# taz.de -- Ukraine vor der Präsidentschaftswahl: Lady Ju oder Mister Wundert�… | |
> Am Sonntag entscheiden die Ukrainer, wem sie die Lösung der Probleme des | |
> Landes anvertrauen. In den Umfragen führt Petro Poroschenko. | |
Bild: Hält sich auch sonst vornehm im Hintergrund – mit Erfolg: Petro Porosc… | |
KIEW taz | „Schämst du dich nicht?“, ruft ein junger Mann, reckt wütend d… | |
Faust in die Höhe und geht eilig weiter. Fjodor zuckt nur mit den | |
Schultern. „Das bringt mich nicht aus der Ruhe“, sagt er. Der 70-Jährige | |
steht vor einem kleinen weißen Zelt auf dem Chreschtschatik, der | |
Hauptstraße in Kiew, und verteilt Wahlwerbung für Julija Timoschenko. | |
Gebe es nicht hin und wieder vor allem an U-Bahn-Stationen einen dieser | |
Unterstände, in denen jeweils zwei Personen auf Plastikhockern kauern, | |
würde wohl niemand merken, dass die Ukrainer für kommenden Sonntag dazu | |
aufgerufen sind, einen neuen Präsidenten zu wählen. | |
„Und der muss vor allem mit den Separatisten im Osten des Landes | |
fertigwerden und die Krim wieder zurückholen. Wenn die Ukraine ein Staat | |
ist, dann muss sie auch ihr Territorium verteidigen“, sagt Rentner Fjodor. | |
Für diese Herausforderungen sei Timoschenko, die nur ihr Eigentum schützen | |
wolle, nicht die Richtige. „Deshalb werde ich auch nicht für sie stimmen“, | |
sagt Fjodor und setzt hinzu: „Ich habe nur eine kleine Rente. Dafür, dass | |
ich hier täglich neun Stunden sitze, bekomme ich immerhin 150 Griwna | |
(umgerechnet 10 Euro).“ | |
Mit seiner Skepsis gegenüber Lady Ju, wie Timoschenko im Volksmund auch | |
genannt wird, steht Fjodor nicht allein da. Jüngste Umfragen sehen die | |
53-Jährige unter 21 Kandidaten zwar an zweiter Stelle, jedoch mit einem | |
Stimmenanteil von nur 8 bis 9 Prozent. Dass die bezopfte ehemalige | |
Regierungschefin politisch ein Auslaufmodell ist, deutete sich bereits im | |
vergangenen Februar an. | |
Statt mit Jubel wurde Timoschenko, die sich sofort nach ihrer | |
Haftentlassung werbewirksam in einem Rollstuhl auf den Maidan hatte | |
schieben lassen, von den Demonstranten mit Buhrufen empfangen. Auch die | |
Ankündigung, im Falle einer Wahlniederlage zu einer weiteren Revolution | |
aufrufen zu wollen, löste bei den Wählern angesichts der | |
bürgerkriegsähnlichen Zustände in einigen östlichen Gebieten des Landes | |
nicht gerade Begeisterung aus. | |
Doch Timoschenko wäre nicht Timoschenko, würde sie sich davon beeindrucken | |
lassen. Die Ukraine müsse ein untrennbarer Bestandteil Europas und die Krim | |
wieder ukrainisch werden, heißt es in ihrem Programm „Der Weg der Ukraine | |
nach Europa“. Die Forderung nach Dezentralisierung der Macht in Kiew fehlt | |
darin genauso wenig wie eine Kriegserklärung an die Clanherrschaft der | |
Oligarchen, um die weit verbreitete Korruption endgültig abzuschaffen. | |
## Flexibler „Schokoladenkönig“ | |
Mit ähnlichen Botschaften wendet sich auch Petro Poroschenko an das Volk, | |
allerdings mit deutlich größerer Resonanz. Seit Wochen führt der Oligarch | |
unangefochten in den Umfragen, derzeit wird er mit 30 bis 40 Prozent der | |
Stimmen gehandelt. Bereits in der Vergangenheit hatte sich der | |
