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# taz.de -- Britischer Pop-Kongress: Narzissten und Machos
> Seit es die Cultural Studies und die Blogosphäre gibt, schwindet die
> Deutungshoheit von Musikmagazinen. Deren britische Schreiber debattieren
> ihr Selbstverständnis.
Bild: Haben Musikkritiker noch was zu melden?
WHISTABLE taz | Das Gras ist anderswo auch nicht grüner. Auch im
malerischen Küstenstädtchen Whitstable, eine gute Stunde von London
entfernt, kämpft der Musikmagazinjournalismus ums Überleben. Die Frage, die
sich Anne Hilde Neset, die stellvertretende Chefredakteurin der britischen
Zeitschrift The Wire am Ende des Festivals "Off The Page" stellte - warum
es so lange gedauert habe, eine dreitägige Veranstaltung auf die Beine zu
stellen -, lässt sich einfach beantworten: mangelnde Einsicht in die
Notwendigkeit.
Erst seitdem die Cultural Studies an den Universitäten und vor allem die
Blogosphäre den Siegellordbewahrern der egozentrierten Musikkritik das
Leben schwermachen, ist das Selbstverständnis von britischen
Traditionsmagazinen wie The Wire so erschüttert wie das etwa von Spex. Die
Deutungshoheit schwindet.
So wenig man es Wire-Chefredakteur Tony Herrington abnimmt, dass er die
Konkurrenz durch die Blogosphäre super findet, so sehr freut man sich über
das von Neset - zwar verzagt, aber doch mit deutlicher Stimme -
vorgetragene Bekenntnis, dass ihr, ehrlich gesagt, das narzisstische Baden
im Text des US-Popautors Lester Bangs zu viel des Guten gewesen sei.
Sein Machogetue habe der "Sache an sich" zu wenig Raum gegeben. Was die
Sache an sich sei, darüber ist man sich im Vestibül des "Playhouse", eines
putzigen kleinen Theaters, nicht sicher. Ist es wirklich noch die Musik?
Oder hat sich das Reden über Musik längst verselbstständigt?
"People pay to see others believe in themselves": Kim Gordons 1983 im
Artforum veröffentlichte Einschätzung der sozialen Einrichtung "Club", kann
man im Playhouse auf keinen Fall wiederfinden. Hier zahlen Leute eher
dafür, dass andere ihre Intellektualität darbieten. So gesehen war der
Auftritt von Kodwo Eshun ein Höhepunkt. Er war es auch, der in "Ten
paragraphs of music criticism" der Sonic-Youth-Sängerin Gordon zu neuen
Ehren verhalf.
Dabei hatte Eshun Kim Gordons Talent als Kritikerin nicht durch die Lektüre
ihrer Texte schätzen gelernt, sondern durch den US-Kulturkritiker Greil
Marcus, der Gordon seinerseits bereits entdeckt hatte - Koshun löste das
Problem elegant, indem er den Text von Marcus gleich mit in seine
persönliche Hall of Fame der Musikkritik integrierte.
Eshun sprach dann den gerne totgeschwiegenen Willen zur Macht an, den viele
Musikkritiker besitzen. Subjekttheoretisch bewandert und mit einem
ausgeprägten Bewusstsein für Hipness, stellte sich Eshun selbst in den
Mittelpunkt seiner Theorie und machte aus seiner "Oxbridge"-Sozialisation
keinen Hehl. Unbescheiden schätzte er den Beginn seiner Karriere als
Freelancer bei Musikmagazinen ein: "People who should run the country were
running into self-poverty."
Wer in der Lage ist, die Ästhetik der Zukunft in Worte zu fassen (in seinem
persönlichen Fall Clubmusik wie Drum 'n' Bass und Grime), erschaffe
Wahrnehmungsmuster und arbeite damit am diskursiven Wirklichkeitsbegriff.
Die Zukunft, so Eshun, sei ein Pop-Materialismus, der in der Geste die
"physische Idee" erkennen würde.
Den genau umgekehrten Weg schlug der New Yorker Dave Tompkins ein. Nicht
die Idee soll physisch werden, sondern die Physis zur Idee. Mit der
Geschichte des Vocoders in seinem Buchdebüt "How To Wreck A Nice Beach"
erzählt Tompkins faszinierend unakademisch, wie sich die menschliche Stimme
vom Körper entfernen konnte.
Der HipHop-Fan der ersten Stunde erzählt die unter Verschluss gehaltene
Geschichte des Vocoders als eine Geschichte sowohl von Affirmation als auch
von Dissidenz: Von seinen Anfängen, als J. F. Kennedy während der Kubakrise
in eine Comicfigur verwandelt wurde - "the KY-9 made the president sound
like Donald Duck" - bis zur heutigen Zeit und ihrer beliebten
Gesangssoftware "Autotune" hat Tompkins dem schillernden Wesen der
Popkultur als Joker der Macht hinterher gespürt.
Seine Performance begeisterte Fans und Kritiker gleichermaßen: Denn der
bescheidener Zauberer Tompkins stellt seine zehnjährige Forschungsarbeit
ganz in den Dienst seiner Liebe zum seltsamen, den Kopf wegblasenden Sound
und abgedrehter Science-Fiction.
Nomen non est omen: Nina Power, die Autorin von "One Dimensional Woman",
eines inzwischen auch auf Deutsch vorliegenden Pamphlets wider die
gesellschaftliche Beflissenheit britischer Frauen ("Cup of tea, love?"),
zeigte wenig Ambitionen, den Auftritt weiblicher Kritik etwas kraftvoller
zu gestalten.
Von Pop als Pose schien die Philosophiedozentin noch nie etwas gehört zu
haben. Statt dessen würde sie sich stets fragen, ob sie überhaupt über
Musik schreiben dürfe, wenn sie nicht 4.000 Platten im Schrank stehen habe.
16 Feb 2011
## AUTOREN
Nadja Geer
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