# taz.de -- Buch über die Weltliteratur: Nur an den Rändern getackert | |
> Sigrid Löffler hat ihre Lektürefrüchte gebündelt. „Die neue Weltliterat… | |
> und ihre großen Erzähler“ bleibt jedoch hinter den Erwartungen zurück. | |
Bild: Wer's nicht schafft, alles zu lesen, kann in dem Buch „Die neue Weltlit… | |
Die Literaturlandschaften der Welt haben sich in den vergangenen | |
Jahrzehnten enorm verändert. Mehr als je zuvor rezipieren wir AutorInnen, | |
deren kultureller Hintergrund sich deutlich von unserem eigenen | |
unterscheidet und die oft auch zwischen verschiedenen Kulturen unterwegs | |
sind. Dabei profitieren wir, die deutschsprachige Leserschaft, zu einem | |
großen Teil von der kolonialen Vergangenheit anderer Länder, insbesondere | |
der Briten. | |
Die linguistische Eroberung weiter Weltgegenden durch die englische Sprache | |
hat zur Folge, dass sich in umgekehrter Richtung eine literarische | |
Eroberung der Alten Welt in Gang setzte. Englisch schreibende AutorInnen, | |
deren familiäre Herkunft in Südasien, dem Nahen Osten oder Afrika liegt, | |
sind zum Teil so bekannt geworden in den lesenden Ländern der westlichen | |
Welt, dass sie nicht mehr als Einzelerscheinungen, sondern als allgemeines | |
Phänomen betrachtet werden können. | |
So ist es eigentlich mehr als überfällig gewesen, dass das Phänomen der | |
sich auf globaler Wanderung befindlichen Literatur, das die | |
englischsprachige akademische Welt im Kontext der Disziplin Postcolonial | |
Studies erfasst, auch aus deutschsprachiger Warte einmal insgesamt | |
betrachtet und auf seine Bedeutung abgeklopft würde. Und wer könnte besser | |
für ein solches Vorhaben gerüstet sein als Sigrid Löffler, langjährige | |
Herausgeberin der Zeitschrift Literaturen, eines hochgeschätzten | |
Fachblatts, dessen pluralistischer Ansatz der Literaturbetrachtung bereits | |
in seinem Namen enthalten ist. | |
Entsprechend hoch ist die Erwartungshaltung an ein Buch, das Löfflers | |
Autorennamen und den selbstbewussten Titel „Die neue Weltliteratur und ihre | |
großen Erzähler“ trägt. Und darin liegt das Problem. Könnte man beides | |
einfach zur Seite schieben – die Erwartungshaltung und den die Erwartung | |
auch noch befeuernden Buchtitel –, so wäre man wahrscheinlich ganz angeregt | |
beschäftigt mit diesem Füllhorn voller Lektürefrüchte aus einem langen | |
Kritikerinnenleben. | |
## Das Buch tut so, als wäre es neu | |
Man würde auch nicht allzu kritisch mit der Tatsache ins Gericht gehen, | |
dass viele Passagen möglicherweise nach der Copy-and-paste-Methode aus | |
Manuskripten für Literaturen-Beiträge übernommen wurden. Denn | |
selbstverständlich sind viele der vorgestellten AutorInnen mit denen | |
identisch, die Sigrid Löffler für Zeitschriftenzwecke bereits früher | |
porträtiert hat. | |
Es ist nichts verkehrt daran, wenn eine renommierte Kritikerin Beiträge, | |
die sich in den Jahren angesammelt haben, zu einem Buch bündelt. Nur wäre | |
eine reine Artikelsammlung als Buch nicht annähernd so gut zu vermarkten | |
wie eines, das sich auf die Fahnen schreibt, eine „neue Weltliteratur“ zu | |
porträtieren. Und mit einem Inhaltsverzeichnis daherkommt, in dem einzelne | |
Kapitel und Unterkapitel sowie eine Einleitung ausgewiesen sind, als handle | |
es sich um eine zusammenhängende Darstellung. | |
Merkwürdigerweise scheinen dennoch weder Autorin noch Lektorat erwartet zu | |
haben, dass irgendjemand das Buch tatsächlich von vorn bis hinten lesen | |