milliardenschwere Süßwarenfabrikant mit dem Spitznamen „Schokoladenkönig“ | |
als erstaunlich flexibel erwiesen und war geschmeidig zwischen den | |
verschiedenen politischen Lagern hin und her geglitten. | |
2004 unterstützte er die Orange Revolution, die die Machtübernahme von | |
Wiktor Janukowitsch vereitelte und Wiktor Juschtschenko auf den | |
Präsidentensessel katapultierte. Als Janukowitsch 2010 auf mehr oder | |
weniger demokratischem Weg dann doch noch zum Staatschef gewählt wurde, | |
hatte Poroschenko keine Probleme damit, erneut die Seite zu wechseln. 2012 | |
bekleidete er für neun Monate das Amt des Wirtschaftsministers. | |
Auch die Euro-Maidan-Bewegung, die in der Folge der Nichtunterzeichnung des | |
Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union Ende November begann, | |
machte Poroschenko zu seinem Anliegen. Dabei hielt er sich jedoch – anders | |
als die damaligen Oppositionsführer, der ehemalige Boxweltmeister Vitali | |
Klitschko, der Chef der rechtsnationalistischen Partei Swoboda, Oleg | |
Tjangobuk, sowie der Vorsitzende von Timoschenkos Vaterlandspartei, Arsenij | |
Jazenjuk – vornehm im Hintergrund. | |
Auch jetzt gibt sich der 48-Jährige, der unter anderem von Vitali Klitschko | |
und dessen Partei UDAR unterstützt wird, nach allen Seiten offen und | |
dialogbereit. Das kommt offensichtlich bei der Mehrheit der Wähler an. | |
Poroschenko löst zwar keine Begeisterungsstürme aus, jedoch wird ihm am | |
ehesten zugetraut, die Ukraine zu einen, wirtschaftlich zu stabilisieren | |
und die Lage im Osten des Landes zu entschärfen. | |
Die Wochenzeitung Nowoje Vremja (Neue Zeit) macht noch einen anderen Grund | |
für Poroschenkos Popularität aus. „Anders als Timoschenko ist Poroschenko | |
der Wählerschaft weitestgehend unbekannt“, schreibt das Blatt. „Und er hat | |
es auch nicht eilig, seine Karten offenzulegen. So erwartet jeder Wähler | |
von Poroschenko, was er selbst will.“ | |
## Bestechungsgerüchte um Poroschenko | |
Der Oligarch macht kein Hehl daraus, dass er einen zweiten Wahlgang für | |
überflüssig hält, was er damit begründet, dass die Ukraine in diesen | |
Krisenzeiten so schnell wie möglich einen legitimen Präsidenten brauche. | |
Eine Stichwahl würde in drei Wochen stattfinden, falls kein Kandidat am | |
kommenden Sonntag die absolute Mehrheit der Stimmen erhält. Schon machen | |
Gerüchte die Runde, Poroschenko habe für einige der Umfragen, die ihm hohe | |
Zustimmungswerte attestieren, ein nicht unerhebliches Sümmchen springen | |
lassen. Auch gibt es Stimmen, die vor möglichen Fälschungen und | |
Manipulationen am Wahltag warnen. | |
Derartigen Befürchtungen tritt Oleksandr Tschernenko, Generaldirektor des | |
Komitees der ukrainischen Wähler (KVU), entgegen. Die | |
Nichtregierungsorganisation KVU ist neben Opora eine der beiden | |
ukrainischen Wahlbeobachtermissionen und wird mit rund 3.000 Vertretern | |
landesweit (mit Ausnahme der Krim) am Wahltag präsent sein. Die OSZE ist am | |
Sonntag mit rund 1.000 Beobachtern vor Ort. | |
„Abgesehen davon, dass Werbespots einiger Kandidaten in den elektronischen | |
Medien als Nachrichten verpackt werden, haben wir bisher keine massiven | |
Verstöße gegen die Gesetze feststellen können. Die Wahlkampagne ist im | |
