# taz.de -- Europäische Flüchtlingspolitik: Dauerhafter Notstand | |
> Unerträgliche Unterkünfte, keine staatliche Unterstützung: Dass | |
> Flüchtlinge in Italien anders aufgenommen werden können, zeigen lokale | |
> Initiativen. | |
Bild: Flüchtlinge bei ihrer Ankunft im sizilianischen Augusta. | |
ROM taz | Es herrscht „Emergenza“ in Italien. Wieder einmal. Zuhauf haben | |
sich Syrer, Nigerianer, Kurden oder Eritreer in den letzten Tagen, den | |
letzten Wochen auf den Weg übers Mittelmeer von Libyen nach Sizilien | |
aufgemacht. Angesichts von seit Jahresanfang etwa 20.000 eingetroffenen | |
Flüchtlingen ruft Innenminister Angelino Alfano den „Notstand“ aus. | |
Alfano rechnet vor: Im gleichen Vorjahreszeitraum waren es gerade einmal | |
2.000 Menschen, die ankamen. Und, schlimmer noch, an Libyens Küsten säßen, | |
so der Minister, 300-600.000 Personen, bereit zum Aufbruch nach Europa. | |
Notstand also - ein „Notstand“ allerdings, der in Italien mit unschöner | |
Regelmäßigkeit so sicher wie der Sommer kommt. Ein Notstand mit den immer | |
gleichen Bildern: Erst die völlig überfüllten Schaluppen auf dem Meer, dann | |
die ausgezehrten, erschöpften Gestalten, die sich auf dem Kai von Lampedusa | |
oder einem der sizilianischen Häfen drängen, und schließlich Afrikaner, | |
Araber, Asiaten hinter einem Zaun, irgendwo in der Einöde. | |
Auszubaden haben diese Dauer-Emergenza als erste die Flüchtlinge. Zum | |
Beispiel in Mineo auf Sizilien. Vor drei Jahren wurde dort eine frühere | |
US-Soldatensiedlung zur Asyleinrichtung umgewidmet, mit dem klangvollen | |
Namen Villaggio della Solidarietà - Dorf der Solidarität. 2.000 Plätze | |
stehen in den zahlreichen kleinen Reihenhäuschen zur Verfügung - heute aber | |
ist die Siedlung mit 4.000 Menschen völlig überfüllt. | |
Das Innenministerium hat die Lagerleitung der Kooperative Sisifo übertragen | |
- der gleichen Kooperative, die mit dem Skandal um das Lager auf Lampedusa | |
auffiel, in dem Neuankömmlinge nackt auf dem Hof desinfiziert wurden. Für | |
Sisifo ist Mineo ein großes Geschäft: 30 Euro täglich erhält sie für jeden | |
Flüchtling, stellt dafür schlechtes Essen und praktisch keine Betreuung zur | |
Verfügung. Fernab der Zivilisation - das Städtchen Mineo ist 10 Kilometer | |
entfernt - schlagen die Menschen mehr schlecht als recht die Zeit tot, | |
warten monatelang auf ihre Anerkennung als Asylberechtigte oder | |
Flüchtlinge. Dabei ist der Verbleib in einem „Aufnahmezentrum für | |
Asylbewerber und Flüchtlinge“ eigentlich auf 35 Tage beschränkt. | |
Wenn sie schließlich ihre Papiere bekommen haben, wird ihre Lage oft genug | |
nicht besser - dann nämlich stehen sie auf der Straße, ohne jede staatliche | |
Unterstützung. Deutsche Verwaltungsgerichte weigern sich zunehmend, aus | |
Italien eingereiste Flüchtlinge wieder zurückzuschicken, weil dort selbst | |
ihre elementarsten Menschenrechte nicht gewährleistet seien. In Rom zum | |
Beispiel leben etwa 2.500 Eritreer, Sudanesen oder Afghanen in besetzten | |
Häusern, nicht abgeschlossenen Schulen oder Bürogebäuden, weil sie sonst | |
keine Unterkunft hätten. | |
## Ansprechende Unterkunft | |
Doch es geht auch völlig anders. Villaggio La Brocchi in der Toskana, 30 | |
Kilometer nördlich von Florenz. Sechs Flüchtlingsfamilien sind hier in | |
einer kleinen Einrichtung untergebracht, einer einladenden Villa mitten im | |
Grünen. „Der Träger des Progetto Accoglienza (Projekt Aufnahme), ist ein | |
Verein. Wir haben 50 Mitglieder, 30 von ihnen sind auch ehrenamtlich in der | |
Einrichtung aktiv“, berichtet der Vorsitzende, Luigi Andreini. Dazu kommen | |
13 Angestellte, die sich um vier alleinstehende Mütter mit ihren Kindern, | |
