| # taz.de -- Ostgrenze der Europäischen Union: Die endlose Suche nach dem Ausweg | |
| > „Die Balten wussten sofort, wohin sie gehören“, seufzt der IT-Spezialist | |
| > Vitalie Cirhana. „Wir in Moldau wissen das nach 25 Jahren immer noch | |
| > nicht.“ | |
| Bild: Der bronzene Rotarmist erinnert, Chisinau überschauend, an die Befreiung… | |
| CHISINAU taz | Auf dem weißen Kalksteinplateau, das sich hoch über dem | |
| Flusstal erhebt, ist nur das Zirpen der Grillen zu hören. Plötzlich jedoch | |
| ertönt ein leises Blöken, das schnell lauter wird. Wie aus dem Nichts | |
| taucht eine wohl hundertköpfige Schafherde auf. Schafe mit langem, dichtem | |
| Fell, die der Schäfer den fast senkrecht abfallenden Hang hinab zum Tränken | |
| treibt. Doch schon Minuten später verschwindet die Herde, und es ist wieder | |
| still auf dem Kalksteinplateau von Cricova. | |
| Der Kalkstein ist es, der Cricova, eine Kleinstadt 15 Kilometer nördlich | |
| von Chisinau, berühmt gemacht hat. Denn mit dem weißen Stein wurde die | |
| Hauptstadt Moldaus nach der fast vollständigen Zerstörung im Zweiten | |
| Weltkrieg aufgebaut. In Cricova entstanden dabei 120 Kilometer lange Gänge | |
| mit einer fast hundertprozentigen Luftfeuchtigkeit, die sich, so stellte | |
| sich bald heraus, hervorragend für die Lagerung von Wein eignen. | |
| Heute ist Cricova nicht nur das berühmteste Weingut Moldaus, sondern es hat | |
| auch einen der größten Weinkeller weltweit. Die Reste der Weinsammlung | |
| Hermann Görings, die die Rote Armee erbeutete und erstaunlicherweise nicht | |
| ganz austrank, werden bis heute hier gelagert. 2002 feierte Wladimir Putin | |
| hier in einem unterirdischen Festsaal seinen fünfzigsten Geburtstag. | |
| Doch vier Jahre später fand der russische Präsident plötzlich keinen | |
| Gefallen mehr an Cricova. Moldau wurde der Export von Weinen nach Russland | |
| verboten. Eine Strafmaßnahme, die Moskau jetzt wiederholt, weil die | |
| Regierung in Chisinau das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen | |
| möchte. Wein ist eines der wichtigsten Exportgüter Moldaus, 25 Prozent der | |
| 3,5 Millionen Einwohner sind im Weinbau beschäftigt. | |
| ## Champagner in Handarbeit | |
| Sergiu Budeci, Exportmanager bei Cricova, sieht den Boykott gelassen. Nur | |
| eine Million Flaschen von jährlich insgesamt 15 Millionen würden nach | |
| Russland exportiert. „Wir Moldauer trinken unseren Wein am liebsten selbst. | |
| Und wir haben schon beim ersten Boykott 2006 begonnen, neue Absatzmärkte zu | |
| suchen – in der EU natürlich.“ Wer gesehen hat, wie in den Kellern von | |
| Cricova die Arbeiterinnen in ihren rosa Kitteln den Champagner praktisch in | |
| Handarbeit abfüllen, kann sich nur schwer vorstellen, dass man damit in der | |
| EU konkurrenzfähig sein kann. Doch die Keller sind heute vor allem | |
| Touristenattraktion. | |
| Erst vor wenigen Tagen wurde in Cricova eine neue Abfüll- und | |
| Verpackungsstraße in Betrieb genommen. Es ist so ziemlich das Modernste, | |
| was auf dem Markt ist. Italienische Fachleute haben sie installiert, die EU | |
| hat Geld dazugegeben und es ist Budeci anzumerken, wie stolz er darauf ist. | |
| Mit seinem Weinboykott, so scheint es, hat Putin das Gegenteil erreicht. | |
| Aber vielleicht ging es ihm ja auch um etwas ganz anderes. Denn es gibt | |
| eine Region in Moldau, der gestattet wurde, ihren Wein weiterhin nach | |
| Russland zu liefern: Gagausien. Die 160.000 Einwohner in der Autonomen | |
