# taz.de -- Der Elvis der Kulturtheorie: Im Taxi mit dem Philosophen | |
> Slavoj Zizek ist für antiautoritären Kommunismus und erzählt gerne | |
> dreckige Witze. Er liebt nicht nur das Paradoxe, er selbst und sein | |
> Körper sind es. Eine Begegnung. | |
Bild: Unprätentionser Look: T-Shirt, Gratissocken und abgetragene Jeans. | |
Slavoj Zizek spricht schnell. Als wäre der Teufel hinter ihm her. Kaum | |
eingestiegen ins Taxi, überspringt er das Kennenlernen und redet, | |
philosophiert, räsoniert darauflos. Fortwährend schwingt er dabei seinen | |
Kopf zur Seite, als wäre dieser der Wagen einer alten Schreibmaschine. | |
Er fasst sich ins Gesicht, die Ohren, streicht sich über die Haare seines | |
Ponys, wischt sich über den Mund – erst mit der einen, dann mit der anderen | |
Hand. Wäre Zizek ein Jugendlicher, die Diagnose wäre klar: ADHS - | |
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. | |
Aber er ist kein Teenager, sondern der erste globale Philosophiepopstar. Er | |
hat ein einzigartiges Theorie-Universum geschaffen aus Marx, Hegel, | |
Cultural Studies, Filmtheorie, radikaler französischer Philosophie und der | |
Psychoanalyse Jacques Lacans. Für seine Fans ist er der "Elvis der | |
Kulturtheorie", für seine Gegner "der gefährlichste lebende Philosoph des | |
Westens". | |
Kürzlich berichteten angelsächsische Boulevardmedien, dass Zizek mit Lady | |
Gaga ausgehe. Ein Gerücht, aber ganz unplausibel erschien es nicht, war er | |
doch bis vor Kurzem mit dem 30 Jahre jüngeren Unterwäschemodel Analia | |
Hounie verheiratet, einer Lacan-Schülerin. | |
Während der Fahrt im Taxi durch Berlin analysiert Zizek schnell | |
verschiedene Aspekte der Weltpolitik, die Lage im arabischen Raum und den | |
Zustand der Linken. Er plaudert über Kino, und während das Auto am | |
Brandenburger Tor vorbeifährt über Musik von Wagner, Eisler, Schönberg. Er | |
spricht ein kantig akzentuiertes Englisch – Deutsch könnte er auch, stellt | |
sich nach seiner Abreise heraus. Fließend. | |
## Sachzwangdemokratie | |
Zizek liebt das subversive, dialektische und vor allem paradoxe Denken. Er | |
paraphrasiert gerne die Beobachtung des US-Kulturtheoretikers Fredric | |
Jameson, dass wir uns heute ohne Weiteres den Untergang der Welt vorstellen | |
können, aber nicht das Ende des Kapitalismus. Vor ein paar Jahren hat er | |
geschrieben, das Paradox des Individuums im liberalen Kapitalismus sei, | |
dass uns suggeriert werde, wir hätten immer und überall die Wahl. | |
Doch letztendlich stünde nichts Substanzielles zur Entscheidung, wir | |
könnten nur für Cola oder Pepsi votieren. Das gelte auch für die | |
Demokratie, die ihrem Wesen nach heute eine "konstitutionelle Demokratie" | |
sei: | |
Der Bürger habe zwar formell die freie Wahl, aber seine Funktion bestehe | |
nur noch darin, das zu unterzeichnen, was ihm von den politischen Eliten – | |
als Sachzwang – unterbreitet wird. Zizek ist deshalb ein Gegner der | |
liberalen Demokratie, nicht weil sie demokratisch ist, sondern weil | |
Demokratie nur simuliert werde. | |
Denn auch hinter der Freiheit versteckt sich für ihn häufig nur eine | |
erzwungene Wahl. Während früher autoritäre Eltern ihren Kindern sagten, "du | |
gehst zur Oma und bist nett zu ihr", heißt es heute: "Wenn du nicht willst, | |
musst du nicht gehen, aber ich wäre enttäuscht und Oma sehr, sehr traurig". | |
Das sei moralisch viel heimtückischer, weil man jetzt seine Wahllosigkeit | |
auch noch selber wollen müsse. | |
Überhaupt sei die jüngste Periode des Kapitalismus auf perfide Weise | |
autoritär: Der nette, kumpelhafte Chef hat zwar den autoritären | |
Firmenpatriarchen abgelöst, aber, und dies ist zugleich der Haken: Er | |
bleibt immer noch der Chef. Hinter der Maske des kumpelhaften Chefs liege | |
