Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Nachruf auf Stuart Hall: Eine unvollendete Unterhaltung
> Er erklärte Plattencover. Und er war Mitbegründer der Cultural Studies
> und Theoretiker der Hybridität. Nun ist Stuart Hall gestorben.
Bild: Filmstill aus der Dokumentation „The Stuart Hall Project“.
Schon im Vornamen zeigt sich das Empire: Stuart. So wie das englische
Königshaus nannten seine Eltern ihren Sohn Stuart Hall, als er 1932 in
Jamaika geboren wurde. Sein Name war ein Akt der Unterwerfung und des
Wunsches nach Gleichberechtigung zugleich. Stuart Hall würde später dort
studieren – in Oxford, im Herzen des Empire.
Aber anstatt die Aufstiegsträume seiner Eltern zu erfüllen, wurde er zu
jemand anderem: Gründungsfigur der Neuen Linken, Akademiker am Centre for
Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham, öffentlicher
Intellektueller. „Hall war einer der wenigen Schwarzen im Fernsehen, die
nicht singen, tanzten oder davonliefen“, erinnert sich der Regisseur John
Akomfrah, der einen Essayfilm über Hall gedreht hat. „Für uns war er ein
Rockstar, eine Popikone mit Grips.“
Hall selbst beschrieb seine Rolle in der britischen Gesellschaft anders:
„Ich konnte kein Karibe sein und ich konnte kein Engländer sein.“ Diesem
Dazwischensein gab er einen Namen: Hybridität. Hall bestand immer darauf,
diese Hybridität als vollwertige Existenz anzuerkennen, weil eine Rückkehr
zu einem „Ursprung“ unmöglich ist – egal ob diese Rückkehr vom
Rastafarianismus oder von der National Front gepredigt wurde.
Aber man tut Hall Unrecht, wenn man ihn nun als den „Paten des
Multikulturalismus“ bezeichnet. Hall war kein Pate, sondern ein Partner.
„Ich arbeite am besten im Team“, erzählte er einmal in einem Interview.
Seine treffendsten Analysen entstanden in Zusammenarbeit mit Kollegen. In
„Doing Cultural Studies“, einem Lehrbuch für die Open University, erklärt
er die globale Kulturproduktion am Beispiel des Sony Walkman. „Resistance
through Rituals“, eine Pionierstudie über Jugendkulturen, erarbeitete der
Jazz- und Soulfan Hall in den 1970ern mit Doktoranden am CCCS.
## Gegenwart als Maßstab für die Theorie
Das Populäre, so Hall, sei ein Feld, in dem eine Form von Sozialismus
präfiguriert werden könne. Ansonsten interessiere es ihn nicht. Es ist eine
der Punchlines, die immer wieder in Halls Texten auftauchen und denen in
der Regel mehrere Seiten theoretischer Begründung vorausgehen. Hall nahm
die Frankfurter Schule und den Poststrukturalismus und erklärte damit
Magazincover und Seifenwerbung. „Mit den Engeln ringen“ nannte er dies
einmal.
Denn anstatt als beliebiges Beispiel für das Rezitieren theoretischer
Lehrsätze zu dienen, waren Gegenwart und Gesellschaft bei Hall die
Maßstäbe, an denen sich die Theorie messen musste.
## „Policing the Crisis“
Das Ziel war dabei weniger die Bildung einer Denkschule, sondern eine
präzisere Beschreibung der Gesellschaft, die Hall als „unmenschlich“ in
ihrer Unfähigkeit, „mit Differenz zu leben“, beschrieb. „Conjunctural
Analysis“ nannten Hall und seine Kollegen um John Clarke und Chas Critcher
ihre Methode im vielleicht bedeutendsten Text Halls: „Policing the Crisis“
von 1978.
Dort untersuchen sie die hysterische Berichterstattung über den als
„schwarzes Verbrechen“ konstruierten Straßenraub mit einer Mischung aus
Semiotik, empirischer Studie und Ethnologie. Diese Berichterstattung
verstanden sie als Reaktion auf eine „Krise der Hegemonie“ des britischen
Wohlfahrtsstaats im Angesicht von Nordirlandkonflikt und Wirtschaftskrise.
