| # taz.de -- Kritikerin über Bücher und Autoren: „Mir geht es um Migrationsl… | |
| > Die Kritikerin Sigrid Löffler über ihr umstrittenes Buch, | |
| > außereuropäische Schriftsteller, Weltwanderungen und vier Ankunftsstädte. | |
| Bild: „Mein Thema ist die postkoloniale Literatur“, sagt Sigrid Löffler ü… | |
| Sigrid Löffler ist die Grande Dame der deutschsprachigen Literaturkritik. | |
| Mit ihren Betrachtungen über die neue Weltliteratur hat sie eine handfeste | |
| Kontroverse ausgelöst. „Eigene kulturtheoretische Thesen entwickelt sie | |
| kaum“, lautete das Urteil von Ijoma Mangold in der Zeit. Hubert Spiegel | |
| sprach in der FAZ von einer „Anhäufung altbackener Klischees“ und einer | |
| willkürlich erscheinenden Auswahl englischsprachiger Autoren. Und in der SZ | |
| monierte Ina Hartwig, dass schwer nachvollziehbar sei, wie sich bei Löffler | |
| die „neue post-postkoloniale Migration von der Generation der Klassiker des | |
| Postkolonialismus“ absetze. Fragen über Fragen, wir trafen Sigrid Löffler | |
| zum Gespräch in Berlin. | |
| sonntaz: Frau Löffler, woher rührt Ihr großes Interesse für | |
| außereuropäische Literaturen und Schriftsteller, die mit einer | |
| transkontinentalen Perspektive schreiben? | |
| Sigrid Löffler: Ich habe von jeher diese Literatur gelesen, von den frühen | |
| Werken von Naipaul, Rushdie oder Coetzee angefangen. Außereuropäische | |
| Literatur ist heute nicht mehr das Thema von Nischen- oder Spezialverlagen. | |
| Inzwischen halten es auch die großen Publikumsverlage für geboten, einen | |
| afrikanischen, asiatischen oder karibischen Autor im Programm zu haben. Und | |
| so schien mir der Moment jetzt richtig, einem deutschsprachigen Publikum | |
| eine Art Überblick über diese nach dem Zweiten Weltkrieg neu entstandene | |
| Literatur zu geben, die immer wichtiger wird. | |
| Ihr vor wenigen Monaten veröffentlichtes Buch heißt „Die neue Weltliteratur | |
| und ihre großen Erzähler“. Frau Löffler, was ist neu an dieser neuen | |
| Weltliteratur, so wie Sie sie sehen? | |
| Neu ist, dass es sich um globale Literatur handelt, die Autoren aus | |
| Weltgegenden stammen, von denen man bisher gar nicht geahnt hatte, dass | |
| dort Literatur entstehen könnte. Oft stammen sie aus Krisen- und | |
| Bürgerkriegsregionen, aus Ländern, die bisher zum Teil weder eine Literatur | |
| noch eine Literatursprache hatten. Man denke nur an Somalia. Und dass diese | |
| Literatur sehr eng verknüpft ist mit den vier großen Themen, die ich seit | |
| 1945 entdecke: Entkolonialisierung, weltweite Migration, Landflucht und | |
| Verstädterung. Sie wird zumeist von Migranten geschrieben, ist | |
| Migrationsliteratur, und häufig wird sie nicht in den jeweiligen lokalen | |
| Muttersprachen der Autoren geschrieben, sondern von Sprachwechslern auf | |
| Englisch oder Französisch. | |
| Sie setzen Ihre Literaturgeschichte mit dem Ende des britischen Empire an, | |
| also der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als Staaten wie | |
| Indien oder Pakistan unabhängig wurden. Warum wählten Sie ausgerechnet | |
| diesen Ausgangspunkt? | |
| Das große Problem meiner Arbeit lag in der ungeheuren Menge an Literatur. | |
| Wie ordne ich das? Die meisten dieser Bücher, zwischen 80 und 85 Prozent | |