eine strengere, unnachgiebigere Autorität, weil sie einem letztlich den | |
Raum zum Protestieren nehme. | |
Zizek liebt nicht nur das Paradoxe, er selbst und sein Körper sind es. Nach | |
einer Stunde ununterbrochenen Redens fährt sein Körper runter wie ein | |
überhitzter Generator. Er hat Diabetes. Angekommen im Hotel, muss er erst | |
mal schlafen. Später bei der nächsten Fahrt zum nächsten Treffen kommt | |
tatsächlich so etwas wie ein Gespräch zustande. | |
Er will wissen, wie es um die Politik in Deutschland steht, vor allem aber: | |
"Sagen Sie, Lafontaine, hat er wirklich eine Affäre mit Sahra Wagenknecht?" | |
Der voyeuristische Geist über das Leben ist auch Zizek nicht fremd, nur | |
eben anders: Ihn fasziniert, wie der Komponist Luigi Nono, ein Verehrer | |
Schönbergs, erst versucht hat, die Witwe Schönbergs zu heiraten und dann, | |
als diese ablehnt, seine Tochter ehelicht. Zizek glaubt, dass Nono durch | |
die körperliche Vereinigung auch in Schönberg eindringen wollte. | |
Sein erstes Buch auf Englisch hat Zizek erst 1989 geschrieben. Zuvor, in | |
Jugoslawien, gehörte er zum Milieu der Dissidenten und durfte wegen seiner | |
unkonventionellen Theorien und Ansichten mehr als vier Jahre nicht an der | |
Universität arbeiten. Bei den ersten freien slowenischen Wahlen im Jahr | |
1990 trat er als Präsidentschaftskandidat für die liberaldemokratische | |
Partei an. Aber Politik langweilte ihn schnell. | |
Zizek ist ein Sonderling, aber keiner, dem die Empathie fehlt, sondern | |
jemand, den Sozialkompetenz und menschliche Nähe überfordern. Sein Status | |
als globaler Philosophiepopstar bringt ihn jedoch immer wieder in solche | |
Situationen: Er muss nicht nur ständig mit fremden Menschen im Taxi sitzen, | |
sondern er ist permanent von Menschen umringt, die ihn bestaunen. | |
Wenn er in Anlehnung an Freud schreibt, dass der Narziss, der gerne ein | |
atomisiertes Individuum sein möchte, die Menge braucht, um seine Distanz zu | |
den anderen zu regulieren, schreibt er auch über sich selbst. | |
Dabei ist Zizek eigentlich ein netter, ja unprätentiöser Typ. Es wurde | |
schon viel darüber geschrieben, dass er Gratissocken von Lufthansa, | |
abgetragene Jeans und geschenkte T-Shirts trägt. | |
Im nächsten Taxi ist hinten ein Kindersitz. Nach kurzem Zögern setzt sich | |
Zizek mit angezogenen Beinen wie ein kleiner Junge darauf und legt sogleich | |
wieder los – mit Anekdoten über Jacques Lacan, der sich als | |
Psychoanalytiker eigentlich nicht für seine Patienten interessierte. | |
Die Fahrt geht zu linken Aktivisten, die allerlei Videos für die sozialen | |
Bewegungen in Deutschland ins Internet stellen. Alle sind völlig | |
aufgedreht, dass Zizek in ihrem kleinen Berliner Studio sitzt. In den | |
Drehpausen macht er politisch inkorrekte Witze. "Können wir Ihnen etwas zur | |
Stärkung bringen?" – "Ja, eine schöne Frau!" | |
## Wunschdemokratie | |
Im Interview spricht er über die Revolution in Ägypten. Sie stellt für ihn | |
ein genuines, universelles Ereignis dar, einen universellen Kampf für | |
Freiheit. Dieses Ereignis entblößt gleichzeitig den kulturellen Rassismus | |
des Westens, der immer behauptet hatte: "Wir würden es lieben, dort eine | |
säkulare Demokratie zu sehen, aber eine Mobilisierung der arabischen Massen | |
würde einen nationalistischen, fundamentalistischen, antisemitischen Mob | |
heraufbeschwören. Jetzt haben wir genau solch eine universelle, | |
solidarische Revolte erlebt." | |
Warum ist Zizek so attraktiv – vor allem für junge Leute mit ihrem neu | |
entdeckten Theoriehunger? Zuerst natürlich, weil er ganz unzeitgemäß für | |
den Kommunismus ist – eine Seltenheit für einen ehemaligen Dissidenten. Und | |