## Analyse des Thatcherismus
Damit legten sie die Grundlage für Halls spätere Analyse des Thatcherismus,
den er als „autoritären Populismus“ beschrieb. Laut Hall gelang es Margaret
Thatcher, hinter der Rhetorik von einer über britische Werte verbundenen
Gemeinschaft ein politisches Programm aus Law and Order und
Privatisierungen durchzusetzen und damit ein populäres Verlangen
anzusprechen, ohne es erfüllen.
Vielleicht ist dies die große Qualität von Stuart Hall: Er wollte sein
Denken nicht in dem Spiel um Status und akademisches Kapital aufreiben.
Vermutlich wird er auch deshalb in Deutschland von der Kulturwissenschaft
weitgehend ignoriert. Das eine „große“ Buch hat Stuart Hall niemals
geschrieben – im Gegenteil.
## Encoding/Decoding
Seine prägnantesten Werke sind Essays wie „Enkodieren/Dekodieren“. In
dieser kurzen, freundlichen Polemik erinnerte er die Medienwissenschaften
daran, dass vor den Radio- und Fernsehapparaten denkende, fühlende Wesen
sitzen, die durchaus fähig sind, eine Botschaft anders zu verstehen, als es
diejenigen in den Sendern geplant haben.
Wie viele Texte war es ein Einwurf in eine aktuelle Debatte, kein
formvollendetes Denkgebäude. Hall kommt dem, was man einen „organischen
Intellektuellen“ nennt, recht nahe.
## Antirassistische Kämpfe
Als Publizist und öffentliche Figur begleitete er antirassistische Kämpfe,
egal ob sie sich politisch oder – häufiger – künstlerisch äußerten. Aber
seine Texte fügen sich nicht zu einem Kanon. Als „unvollendete
Unterhaltung“ hat Stuart Hall sein Nachdenken über Rassismus, Kultur und
politische Theorie einmal bezeichnet.
Am Montag ist er im Alter von 82 Jahren gestorben. Diese Unterhaltung wird
zukünftig ohne seine warmherzige und dennoch bestimmt wirkende Stimme
auskommen müssen. Aber verstummen wird sie nicht.
11 Feb 2014
## AUTOREN
Christian Werthschulte
## TAGS
Nachruf
Anti-Rassismus
Elite-Universität
Schwerpunkt Rassismus
spex
## ARTIKEL ZUM THEMA
Buch „Das verhängnisvolle Dreieck“: Die Wahrheit über den Rassismus
Hybridität statt Identität: Die posthum erschienenen Aufsätze des
Cultural-Studies-Mitbegründers Stuart Hall sind von frappierender
Aktualität.
Debatte um Alltagsrassismus in Oxford: „Nein, ich verkaufe kein Kokain“
Eine Kampagne auf Tumblr thematisiert Ressentiments gegenüber nicht-weißen
Studierenden. Eine zweite will den Ruf Oxfords retten. Eine dritte disst
das.
Buch über die Weltliteratur: Nur an den Rändern getackert
Sigrid Löffler hat ihre Lektürefrüchte gebündelt. „Die neue Weltliteratur
und ihre großen Erzähler“ bleibt jedoch hinter den Erwartungen zurück.
Schwarze Initiativen in Europa: Vereint gegen „Afrophobie“
Schwarze Initiativen aus Europa haben sich in Berlin getroffen. Ihr Ziel:
eine stärkere Vernetzung, um mehr Gehör in Politik und Medien zu finden.
Diedrich Diederichsen über die „Spex“: „Rezeptionsekstase hat Vorrang“
Ein Gespräch über die richtige Sprache beim Schreiben über Pop, linke
Gegenkultur nach dem Deutschen Herbst und den Frauenanteil beim
Musikmagazin „Spex“.
Der Elvis der Kulturtheorie: Im Taxi mit dem Philosophen
Slavoj Zizek ist für antiautoritären Kommunismus und erzählt gerne dreckige
Witze. Er liebt nicht nur das Paradoxe, er selbst und sein Körper sind es.
Eine Begegnung.
Britischer Pop-Kongress: Narzissten und Machos
Seit es die Cultural Studies und die Blogosphäre gibt, schwindet die
Deutungshoheit von Musikmagazinen. Deren britische Schreiber debattieren
ihr Selbstverständnis.
Hybrid sein statt assimilieren: "Die Leute wollen teilnehmen"
Assimilation ist keine Einbahnstraße, sagt der Theoretiker Homi K. Bhabha.
Um die Auswirkung des britischen Kolonalismus zu überwinden, brauche es
Zeit - und die Anstrengung aller.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.