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# taz.de -- TV im Web: Befreit dieser Mann die Zuschauer?
> Serien räumen die TV-Landschaft um. Videoportale schaffen neues
> Fernsehen. Viele reden von der Freiheit der Konsumenten. Was für eine
> Freiheit?
Bild: Walter White kocht in der Wüste.
Da steht ein Mann in einer weißen Unterhose in der Wüste und zielt mit
seiner Pistole ins nirgendwo. Der Mann trägt ein grünes Hemd, eine
kastenförmige Brille und hält eine Gasmaske in der Hand. Über seine Stirn
ziehen sich tiefe Furchen. Sein Gesicht sieht aus, als könnte es gleich in
die Luft fliegen. Da steht ein Mann, der entweder gleich anfängt richtig
laut zu heulen - oder jemanden zu erschießen.
Da steht Walter White.
So haben ihn vor einigen Jahren auch deutsche Fernsehzuschauer
kennengelernt, die nicht die Download-Portale des Netzes nach den neuesten
Serien aus den USA durchforsten. Dieses Foto stand in vielen Zeitungen, auf
Online-Portalen, als die Serie in Deutschland bei Arte anlief. Walter
White, die Hauptfigur der Serie „Breaking Bad“. Der Chemie-Lehrer mit dem
Tumor in der Lunge, der als Produzent ins Geschäft mit dem Crystal Meth
einsteigt, um seine Behandlung zahlen zu können, und dabei zum mordenden
Drogenboss wird.
Das ist alles schon wieder eine Weile her. „Breaking Bad“ ist längst
Fernsehgeschichte, sein Erfinder [1][Vince Gilligan arbeitet an einem
Nachfolger und schauspielert]. Seine Serie bleibt: In all den
Videoportalen, die von immer mehr Zuschauerinnen genutzt werden. Bei
Netflix, der größten Online-Videothek der Welt. Bei Amazon, dem
Konkurrenten. Oder bei Maxdome und Watchever, den deutschen
Netflix-Pendants.
## "Das Publikum will die Kontrolle"
Vielleicht ist es sogar so: Diese Portale werden immer mächtiger, ihr
Einfluss immer größer, weil es „Breaking Bad“ gab. Weil es diverse andere
Serien gibt, die ähnlich funktionieren. Mit Helden, die so faszinierend
abstoßend sind, mit Plots, bei denen fast jede Episode auf eine Frage
endet: Und jetzt?
Der neue Walter White heißt Frank Underwood. Ein Kongressabgeordneter in
Washington, der in der Serie „House of Cards“ mit aller Macht ins Weiße
Haus will. Von ethisch-moralischen Grenzen oder anderen Menschen lässt er
sich nicht aufhalten.
„Breaking Bad“ und „House of Cards“ stehen für eine neue Art von Ferns…
das von der Macht und der Freiheit der Zuschauer geprägt ist. So würde das
zumindest Kevin Spacey formulieren, der diesen Frank Underwood spielt. Beim
Filmfestival in Edinburgh hat er in einer oft zitierten Rede gesagt: „Das
Publikum will die Kontrolle. Es will die Freiheit.“
Es klang ein wenig so, als ginge es um die Verteidigung amerikanischer
Verfassungswerte und nicht um ein neues Geschäftsmodell der
Unterhaltungsindustrie.
## Gesellschaftlich akzeptiertes Überfressen
Als vor einigen Wochen die zweite Staffel von „House of Cards“ komplett auf
der Plattform Netflix veröffentlicht wurde, haben manche sich zu Hause vor
den Rechner, das iPad oder den Fernseher gesetzt und nächtelang alle neuen
Episoden auf einmal gesehen. „Binge viewing“ nennt man das in den USA. Wie
„binge drinking“, wenn man sich mit Alkohol abschießt. Oder „binge eatin…
Das Überfressen.
Dieses „binge viewing“ hat allerdings gar keinen wirklichen
gesellschaftlichen Makel wie das Abhängen der TV-Couchpotato, die
traditionell als eher Unterschicht gilt. Es mag nach Überfressen mit Chips
und Pommes klingen, aber man kann mittlerweile ganz gut damit angeben, in
wenigen Tagen die ganze Staffel einer Serie aufgesogen zu haben. „Es birgt
schon eine gewisse Ironie, dass Fernsehserien ausgerechnet zu einer Zeit an
Ansehen gewinnen, da sich das Fernsehen als Medium zunehmend in Frage
gestellt sieht“, schrieb die FAZ einmal über „Breaking Bad“. Die Serie, …
über die Jahre immer beliebter wurde, weil nach jeder neuen Staffel mehr
Menschen in den Online-Videotheken die alten Episoden entdeckten.
„Gebt den Leuten, was sie wollen, wann sie es wollen und in der Form, in
der sie es wollen – zu einem vernünftigen Preis“, rief Kevin Spacey in
Edinburgh. „Und sie werden eher dafür bezahlen, statt es zu stehlen.“
Die Filmindustrie hofft auf die neuen Serien und ihre Reputation.