| dieser neuen globalen Literatur, werden auf Englisch geschrieben. Und sehr | |
| viele der Autoren kommen aus ehemaligen britischen Kolonien. Es schien mir | |
| logisch, den Zerfall des britischen Empire als Matrix zu nehmen. Ich konnte | |
| zwei Bewegungen feststellen: einerseits die Migration ins Mutterland und | |
| andererseits die Autoren, die in den Kolonien verblieben und über die | |
| nachkoloniale Entwicklung ihrer Länder schreiben. Ein weiteres | |
| Erklärungsmodell habe ich dem Autor Doug Saunders zu verdanken, der die | |
| große Studie „Arrival-City“ über Verstädterung und die anschwellenden | |
| Ankunftsstädte für die großen Migrationsströme geschrieben hat. Hinzu kamen | |
| noch die Bürgerkriegsländer wie Libanon oder auch Jugoslawien. | |
| Kritiker Ihres Buches fragen: Warum hat sie nicht eine Literaturgeschichte | |
| der englischsprachigen Commonwealth-Staaten und deren voranschreitender | |
| Globalisierung verfasst? Was sagen Sie denen? Warum beschränken Sie sich | |
| nicht darauf? | |
| Das ist nicht mein Thema. Ich schreibe keine Literaturgeschichte. Ich | |
| versuche einen noch unbekannten literarischen Kontinent, der gerade | |
| auftaucht, vorläufig zu kartografieren. Das kann natürlich nur lückenhaft | |
| geschehen, anderes zu behaupten wäre größenwahnsinnig. Es ging mir um eine | |
| triftige Struktur, nicht um einen quantitativen Überblick. | |
| Aber war große Literatur nicht immer schon in gewisser Weise Weltliteratur | |
| in dem Sinne, dass sie universell verstanden und lesbar sein musste? Warum | |
| „neu“ bei Ihnen? | |
| Das Neue daran ist, dass es eine globale, nichtwestliche, postnationale | |
| Literatur ist, die aus bisher literaturfernen oder literarisch stummen | |
| Gegenden kommt. | |
| Die gesamte Geschichte der Menschheit, gerade die nach Erfindung des | |
| Buchdrucks, war geprägt von Migrationen, Kriegen, Handel und Kolonisierung. | |
| Mario Vargas Llosa hat dies zum Beispiel 2010 in seinem Roman „Der Traum | |
| des Kelten“ thematisiert, einer Geschichte aus dem Zeitalter des | |
| klassischen Imperialismus, die in Irland, Kongo und Peru handelt. Solche | |
| Werke wie die gesamte neuere lateinamerikanische Literatur finden in Ihrem | |
| Buch keine Erwähnung. Gabriel García Márquez ist ihnen eine Fußnote wert. | |
| Warum? | |
| Mein Thema ist die postkoloniale Literatur und nicht die Literatur, die | |
| noch einmal den Kolonialismus ins Auge fasst. Es geht um die Literatur in | |
| den Ländern, die unter den Nachwirkungen des Kolonialismus zu leiden haben. | |
| Gerade diese Länder, die mit dem Geburtstrauma ihrer Unabhängigkeit am | |
| meisten zu ringen haben, brachten bemerkenswerterweise auch die üppigste | |
| und interessanteste Literatur hervor, sprich Pakistan, Irak, Nigeria. Und | |
| dass diese Literatur noch nie in einem Kontext gesehen wurde, schien mir | |
| ein Manko, dem ich mit diesem Buch abhelfen wollte. | |
| Gut, das Problem ist vielleicht der Titel „Die neue Weltliteratur und ihre | |
| großen Erzähler“, darunter könnte man auch Autoren wie Roberto Bolaño | |
| fassen, den trieben seinen Wanderungen quer durch den lateinamerikanischen | |
| Kontinent, bis er auf der Flucht vor der chilenischen Diktatur schließlich | |
| 1977 in Spanien strandete. Warum ist Ihnen der Autor von „Die wilden | |
