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# taz.de -- Odessa vor Ukraine-Wahl: „Wer die Stimmen zählt, entscheidet“
> Die Einwohner der ukrainischen Hafenstadt Odessa sind stolz auf ihre
> Heimat, sie betonen ihr Anderssein. Und sie fürchten massiven Wahlbetrug.
Bild: Präsidentschaftskandidat Poroschenko (r.) beim Wahlkampf in Odessa.
ODESSA taz | Als Geschäftsmann Wladimir, der in seinem früheren Leben
Berufssoldat war, am Freitagnachmittag das Büro seiner Sicherheitsfirma im
Zentrum von Odessa betritt, wird er aufgeregt von seiner Sekretärin
aufgehalten. Wo er denn den ganzen Tag gewesen wäre, will sie wissen. Schon
zweimal seien die Leute von der Wehrbehörde hier gewesen, um ihn
anzutreffen. Gerade jetzt brauche man Profis wie ihn, hätten diese gesagt.
Wladimir ist froh, dass er den ganzen Tag nicht erreichbar war und wird
dies auch die nächsten Tage nicht sein.
Ein Grund mehr, am Sonntag den Wahlen fernzubleiben. Das hätte ihm noch
gefehlt, für die „Kiew Junta“ in den Krieg ziehen zu müssen, sagt er ruhi…
Seine für einen kurzen Augenblick geweiteten Pupillen sprechen eine andere
Sprache. Soeben hatten die Medien berichtet, dass über ein Dutzend
ukrainischer Soldaten am Vorabend von Aufständischen getötet worden seien.
„Das ist nur die halbe Wahrheit“, kommentiert der Militär die Nachricht
trocken. „Sie sind nicht von den Aufständischen erschossen worden. Die
Jungs haben sich geweigert zu schießen, und sind dann von den eigenen
Leuten, der Nationalgarde, erschossen worden. Ein Verbrechen.“
Er habe informell immer noch die besten Kontakte zu seinen Kollegen bei der
Armee und so wisse er von diesem Vorfall nicht nur aus den Medien. Die
Wahlen hält Wladimir für eine Farce. „Je später der Wahlabend umso dreister
die Fälschungen.“ Bis zur Schließung der Wahllokale werde alles
ordnungsgemäß ablaufen. Schon Stalin habe gesagt, entscheidend sei nicht,
wer wähle, sondern wer zähle. Und getreu diesem Motto werde man nach 20 Uhr
alles tun, um Ergebnisse zu erreichen, die den herrschenden Oligarchen
genehm seien.
Es wäre nicht das erste Mal, dass ausgerechnet bei der Stimmenzählung in
Wahllokalen in Odessa der Strom ausfällt. Auch beim Transport der
Stimmzettel und Wahlprotokolle von den Stimmkreisen in die zentrale
Wahlkommission seien Manipulationen nicht ausgeschlossen. Letztlich
entscheide der Leiter der einzelnen Wahlkommissionen vor Ort, wie die
Ergebnisse ausfielen. Und niemand könne garantieren, dass dieser nach
seinem Gewissen und nicht nach seinem Geldbeutel bei der Unterschrift unter
das Wahlprotokoll handle.
Auch in Odessa sind Fahnen in diesen Tagen aus dem Straßenbild nicht
wegzudenken. Doch es sind weniger als in den Nachbarstädten. Und es sind
vor allem die weiß-gelben Fahnen der Stadt Odessa. Für die Odessiten ist
Kiew weit weg – und Moskau auch. Man sieht sich als eigenes Volk, erklärt
liebend gerne, warum man die Bewohner der Stadt bitte nicht mit den
Bürokraten in Kiew oder den Proletariern von Donezk verwechseln sollte.
## Nachteil: Maidan-Unterstützer
Noch lieber erklärt man, was man in Odessa den anderen Städten in der
Ukraine alles voraus habe. „Als Hafenstadt haben wir über Generationen
gelernt, Handel zu treiben und wir können verhandeln. Wir sind nicht so
stur wie die Leute in Kiew, der Westukraine oder dem Donbass.