Videoplattformen wie Netflix oder Amazon sind selbst zu Produzenten
geworden. „House of Cards“ hat Netflix finanziert und eingekauft, ohne
einen Piloten zu testen, wie es Kabelsender tun, bevor sie sich auf ein so
teures Projekt einlassen. Für Netflix hat sich das gelohnt. Allein im
ersten Quartal dieses Jahres, hat der Konzern gerade gemeldet, habe man
vier Millionen neue Nutzerinnen gewonnen. Das Unternehmen hat mit 48
Millionen Nutzerinnen längst HBO überholt, einen klassischen
Kabelfernsehsender, auf dem das Mafia-Epos „Sopranos“ lief, das als einer
der Ursprünge, dieser Seriensucht gilt. Oder „Curb Your Enthusiasm“, die
Serien-Comedy mit dem schratigen Seinfeld-Erfinder Larry David.
Die Videoplattformen stellen mit Hilfe der Serien infrage, was Fernsehen
ist. Sie definieren es neu. Es ist nichts mehr, was man sich vorsetzen
lassen muss. Man kann sich sein Fernsehen selbst holen. Bei Netflix etwa.
## Ist Berieselung nicht auch ganz entspannend?
In der Titelgeschichte der [2][taz.am wochenende vom 26./27. April 2014]
stellen wir zwei Männer vor, die an dieser neuen Art von Fernsehen
arbeiten. Einer der beiden ist Stefan Schulz. Der Chef der
Videoplattform-Watchever, die sich gerade darauf vorbereitet, dass Netflix
im Herbst nach Deutschland kommen dürfte. Der andere ist Florian Hager. Ein
Programmdirektor beim Kultursender arte, der ein Fernsehen schaffen will,
das nicht nur zu festen Zeiten im Wohnzimmer funktioniert.
Bringt diese neue Art fernzusehen tatsächlich mehr Freiheit?
Und: Sind die Zuschauer wirklich bereit, viel mehr auszuwählen und die
Fernbedienung selbst in die Hand zu nehmen, statt sich berieseln zu lassen
und mal zu sehen, was so kommt? Ist Berieselung nicht auch manchmal
entspannend?
Weil Videoportale wie Netflix ihre Zuschauer binden müssen, errechnen sie
sehr genau deren Sehgewohnheiten und setzen ihnen vor allem Filme und
Serien vor, von denen sie hoffen, dass die Zuschauer sie mögen. Netflix hat
dafür ein unglaublich verzweigtes Kategorien-System geschaffen, mit dem das
Angebot perfektioniert werden soll. [3][Alexis Madrigal hat es für „The
Atlantic“ entschlüsselt.] „Critically-acclaimed Emotional Underdog Movies�…
oder „Cult Evil Kid Horror Movies“ heißen solche Kategorien. Auch der
deutsche Konkurrent Watchever hat solche Kategorien einmal ausprobiert.
Drogeninspiriertes Kultkino etwa. Dort scheinen Labels wie „spektakulärer
Animationsfilm“ aber besser angenommen zu werden.
## Zufallsfunde gekillt
Die Personalisierung der Videoportale allerdings, das zeigt Ethan Zuckerman
in seinem neuen Buch [4][„Rewire“], ist so sehr darauf ausgerichtet,
möglichst viele Treffer zu liefern, also Serien oder Filme, die man
irgendwie mag, dass es kaum noch Zufallsfunde gibt. Man ist gerade fast
schon vor dem Fernseher eingedämmert. Da beginnt plötzlich eine seltsame
Dokumentation über das Leben ostafrikanischer Bergziegen, die man
begeistert zuende sieht, aber niemals selbst ausgewählt hätte. So etwas
passiert bei Netflix nicht.
Die Freiheit kann also langfristig auch in eine eher langweilige
Berechenbarkeit ausarten, in eine Art audiovisueller Filterblase. Wir sehen
nur noch, was uns Maxdome, Watchever oder Amazon vorsetzen. Der Horizont
wird immer enger.
Ist es jetzt zu früh, schon über solche langfristigen Auswirkungen zu
spekulieren? Sollte man die Freiheit als Zuschauer erst einmal genießen?
Den neuen Wettbewerb um die besten Serienstoffe? Oder schalten Sie abends
ein, um abzuschalten, und wollen nicht auch noch aufwändigst irgendwas
auswählen?
Diskutieren Sie mit!
Die Titelgeschichte „Wir glotzen weiter“ von Johannes Gernert und Jürn
Kruse lesen Sie in der [5][taz. am wochenende vom 26./27. April 2014].
25 Apr 2014
## LINKS
[1] http://artsbeat.blogs.nytimes.com/2014/03/12/breaking-bad-creator-vince-gil…
[2] /Ausgabe-vom-26/27-April-2014/!137336/
[3] http://www.theatlantic.com/technology/archive/2014/01/how-netflix-reverse-e…
[4] http://www.ethanzuckerman.com/blog/rewire-digital-cosmopolitans-in-the-age-…
[5] /Ausgabe-vom-26/27-April-2014/!137336/
## AUTOREN
Johannes Gernert
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