| Region im Süden des Landes gehören zu einer turksprachigen Minderheit. Seit | |
| der Annexion der Krim werden auch hier die Forderungen nach noch größerer | |
| Autonomie lauter. Und so hat Moldau neben Transnistrien, das schon seit | |
| 1990 den Anschluss an Russland sucht, nun seine zweite Krisenregion. Und | |
| dann sind da noch die jüngsten Meinungsumfragen, wonach nur etwa die Hälfte | |
| der Bevölkerung für die Assoziierung mit der EU ist. Kann Moldau für Putin | |
| zur leichten Beute werden? | |
| Vitalie Cirhana ist Direktor von „Millennium“, einem „Trainingscenter“,… | |
| im Jahr 2000 gegründet wurde und unter vielem anderen auch einen | |
| Studentenaustausch zwischen Deutschland und Moldau organisiert. Der | |
| 36-jährige IT-Dozent hat Kontakte in ganz Europa und kann gut Vergleiche | |
| ziehen. „Die Letten sind sich sicher, dass sie zu EU und Nato gehören | |
| wollen. Wir dagegen wissen nach 25 Jahren immer noch nicht, wohin wir | |
| gehören. Die weniger gut Ausgebildeten zieht es nach Russland, die gut | |
| Ausgebildeten in die EU.“ | |
| Einen der Gründe für das Zurückbleiben Moldaus sieht Vitalie in der | |
| Kommunistischen Partei. Das ganze erste Jahrzehnt des neuen Millenniums war | |
| sie mit manchmal über 50 Prozent die stärkste Partei und könnte nach den | |
| Parlamentswahlen im Herbst die liberalkonservative Regierung erneut | |
| ablösen. Die KP Moldaus spricht sich nicht direkt gegen die Assoziierung | |
| mit der EU aus, doch macht sie gemeinsam mit der orthodoxen Kirche und | |
| einflussreichen Russen Stimmung. „Die Priester predigen von der gottlosen | |
| EU, in der Kreuze verboten werden und die Schwulenehe erwünscht ist“, | |
| erzählt Vitalie Cirhana. | |
| Moldava gilt Statistiken zufolge als eines der ärmsten Länder Europas. | |
| Statistiken sind das eine. Ökonomen vermuten, dass das tatsächliche | |
| Bruttoinlandsprodukt doppelt so hoch ist wie das statistische. Dass dies | |
| nicht übertrieben ist, macht jeder Tag in der 700.000 Einwohner zählenden | |
| Metropole deutlich. Da sind die unzähligen Wechselstuben, in denen Geld | |
| ohne Belege getauscht wird. Da sind Hunderte von Minibussen, in denen dem | |
| Fahrer die Geldscheine einfach in die Hand gedrückt werden. Und da ist der | |
| Zentralmarkt, dem die alten Hallen schon lange nicht mehr genügen und der | |
| von immer mehr Straßen Besitz ergreift. Das ganze historische Zentrum von | |
| Chisinau scheint ein einziger Markt zu sein, der nie zur Ruhe kommt. Dies | |
| ist die zweite Ökonomie, die an jeder Statistik vorbeigeht. | |
| ## „Visafrei“ lautet der Ruf | |
| Der schönste und ruhigste Platz in Chisinau ist der Kathedralenpark mit dem | |
| Metropolitansitz der Moldauisch-Orthodoxen Kirche. Die Blumen sind | |
| gesprengt, die Gehwege gefegt – welch Unterschied zu den staubigen Straßen | |
| voller Schlaglöcher, die vom Zentralmarkt hierher führen. Gegenüber dieser | |
| Oase hat der Ministerpräsident Moldaus seinen Amtssitz. Auch dieses Gebäude | |
| wurde aus Kalkstein erbaut und ist so groß, dass man meinen könnte, Moldau | |
| habe nicht 3,5, sondern 35 Millionen Einwohner. Vor dem Regierungssitz | |
| stehen riesige Transparente, die den Beginn einer Epoche ankündigen. „Ab | |
| dem 28. April ohne Visum“, steht da. Denn Moldaus Regierungschef Iurie | |
| Leanca hat es noch vor der Ukraine geschafft: die visafreie Einreise seiner | |
| Bürger in die EU. | |
| Für all jene, die an diesem Morgen auf den Bus ins rumänische Iasi warten, | |
| ändert sich wenig. Schon bisher galten für die Bürger Moldaus bei der | |