wollen würde. Für LeserInnen, denen man ein normal entwickeltes | |
Erinnerungsvermögen zutraut, müssen nicht dieselben Sachverhalte mehrfach | |
erläutert werden. Es schadet natürlich nicht, Autoren ganz kurz wieder | |
einzuführen, die in mehreren Kontexten relevant sind. Wenn einem aber der | |
libanesischstämmige kanadische Autor Rawi Hage in Kapitel 5 (Libanon) so | |
vorgestellt wird, als habe man noch nie von ihm gehört, obgleich er doch | |
eine der Hauptpersonen im vorangegangenen Kapitel (Kanada) gewesen ist, | |
gehen einem doch die Augenbrauen hoch. | |
Man könnte argumentieren, dass Rawi Hage nicht so bekannt sei und der | |
Mensch fast alles, was er liest, sofort wieder vergesse. Aber auch die | |
Information, dass der Nobelpreisträger V. S. Naipaul ursprünglich aus | |
Trinidad stammt, findet sich in „Die neue Weltliteratur“ gleich mehrfach. | |
Und Naipaul ist zweifellos berühmt. | |
## Wunderbare Zusammenfassungen | |
Schön geschrieben sind die seitenlangen Inhaltsbeschreibungen der | |
besprochenen Romane. Es ist wenig ganz Neues oder gar Unbekanntes dabei, | |
was aber in Ordnung geht. Schließlich kann man nicht alles lesen, und wer | |
zum Beispiel nie die Zeit hatte, etwa „Herr der Krähen“, das fast | |
tausendseitige Opus magnum des kenianischen Exil-Autors und | |
Nobelpreiskandidaten Ngugi wa Thiong’o, aus eigener Kraft durchzuarbeiten, | |
findet bei Löffler eine wunderbare Zusammenfassung. | |
Auch unter den anderen vorgestellten Werken findet sicher jeder und jede | |
viele Lektüreanregungen; und dass die Autorin originellerweise keines der | |
Hauptwerke Salman Rushdies, sondern seinen frühen Roman „Scham und Schande“ | |
für eine eingehendere Vorstellung ausgewählt hat, bereichert das | |
Pakistan-Kapitel um eine gleichsam historische Dimension. | |
Doch es enttäuscht schon, dass nicht einmal ansatzweise der Versuch zu | |
erkennen ist, die vorgestellten Werke in größere gedankliche Zusammenhänge | |
einzuordnen. Einen roten Faden sucht man vergeblich. Angeboten wird nicht | |
einmal eine gedanklich vertiefende Erläuterung des Terminus „neue | |
Weltliteratur“, der schließlich ein implizites Werturteil transportiert und | |
den das Buch so vollmundig im Titel führt. Angesichts des durchaus | |
unterschiedlichen literarischen Ranges der vorgestellten Werke wäre | |
„Weltliteratur“ im Sinne eines Qualitätsmerkmals als inhaltliche Klammer | |
aber äußerst angreifbar. | |
## Welche Weltliteratur ist hier gemeint? | |
Wenn hier aber eine andere Lesart gemeint ist und „neue Weltliteratur“ | |
ausschließlich begriffen wird im Sinne von „Literatur einer globalisierten | |
Welt“ oder „Literatur mit migrantischem Hintergrund“, dann wäre in diesem | |
Kontext eine deutlich enzyklopädischere Herangehensweise angebracht. Dafür | |
hätte man mindestens fünfmal so viele AutorInnen aufnehmen und die | |
Nacherzählung einzelner Werke von mehreren Seiten auf höchstens eine halbe | |
Seite beschränken müssen. | |
Es wäre wirklich schön gewesen, dieses Buch gut zu finden. Sicher obliegt | |
es letztendlich dem Lektorat, aus dem Autoren-Input ein Buch zu machen, das | |
diesen Namen verdient. Aber auch die Autorin selbst hätte sehen müssen, | |
dass es für eine Gesamtdarstellung einfach nicht reicht, eine Textsammlung, | |
metaphorisch gesprochen, an den Rändern zu tackern. | |
23 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
## TAGS | |
Poesie | |
Science-Fiction | |
Nachruf | |
Diedrich Diederichsen | |
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