Großen und Ganzen demokratisch und transparent verlaufen. Zu Zeiten von | |
Janukowitsch waren Phänomene wie Stimmenkauf oder der Einsatz | |
administrativer Ressourcen [staatliche Gelder, auf die Kandidaten in | |
bestimmten Position Zugriff hatten und die sie illegal für ihren Wahlkampf | |
verwendeten; Anm. d. Red.] gängige Praxis. Das ist heute nicht mehr | |
möglich“, sagt der Wahlbeobachter. | |
## Nicht überall kann abgestimmt werden | |
In den beiden stellenweise umkämpften östlichen Regionen Lugansk und Donezk | |
könne in 9 von insgesamt 34 Wahlkreisen definitiv nicht abgestimmt werden. | |
Das entspreche 5 bis 7 Prozent der dortigen wahlberechtigten Bevölkerung. | |
In weiteren 15 Wahlkreisen seien zwar Wahlkommission berufen worden, aber | |
deren Arbeit werde ständig behindert. „Das geht so weit, dass Mitglieder | |
der Kommissionen bedroht, geschlagen und manchmal sogar vorübergehend | |
festgesetzt werden. Doch trotz dieser Einschränkungen werden wir am Ende | |
einen legitimen Präsidenten haben“, sagt Tschernenko. | |
Was von diesem zu erwarten ist, wenn er denn Petro Poroschenko heißt, wagt | |
derzeit niemand zu prognostizieren. Auch für Experten ist der künftig | |
vielleicht Erste Mann im Staat eine Wundertüte. „Umfassende Reformen des | |
zentralen Verwaltungs- und des Justizapparats sind unerlässlich. Und genau | |
in diesem Punkt birgt ein Sieg Poroschenkos gewisse Risiken“, sagt Olga | |
Budnyk vom Kiewer Zentrum für politische Studien und Analysen. | |
Poroschenko habe keine gefestigte und in sich geschlossene Mannschaft, er | |
müsse daher zwischen neuen Kräften und alten Seilschaften lavieren. Das | |
könne dazu führen, dass er auf Reformen verzichte, nicht zuletzt auch im | |
Hinblick auf die Wahrung der Interessen der Oligarchen. | |
## Nein zu Korruption, Ja zu Europa | |
„Die Menschen aber haben ihre Wahl längst getroffen – sie haben eindeutig | |
Nein gesagt zu Korruption und Autoritarismus und Ja zu Europa. Die Frage | |
ist jetzt, ob Poroschenko willens und in der Lage ist, diesen Werten in der | |
Ukraine zum Durchbruch zu verhelfen. Wenn nicht, werden die Menschen wieder | |
Nein sagen“, sagt Olga Budnyk. | |
Das sieht auch Pjotr so, der seinen Nachnamen nicht nennen will. Der | |
39-Jährige ist seit Mitte Dezember täglich auf dem Maidan. Gemeinsam mit | |
einigen Kollegen harrt er hier in einem der letzten noch verbliebenen Zelte | |
aus. An einer der Wände hängen die Fotos der über hundert Menschen, die auf | |
dem Maidan ihr Leben ließen. Auf dem Boden davor brennen Dutzende | |
Grablichter. | |
Ein Schild am Eingang informiert über das Projekt mit dem Namen it-Namet, | |
was so viel wie IT-Zelt bedeutet. Vor allem geht es darum, die | |
Internetversorgung auf dem Maidan sicherzustellen. Zugleich ist das Projekt | |
aber auch Anlaufstelle für Angehörige der Getöteten, die auf Arbeitsuche | |
oder Spenden angewiesen sind. | |
„Der Euro-Maidan hat uns zu Bürgern im europäischen Sinne gemacht, Leuten, | |
die verstanden haben, dass etwas von ihnen abhängt. Wir sind hier im | |
Zentrum Europas, ein sowjetisches Imperium wird es nicht mehr geben“, sagt | |
Pjotr. Demokratische Institutionen würden sich gerade erst herausbilden und | |