| Einreise in das Nachbarland erleichterte Bestimmungen. Und die | |
| Verkehrsverbindungen in das 130 Kilometer entfernte Iasi sind schon lange | |
| ganz besonders gut. Schließlich waren beide Städte mehr als 500 Jahre lang | |
| Teil des Fürstentums Moldau. Dies ist bis heute nicht vergessen, selbst bei | |
| jungen Leuten, die sich zu beiden Seiten der Grenze als Moldauer | |
| bezeichnen. „Wir Moldauer sprechen ein Rumänisch, das sich vom Rest | |
| Rumäniens unterscheidet“, erzählt die 31-jährige Adela Trofin in Iasi. Sie | |
| hat einige Freunde und Bekannte aus Chisinau, die hier in Iasi studieren, | |
| war jedoch selbst noch nicht dort. Was vor allem daran liegt, dass die | |
| Grenzbeamten sie mit ihrem Mountainbike nicht hinüberlassen wollten. | |
| Adela Trofin hat vor kurzem Slow Food Iasi gegründet und die | |
| Genießerbewegung zählt in der Universitätsstadt mit ihren 270.000 | |
| Einwohnern „zwanzig zahlende Mitglieder“. Slow Food kämpft derzeit um eine | |
| traditionelle Moldauer Spezialität: Die Pelincile Domnului – ganz besonders | |
| süße Pfannkuchen, die mit zerstoßenem Hanfsamen gefüllt werden. | |
| Doch den Anbau von Hanf möchte die rumänische Regierung unterbinden. In | |
| Iasi, das mit seinen Alleen und weiten Plätzen im Unterschied zu Chisinau | |
| so ungemein friedlich wirkt, kümmert sich jedoch nicht nur Slow Food um | |
| gutes Essen. In den letzten Jahren sind unzählige NGOs entstanden, die sich | |
| Themen wie „Veggie-Day“ oder „Leben ohne Plastik“ verschrieben haben. | |
| Rumänien gehört ebenfalls zu den ärmsten Ländern Europas. Dennoch kann man | |
| genau hier deutlich machen, was der EU-Beitritt verändert hat. Während die | |
| Bauern in Moldau ihr Trinkwasser mit Eimern und Kanistern vom Brunnen | |
| holen, verwendet man in Iasi spezielle Filter, um den Geschmack des Wassers | |
| zu verbessern. | |
| ## Großrumänische Träume | |
| Auch wenn Adela Trofin das „alte“ historische Moldau als ihre Heimat | |
| bezeichnet, hält sie doch gar nichts davon, dass es rumänischen Politiker | |
| vor Wahlen immer mal wieder einfällt, laut über eine „Wiedervereinigung“ | |
| beider Länder nachzudenken. „In Zukunft“, sagt Adela, „wird es egal sein, | |
| ob jemand aus Chisinau, aus Berlin oder dem Kongo kommt. Es wird darum | |
| gehen, was für Menschen wir sind.“ | |
| Sieht man dies in Chisinau genauso? Am Kathedralenpark hat eine kleine | |
| Weinbar eröffnet. Sie ist so etwas wie eine Oase in der Hektik und trägt | |
| dazu noch den Namen „Carpe diem“. Darüber hat das Weingut „Et cetera“ … | |
| Büro. Im Unterschied zu Cricova bewirtschaftet das Familienunternehmen | |
| nicht 600, sondern nur 43 Hektar, und selbst die sind Alexandru Luchianov | |
| noch zu viel. Der 35-Jährige will weg von den internationalen Rebsorten und | |
| hin zu regionalen Trauben. Er will die traditionellen Weindörfer erhalten | |
| und ist sicher, dass Moldau mindestens so gute Weine wie Rumänien | |
| herstellen kann. | |
| Und auch bei der Politik hält es Luchianov, der aus einer | |
| rumänisch-russischen Familie stammt, wie beim Wein. „Moldau soll sich weder | |
| an Russland noch an der EU orientieren, sondern an sich selbst“, sagt der | |
| Winzer und fügt hinzu: „Jeder Einzelne muss Verantwortung für unsere | |
| Zukunft übernehmen. Wegdrücken geht nicht.“ Slow-Food-Gründerin Trofin | |
| könnte dem sicher zustimmen. | |
| 25 May 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine Herre | |
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