eine schwere Beinverletzung außer Gefecht | |
| setzte. Die Rente von umgerechnet 650 Euro, die er vom russischen Staat | |
| bekam, wurde ausgesetzt. Was übrig bleibt, sind 250 Euro, bestehend aus dem | |
| Gehalt seiner Frau und seiner Sozialhilfe. Überleben kann man damit in der | |
| Ukraine, Perspektiven hat man nicht. | |
| „Meine alte Mutter zwingt mich, Geld von ihr zu nehmen. Und ich habe ja | |
| keine Wahl, seit die Russen nicht mehr zahlen“, sagt Witja und fragt nach | |
| ein paar kleinen Scheinen für eine neue Rasierklinge. Seine hat er den | |
| jungen Männern gegeben, die ihre Sachen nicht beisammenhätten. Am Anfang | |
| haben sie von dem müden Krieger, wie er sich nennt, nichts hören wollen. | |
| „Erst als die ersten Schüsse fielen, standen sie vor mir, mit ihren großen | |
| Augen“, erzählt Witja liebevoll. Seine „Jungs“ haben mittlerweile gelern… | |
| dass es im Krieg Hierarchien gibt. Krieg, so nennen sie die Kämpfe mit der | |
| Polizei auf dem Maidan. | |
| Der Krieg ist vorbei, aber bleiben wollen sie bis zum Schluss. Wann Schluss | |
| ist, worin er besteht, weiß niemand. „Zumindest bis zu den Wahlen“ wollen | |
| sie bleiben, sagen sie. Bis Ende Mai also wird die Übergangsregierung | |
| ständig auf den Maidan schielen müssen, bevor sie Renten, Beamtengehälter | |
| und Sozialleistungen kürzt. Denn wo die Kassen leer sind, können auch die | |
| ehrlichsten Politiker kein Geld herbeizaubern. | |
| Aber es warten noch mehr Herausforderungen auf Politiker und | |
| Maidan-Bewohner. Besetzte Hotels und Restaurants müssen geräumt werden, | |
| auch der Revolutionsstab wird früher oder später dran glauben müssen. Dann | |
| werden Pascha, Witja und Elizaweta nach Hause gehen müssen, wo es keinen | |
| Feind mehr gibt und keine Revolutionsromantik. Schon jetzt sind Psychologen | |
| auf dem Maidan unterwegs, um eine Resozialisierung der Kämpfer und Besetzer | |
| einzuleiten. Doch in vielen wird der ukrainische Winter des Jahres 2014 | |
| noch lange weiterleben. | |
| *Alle Namen geändert | |
| 11 Apr 2014 | |
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