die Präsidentenwahlen seien nur ein erster Schritt dazu. | |
Eine größere Bedeutung hätten die Parlamentswahlen im Herbst. „Doch wie | |
auch immer diese ausgehen, die Politiker müssen uns ernst nehmen und unsere | |
Forderungen erfüllen“, sagt Pjotr. „Wenn nicht, gibt es todsicher den | |
nächsten Maidan.“ | |
23 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
## TAGS | |
Ukraine | |
Präsidentschaftswahl | |
Petro Poroschenko | |
Julia Timoschenko | |
Maidan | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Petro Poroschenko | |
Slowakei | |
Petro Poroschenko | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Wiktor Janukowitsch | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Amtseinführung von Petro Poroschenko: Die Ukraine soll zurück nach Europa | |
Der neue Präsident Petro Poroschenko hat sich in seiner Antrittsrede klar | |
zur West-Orientierung bekannt. Die Krim ist für ihn weiterhin ukrainisch. | |
Einen Krieg will er nicht. | |
Ostgrenze der Europäischen Union: Theater am Ende der Welt | |
Einst lebten sie in einem gemeinsamen Staat: die Menschen in der | |
Ostslowakei und der Westukraine. In der Slowakei spielt das heute keine | |
Rolle mehr. | |
Präsidentschaftswahl in der Ukraine: Poroschenko laut Prognose Sieger | |
Nachwahlbefragungen sehen Petro Poroschenko bei über 55 Prozent der | |
Stimmen. Bürgermeister von Kiew könnte offenbar Vitali Klitschko werden. | |
Kommentar Bürgerkrieg Ostukraine: Kiew hat den Finger am Abzug | |
Die Bereitschaft, den Konflikt in der Ostukraine militärisch zu lösen, | |
steigt in Kiew. Aber ein Überleben funktioniert nur miteinander. | |
Kämpfe und Wahl in der Ukraine: Italienischer Journalist getötet | |
In der Ukraine wählen die Bürger einen neuen Präsidenten. Doch im Osten des | |
Landes drohen die prorussischen Aufständischen, die Stimmabgabe zu | |
blockieren. | |
Odessa vor Ukraine-Wahl: „Wer die Stimmen zählt, entscheidet“ | |
Die Einwohner der ukrainischen Hafenstadt Odessa sind stolz auf ihre | |
Heimat, sie betonen ihr Anderssein. Und sie fürchten massiven Wahlbetrug. | |
Der Maidan in Kiew: „Putin, fick dich“ | |
Der Maidan war das Zentrum des Protestes in der Ukraine. Geblieben ist vor | |
allem ein neuer Geschäftszweig. Verkauft werden nicht nur goldene | |
Toiletten. | |
Vor der Präsidentschaftswahl: Schwere Gefechte in der Ostukraine | |
Vor der Wahl in der Ukraine signalisiert Moskau Einlenken: Man werde das | |
Ergebnis respektieren, sagt Putin. Doch im Osten der Ukraine wird gekämpft. | |
Russischsprachige Ukrainer: Kein Verständnis für die Separatisten | |
Im ukrainischen Dnjepropetrowsk spricht man Russisch. Doch für die | |
Separatisten hat man nichts übrig. „Die sind doch bekloppt“, meint ein | |
Bewohner. | |
Die Ukraine vor der Präsidentenwahl: Hoffnung auf Ordnung | |
Drei Monate nach dem Sturz von Wiktor Janukowitsch wählt die Ukraine einen | |
neuen Präsidenten. Ist das ein Ausweg aus der Krise? Fragen und Antworten | |
zur Wahl. | |
Krise in der Ostukraine: Tote bei Angriff von Separatisten | |
Wenige Tage vor der Wahl sind in der Ostukraine mehrere Soldaten getötet | |
worden. Kiew fordert ine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats. |