# taz.de -- Gezi-Prozess in der türkischen Provinz: Roter Schal? 98 Jahre Knas… | |
> In Antalya werden einer Aktivistin die Teilnahme an den Protesten und | |
> Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. | |
Bild: Ayşe Deniz Karacagil: üppige Vorwürfe, spärliche Beweise. | |
BERLIN | Bis zu 98 Jahre Haft fordert die Staatsanwaltschaft im | |
südtürkischen Antalya für Ayşe Deniz Karacagil. Die Vorwürfe sind üppig: | |
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Widerstand gegen die | |
Staatsgewalt, Sachbeschädigung, Verstoß gegen das Versammlungsrecht. | |
Weniger üppig sind die Beweise. In der Anklageschrift, die der taz | |
vorliegt, wird der 20-Jährigen vorgeworfen, sie habe bei den Gezi-Protesten | |
im Sommer vorigen Jahres einen roten Schal getragen und sich damit | |
vermummt. Im Übrigen sei Rot die Farbe des Sozialismus, mithin Beleg ihrer | |
Zugehörigkeit zur verbotenen maoistischen Organisation MLKP. | |
Bei einem der Mitangeklagten stützt sich derselbe Vorwurf darauf, dass bei | |
ihm eine Karte für den öffentlichen Nahverkehr von Ankara gefunden wurde. | |
Weitere Beweise: Rucksäcke und Gasmasken. Für die anderen Angeklagten – | |
drei Männer und eine Frau, alle um die zwanzig Jahre alt – fordert die | |
Anklage Haftstrafen zwischen elf und 95 Jahren. | |
„Das heißt nicht, dass wir mit einem Urteil in dieser Höhe rechnen“, sagt | |
Karacagils Verteidiger Hakan Evcin im Gespräch mit der taz. „Die haben | |
einfach die Strafmaße für die einzelnen Tatbestände zusammengerechnet.“ | |
Dennoch sei die hohe Strafforderung nicht sinnlos: „Es geht um | |
Einschüchterung.“ Anklagen mit „solchen absurden Beweisen“ erinnern ihn … | |
die neunziger Jahre. Zwischendurch hätten solche Fälle etwas abgenommen, | |
zuletzt sei die Entwicklung wieder rückläufig. „Letztlich muss man sagen, | |
dass sich unter der AKP-Regierung nichts verbessert hat“, meint Evcin. | |
## Keine Zeugen, keine Fotos | |
Ayşe Deniz Karacagil und ihre vier Mitangeklagten waren Anfang Oktober bei | |
Razzien festgenommen worden und verbrachten danach vier Monate in | |
Untersuchungshaft. Die einzigen konkreten Beweise gegen Karacagil sind | |
Fotos, die sie vermummt und beim Barrikadenbau zeigen. „Die Vermummung war | |
ein Schutz vor dem Tränengas. Und Barrikaden aus Mülltonnen haben die Leute | |
gebaut, um sich vor der Polizei zu schützen“, meint der Anwalt. | |
Zeugenaussagen, dass Karacagil Steine geworfen hätte, gibt es nicht, auch | |
keine entsprechenden Fotos. | |
Abgesehen von der Terrororganisation stehen alle Vorwürfe gegen seine | |
Mandantin im Zusammenhang mit den Protesten Mitte September. In | |
verschiedenen Städten der Türkei gingen damals Menschen auf die Straße, | |
weil in Antakya der Demonstrant [1][Ahmet Atakan ums Leben gekommen] war. | |
Die Umstände seines Todes sind bis heute nicht aufgeklärt. „Wegen dieser | |
Proteste ist Karacagil in drei verschiedenen Verfahren angeklagt“, sagt der | |
Anwalt. Das sei rechtswidrig. | |
„Ayşe Deniz geht es den Umständen entsprechend gut“, sagt ihr Vater Ömer | |
Faruk Karacagil im Gespräch mit der taz und bittet um Verständnis, dass | |
seine Tochter derzeit nicht öffentlich reden wolle. Sie habe sich nicht | |
erst mit den Gezi-Protesten politisiert, sondern sei vorher schon ein | |
politisch aktiver Mensch gewesen, aber nur in legalen Vereinen wie den | |
„Volkshäusern“ (Halkevleri). „Sie will Malerei studieren und hat gerade … | |
erste Runde der Aufnahmeprüfung zur Universität bestanden“, erzählt der | |
Vater. Allerdings er ist nicht allzu zuversichtlich, dass das mit dem | |
Studium bald klapp: „Bei diesem Staat muss man mit allem rechnen. Und wir | |
rechnen damit, dass Ayşe Deniz verurteilt wird.“ | |
## Gezi in der Provinz | |
Antalya ist außerhalb als Tourismuszentrum bekannt. Aber Antalya ist auch | |
eine Großstadt mit einer Million Einwohnern und einer großen Universität. | |
Traditionell herrscht in der Stadt am Mittelmeer ein säkularer Lebensstil. | |
Zugleich hat Antalya in den vergangenen Jahren eine große Zuwanderung aus | |
zentral- und ostanatolischen Provinzen erfahren. Bei der Kommunalwahl Ende | |
März [2][gewann die AKP knapp] gegen die CHP, die zuvor die Stadt regiert | |
hatte. | |
In den ersten Tagen der Gezi-Proteste kam es damals in Antalya zu schweren | |
Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten. Türkische | |
Medien berichteten, dass sich der damalige CHP-Oberbürgermeister geweigert | |
habe, die Wasserwerfer der Polizei mit Wasser zu versorgen. Danach | |
beruhigte sich die Lage, tagelang campierten größtenteils junge Menschen | |
auf dem zentralen Cumhuriyet-Platz. Ein bisschen [3][Gezi-Gefühl in der | |
Provinz]. | |
Im Zusammenhang mit Gezi stehen in Antalya nun insgesamt 350 Personen vor | |
Gericht. Das Urteil im Verfahren gegen Ayşe Deniz Karacagil und ihre | |
Mitangeklagten ist für den 12. Juni angesetzt. Am selben Tag beginnt in | |
Istanbul der [4][Prozess gegen 26 Mitglieder] der Taksim-Solidarität, | |
darunter Vertreter der Architekten- und der Ärztekammer. Die | |
Staatsanwaltschaft fordert für sie [5][bis zu 29 Jahre Haft]. | |
4 Jun 2014 | |
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## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
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