| Detektive“ oder „2666“ keine Erwähnung wert? | |
| Muss ich’s noch einmal sagen? | |
| Ja bitte. | |
| Es ist nicht mein Thema! Mein Thema ist die globale Literatur aus Asien, | |
| aus Afrika und aus der Karibik. | |
| Aber das steht halt nicht so auf dem Titel. | |
| Ich könnte es auch globale Literatur nennen, mir geht es um | |
| Migrationsliteratur. Und dass nun jeder mit seinen Partikularkenntnissen | |
| daherkommt und sagt, warum kommt der chinesische Dichter Ping-Pong nicht | |
| vor, das habe ich fast erwartet. Das ist aber kleinlich und nörglerisch. | |
| Ihr Interesse gilt vor allem Autoren und Autorinnen, die Sie als | |
| Sprachwechsler bezeichnen. Warum soll der Sprachwechsel für eine neue | |
| Erfahrung so wichtig sein und warum tut‘s nicht die schnöde Übersetzung? | |
| Der von Ihnen sehr geschätzte Autor Najem Wali schreibt ja auch im | |
| deutschen Exil weiterhin auf Arabisch. | |
| Ja, der ist aber die Ausnahme. Die meisten dieser Autoren haben die Sprache | |
| gewechselt. Sie schreiben über die große Erfahrung ihres Lebens, nämlich | |
| die Migration, die Verstädterung, die Flucht, das Exil, die Ankunft in | |
| ihren Zufluchtsländern eben nicht in ihrer Muttersprache, nicht auf Urdu, | |
| Kikuyu oder Marathi, sondern auf Englisch, und wenn sie aus den frankofonen | |
| Kolonien Afrikas kommen, auf Französisch. Wir haben es hier also mit | |
| Autoren zu tun, die nicht in ihrer Muttersprache schreiben, sondern die | |
| Sprache ihrer ehemaligen Kolonialherren zu ihrer Literatursprache gemacht | |
| haben und sie im Prozess der Aneignung verändern und anreichern, indem sie | |
| mit ihrem ganzen kulturellen Gepäck in die Kolonialsprache einwandern und | |
| sie kreolisieren. Kommunizieren bedeutet nach George Steiner übersetzen – | |
| und diese kulturelle Vermittlung interessiert mich als Kritiker besonders. | |
| Aber es gibt ja auch Autoren wie Rodrigo Rey Rosa, der über Guatemala eine | |
| Verknüpfung mit Marokko vornimmt und auch ohne einen Sprachwechsel ins | |
| Englische Peripherien verknüpft und in das Zentrum neuer Erzählung rückt. | |
| Sorry, aber Lateinamerika ist nicht das Thema meines Buches. | |
| Sie schreiben an einer Stelle Ihres Buches, „Englisch ist eine besonders | |
| demokratische Sprache“. Müsste es nicht eher heißen, die USA oder | |
| Großbritannien sind besonders demokratisch entwickelte Gesellschaften? Wie | |
| soll denn eine Sprache an sich demokratischer als die andere sein? | |
| Das ist nicht meine Aussage, ich zitiere hier den bosnischen Autor | |
| Aleksandar Hemon, der in Chicago lebt und nicht mehr auf Bosnisch, sondern | |
| auf Englisch schreibt. Der hat mehrfach beschrieben, wie schwierig dieser | |
| Sprachwechsel war. Er hält Englisch für besonders demokratisch, weil man | |
| sich dieser Sprache von allen Seiten her zugesellen könne. | |
| Sie schreiben auch, dass England bis zur Ankunft der Migranten von 1948 | |
| „monokulturell“, „monochrom weiß“ gewesen sei, danach sei daraus „ein | |
| buntes Gemisch von Herkünften und Hautfarben“ geworden. Ist das nicht | |
| selber ein bisschen zu sehr von der Farbenlehre geprägt und vernachlässigt | |
| das nicht alle anderen Unterschiede der Herkunft, vor allem den der Klasse, | |
| die den Zugang zu Hoch- und Staatskulturen ja mitunter auch deutlich | |