Freundschaften überleben auch bei politischen Differenzen“, erklärt der
Künstler Igor und grüßt einen alten Freund in der Fußgängerzone. „Der Ma…
ist wunderbar. Ein guter Musiker. Ich schätze ihn sehr. Er hat nur einen
Nachteil: er unterstützt den Maidan“, erklärt der Kunstmaler, der sich
seine Brötchen mit dem Malen und Renovieren von Ikonenbildern in orthodoxen
Kirchen verdient.
Die zentrale Deribassowskaja-Straße, Odessas Fußgängerzone, sprüht, so hat
es den Anschein, vor Leben. Jugendliche sitzen verliebt im Stadtgarten, aus
den Cafes dringt italienische Musik auf die Straße, eine kleine Gruppe
chinesischer Touristen posiert vor dem Denkmal „Der zwölfte Stuhl“, das an
die Autor des berühmten sowjetischen Romans „Zwölf Stühle“ erinnert. „…
nur Schein“ kommentiert Marina, die in der Fußgängerzone Touristen
anspricht, ihnen Stadtrundfahrten, Hotels und Wohnungen anbietet, das Bild.
Im letzten Jahr hätten sich die Touristen in der Fußgängerzone gedrängt.
Bei allen Schiffsreisen auf die Krim sei auch ein Besuch von Odessa fester
Bestandteil des Besuches gewesen. Doch mit dem Wegfall der Krim als
ukrainischem Touristenmekka seien auch die Besucher von Odessa
ausgeblieben. Spätestens seit dem 2. Mai, als mehrere Dutzend Anti-Maidan
Demonstranten im Gewerkschaftshaus bei einem Brand ums Leben gekommen
seien, würde kaum noch ein Ausländer die Reise in die Hafenstadt wagen.
Auch alte Leute seien aus dem Straßenbild verschwunden. „Wer den Krieg
erlebt hat, traut sich kaum noch aus dem Haus“, so Marina.
## Fast einhundert Prozent russischsprachig
Eine, die trotzdem den Mut hatte, nach Odessa zu reisen, ist Nadeschda aus
Donezk. Die Wirtschaftsstudentin, die auch einen kleinen Laden mit einer
Angestellten betreibt, reise immer dann für einige Tage nach Odessa, wenn
ihr die Anspannung in ihrer Heimatstadt unerträglich werde. „Odessa ist die
einzige europäische Stadt, in der russisch gesprochen wird“, begründet sie
ihre Liebe zu Odessa. Und Odessa ist zu fast einhundert Prozent
russischsprachig. Die Inschriften auf den Friedhöfen der Stadt sind in
russischer Sprache verfasst, Odessas Buchläden führen fast ausschließlich
russischsprachige Literatur. Viele fragen sich, wie es ausgerechnet in
Odessa am 2. Mai dazu kommen konnte, dass bei einem Brand im
Gewerkschaftshaus über 40 Demonstranten ums Leben kamen.
„Mit dem 2. Mai ist in dieser Stadt ein Konsens gebrochen“, erklärt Igor.
Bisher habe man sich immer einigen können. Nun sei der Friede in der Stadt
in Gefahr. Der Konflikt sei noch nicht ausgestanden. „In den vergangenen
Tagen ist eine Frau vom Balkon gestürzt, heißt es. Ich weiß, was wirklich
war: diese Frau hatte Molotow-Cocktails für die Maidan-Anhänger am 2. Mai
gemischt. Irgendjemand hat ihren Namen und ihre Adresse herausgefunden. Und
dann kamen eines Abends fünf sportliche Männer und stürzten die Frau von
ihrem Balkon in den Tod. Und das ist erst der Anfang. Die Menschen hier
sinnen auf Rache für den 2. Mai. Die Gewalt liegt in der Luft, es ist die
Ruhe vor dem Sturm. Und es reicht ein Funke, um ein Feuer zu entfachen, das
die Ereignisse des 2. Mai in den Schatten stellen wird.“
24 May 2014
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Ukraine
Odessa
Maidan
Wahlen
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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