dazu zwei Familien kümmern. | |
Unterbringung in ansprechenden Zimmern, Verpflegung, vor allem aber | |
kompetente Betreuung wird gestellt, von Rechtsberatung im Asylverfahren | |
über Sprach- und Berufseingliederungskurse, zur gesundheitlichen Versorgung | |
und schließlich zur Hilfe bei der Suche einer regulären Wohnung. „Wenn es | |
nötig ist, zahlen wir auch die Kaution für die Wohnung“, erläutert | |
Andreini. | |
Daneben gibt es eine Kinderkrippe, ab September soll sie auch Kinder aus | |
dem Dorf aufnehmen, eine Bibliothek, einen Tagungssaal, das kleine | |
Restaurant „Ethnos". Dessen Koch ist von Beruf eigentlich Krankenpfleger, | |
doch abends stellt er sich an den Herd. Menschen wie er, Einrichtungen wie | |
das Progetto Accoglienza sind in Italien typisch für die | |
Flüchtlingspolitik, die funktioniert. Die dezentrale Aufnahme in kleinen | |
Unterkünften wird über das Programm SPRAR („Schutzsystem für Asylbewerber | |
und Flüchtlinge") vom Innenministerium und dem Verband der italienischen | |
Kommunen organisiert. Die Träger vor Ort sind meist karitative | |
Organisationen wie die Caritas oder auf viel ehrenamtlichem Engagement | |
beruhende Vereine, aus dem katholischen genauso wie aus dem „laizistischen“ | |
Milieu. | |
## Plätze nicht ausfinanziert | |
Auch der CIR, der Italienische Flüchtlingsrat, unterhält eine | |
SPRAR-Einrichtung, in Verona, wo die Flüchtlinge direkt in Privatwohnungen | |
untergebracht werden. „Das ist schon der erste Schritt zur Integration“, | |
bilanziert Christopher Hein, Direktor des CIR. Für ihn sind die SPRAR der | |
richtige Ansatz, und dringend notwendig war in seinen Augen die Aufstockung | |
der bisher lediglich 3.500 landesweit existenten Plätze. Von 2014 an stehen | |
13.000 Plätze zur Verfügung, die in „Notstands“-Zeiten noch einmal um | |
weitere 7.000 ergänzt werden können. Doch das ist immer noch viel zu wenig. | |
„Alles, was vorhanden und auch finanziert ist, ist doch jetzt schon wieder | |
völlig belegt“, stellt Hein fest. „Wir bräuchten sofort eine neue | |
Ausschreibung, um zusätzliches Angebot zu schaffen“. Dabei wird selbst das | |
bestehende Kontingent gar nicht ausgeschöpft. Luigi Andreini vom Villaggio | |
La Brocchi nennt Zahlen. Eigentlich hält er neben den 22 regulären noch | |
acht Pufferplätze in seiner Einrichtung bereit, „doch die sind momentan | |
frei, weil der Staat die nötigen Budgetmittel nicht freigegeben hat“. | |
Stattdessen seien in einem Agritourismus, einem Urlauberbauernhof, gleich | |
um die Ecke Plätze requiriert worden. Andreini vermutet System hinter dem | |
Chaos. „Dahinter steht womöglich die Hoffnung, dass die Menschen schnell | |
weiterziehen, in andere Länder“. | |
Christopher Hein wiederum schüttelt den Kopf über die neueste Initiative | |
des Innenministeriums; es will jetzt in jeder Provinz flächendeckend | |
Asylprüfungskommissionen etablieren. „Viel sinnvoller wäre es“, meint Hei… | |
„wenn die Syrer sofort kollektiv den Flüchtlingsschutz erhielten. | |
Stattdessen werden sie einer zeitraubenden und Ressourcen fressenden | |
Einzelfallprüfung unterzogen, mit dem immer gleichen Resultat: | |
Anerkennung.“ Das Geld sei viel besser in vernünftige Aufnahmeeinrichtungen | |
investiert. | |
Von der Panikmache des Innenministers hält Hein zwar nichts - doch | |
natürlich sei der Anstieg der Flüchtlingszahlen unverkennbar. „Kein | |
Wunder“, schließt Hein, „dieses Jahr sind die Syrer die größte Gruppe – | |
eine Gruppe, die vor einem Jahr noch gar nicht präsent war“. | |
17 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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