dann wegen seiner Melange aus Marxismus, Psychoanalyse, Kulturtheorie und | |
Popkultur. | |
Aber diese Erklärung bleibt an der Oberfläche. Zizek ist zwar ein Solitär, | |
aber nur die auffälligste Figur einer Renaissance des radikalen und | |
neomarxistischen Denkens. | |
Als nach 1989 der liberaldemokratische Kapitalismus das Ende der Geschichte | |
zu sein schien und die postmoderne Sozialtheorie ihren Siegeszug antrat, | |
sah es zunächst so als, als sei auch die radikale Kapitalismuskritik | |
erledigt. Inzwischen aber ist die Bilanz des liberalen Kapitalismus tief in | |
die roten Zahlen gerutscht. | |
Viele Leute spüren, dass das System doch nicht so dezentriert, | |
postideologisch und fragmentiert ist wie Postmoderne und Positivisten | |
behaupten, sondern dass das System auch weiterhin das System ist. Zizek | |
spricht das klar aus. | |
## Alibidemokratie | |
Während die Positivisten mit ihrem Anspruch, ideologiefrei zu sein, gerade | |
dadurch ideologisch sind, haben die Postmodernen, die an keine Wahrheit | |
mehr glauben, den Widerstand ermattet. Demgegenüber besteht Zizek auf einer | |
Politik der Wahrheit des Ganzen. | |
Als Hegelianer nimmt er die Totalität des Kapitalismus und seine | |
Widersprüche wieder ins Visier. Ihm geht es um die Kraft der Negation. Nur | |
wenn man das System als Ganzes verneint, kann es eine grundlegende | |
Veränderung geben. | |
Der Linken dagegen wirft er vor, keine Kritik mehr zu üben, die über das | |
Bestehende hinausweist. Deutlich macht er das, wie so oft, mit einem | |
obszönen Witz: Ein Bauer und seine Frau werden auf der Straße von einem | |
Reiter aufgehalten, der dem Bauern mitteilt, dass er nun dessen Frau | |
vergewaltigen werde. | |
Da die Straße dreckig ist, soll der Bauer während der Vergewaltigung die | |
Hoden des Reiters halten, damit sie nicht schmutzig werden. Nachdem der | |
Reiter seine Tat vollbracht hat und davongeritten ist, beginnt der Bauer zu | |
lachen. Seine gedemütigte Frau ist empört: "Wie kannst du lachen, wenn ich | |
gerade vor deinen Augen vergewaltigt wurde?" Der Bauer antwortet: "Aber ich | |
habe ihn erwischt! lch habe seine Hoden gar nicht gehalten und nun sind sie | |
schmutzig." | |
Die Gegenwartslinke hat für Zizek die Position des Bauern inne. Sie bewirft | |
den Kapitalismus nur mit Schmutz, obwohl es ihre eigentliche Aufgabe sei, | |
ihn zu kastrieren. Zizeks Witze sind immer dreckig und obszön. Aber Witz | |
und Provokation sind für ihn auch immer das Medium, seine völlig | |
ernstgemeinte Botschaft zu transportieren. | |
Zizek verliert sich nicht in abstrakten Ableitungen, sondern philosophiert | |
konkret. An den Phänomenen und Widersprüchen des Alltags, anhand von | |
Toilettenschüsseln, Architektur oder Konsumartikeln, erklärt er den Irrsinn | |
des Gesamtsystems. | |
Er will keine Antworten liefern, sondern vor allem Fragen stellen, unsere | |
gewohnten Ansichten ins Wanken bringen, unsere Gewissheiten zerstören. Er | |
will die Negation, um diese Welt aufzuheben. Es ist gewissermaßen nicht der | |
Teufel, der hinter Zizek her ist, er ist selbst der Teufel, ganz wie | |
Mephistopheles im Faust: Er ist die Kraft, die stets verneint, und so das | |
Gute schafft. | |
8 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Oliver Nachtwey | |
## TAGS | |
Soziologie | |
Nachruf | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Essay von Oliver Nachtwey: Auf Beton bist du nichts | |
In seinem Buch „Die Abstiegsgesellschaft“ zeichnet Nachtwey ein Bild der | |
Bundesrepublik: Es geht abwärts – aber nicht für alle. | |
Nachruf auf Stuart Hall: Eine unvollendete Unterhaltung | |
Er erklärte Plattencover. Und er war Mitbegründer der Cultural Studies und | |
Theoretiker der Hybridität. Nun ist Stuart Hall gestorben. |