| erschweren? | |
| Mein Buch handelt genau von der migrantischen Erfahrung, vom „Dritten Raum“ | |
| zwischen Herkunft und Ankunft, von den Identitätskonflikten und | |
| Integrationsmühen der Zuwanderer, die zwischen Anpassungszwängen und | |
| Ausgrenzungen taumeln und in ihren Zufluchtsländern meist wegen ihrer | |
| Herkunft und ihrer Hautfarbe auf Ablehnung stoßen, siehe die Rassenkrawalle | |
| in den pakistanischen und bengalischen Zuwandererenklaven Londons unter der | |
| Regierung Thatcher und die rassistischen Ausschreitungen der British | |
| National Front. | |
| Den Rassismus der früheren englischen Gesellschaft bestreitet hier niemand. | |
| Inzwischen ist die Verwandlung Englands in eine multiethnische und | |
| multikulturelle Gesellschaft gelungen, in der die Hautfarbe keine Rolle | |
| mehr spielt und ethnische Mischungen fast die Regel sind, siehe die | |
| Kehrtwende unter Tony Blair mit seinem Slogan eines inklusiven Britannien, | |
| das die Zuwanderer als gleichberechtigte Briten akzeptiert. Die Literatur | |
| bildet diesen Prozess in allen Phasen ab, von Naipaul bis Zadie Smith. | |
| Noch ein Wort zu Doug Saunders und den „Arrival Citys“. Wie hängen die | |
| Migrationen, vor allem auch Binnenmigrationen, und die Ankunftsstädte mit | |
| den neuen Literaturen zusammen? | |
| Ich habe mich auf vier Ankunftsstädte konzentriert – außer London und New | |
| York auf Toronto und Mumbai. Deshalb, weil es zu diesen Städten bedeutende | |
| neue Großstadtromane gibt. Vor allem Mumbai, das frühere Bombay, ist ein | |
| Labor der Zukunft und als solches Schauplatz und Thema vieler Romane, von | |
| Kiran Nagarkar bis Jeet Thayil. Und Toronto ist das Modell einer klug | |
| organisierten Zuwandererstadt. Das ist auch Thema in Romanen von Michael | |
| Ondaatje oder David Bezmozgis, einem jüdischen Zuwanderer aus der | |
| ehemaligen Sowjetunion. Über Lagos, Nairobi oder New Delhi gibt es leider | |
| noch keine Romane von vergleichbarer Qualität. | |
| Aravind Adigas Roman „Der weiße Tiger“ spielt in Neu-Dehli und wurde im | |
| Jahr 2008 mit dem Booker-Prize ausgezeichnet. | |
| Adiga habe ich außen vor gelassen – aus Qualitätsgründen. | |
| Schade. | |
| Das ist Unterhaltungsliteratur, die habe ich nicht aufgenommen. | |
| Aber besteht nicht bei Ihrer Perspektive die Gefahr, dass man Autoren erst | |
| in den Blick bekommt, wenn sie ihre Herkunft besonders betonen und | |
| thematisch auch an diesem Stoff bleiben? Das ist doch kein Sprechen auf | |
| Augenhöhe, wenn ich immer erst mal die Herkunft und die Abstammung zum | |
| Ausgangspunkt der Erzählung machen muss. | |
| Es sind die Autoren selbst, die ihre Migration, ihre Weltwanderung zum | |
| Thema machen, indem sie entweder den Fokus auf ihre Herkunftsländer legen, | |
| aus denen sie oftmals vertrieben wurden, oder von den Freuden und Leiden | |
| der Identitätsfindung in ihren Zufluchtsländern erzählen. Viele | |
| thematisieren das Dazwischen, den Transit, die Wurzellosigkeit, die diese | |
| nomadisierende Existenz mit sich bringt. Dazu gibt es eine Fülle von | |
| Literatur, die es wert ist, einmal vorgestellt zu werden. | |
| 25 May 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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