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# taz.de -- Jahrestag der Gezi-Proteste: Menschenjagd am Taksim-Platz
> Ein Jahr nach den Gezi-Protesten ist die türkische Polizei brutal gegen
> Demonstranten vorgegangen. Islamisten konnten dagegen ungehindert
> demonstrieren.
Bild: Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Polizei diese Szene in ein Inferno…
ISTANBUL taz/afp | Nach der brutalen Niederschlagung von Protesten am
Samstag, dem ersten Jahrestag der Gezi-Proteste, ist die türkische Polizei
am Sonntag erneut gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen. In Ankara
setzte sie Tränengas und Wasserwerfer gegen mehrere hundert Demonstranten
ein. Zu der Kundgebung im Zentrum der türkischen Hauptstadt hatten sich
rund 500 Menschen versammelt. Sie wollten an die Tötung eines 26-Jährigen
Demonstranten genau ein Jahr zuvor erinnern. Er war von Polizisten
erschossen worden.
Schon am Samstagabend, kurz vor 19 Uhr, hatte in Istanbul der Versuch
begonnen, eine Demonstration zu formieren – zum Gedenken an die Opfer der
Proteste gegen die Zerstörung des Geziparks am zentralen Taksim-Platz am
31. Mai 2011. Obwohl Premier Recep Tayyip Erdogan mehr als 25.000
Polizisten aufgeboten hatte, um genau das zu verhindern, schafften es
einige hundert Leute, sich in der zum Platz führenden Fußgängerzone
niederzulassen, um dort friedlich der acht Toten zu gedenken.
Es dauerte allerdings nur wenige Minuten, bis die Polizei die Szene in ein
Inferno verwandelte. Ganze Rudel von Beamten in Zivil stürzten sich auf
einzelne Demonstranten, während ihre uniformierten Kollegen Salven von
Tränengaspatronen verschossen und mit ihren Wasserwerfern in die
Fußgängerzone mitten in der Stadt rasten.
Zum selben Zeitpunkt, nur wenige Kilometer entfernt, demonstrierten in der
Altstadt Tausende Islamisten gegen Israel – völlig ungehindert. Auch hier
war der Anlass ein Jahrestag: Vor vier Jahren hatte die israelische Armee
die „Mavi Marmara“ gestürmt und dabei neun Aktivisten getötet, als das von
Islamisten gecharterte türkische Schiff die Blockade des Gazastreifens
durchbrechen wollte.
Doch während die Polizei rund um den Taksim-Platz Jagd auf Demonstranten
machte, konnten die Erdogan-treuen Israelhasser unter der Protektion der
Regierung ungehindert ihre Parolen skandieren: „Mörder Israel, du wirst die
Rechnung bekommen“.
Der Tag hatte bereits mit einer spektakulären Aktion der Islamisten
begonnen. Im Morgengrauen, noch vor dem ersten Gebetsruf, versammelten sich
vor der Hagia Sophia, dem wichtigsten Wahrzeichen der Stadt, Tausende
Gläubige, um die Umwidmung des 1.500 Jahre alten christlichen und später
islamischen Gotteshauses, das seit 1923 ein Museum ist, in eine Moschee zu
fordern. Zu der Demonstration hatte eine anatolische Jugendorganisation und
die islamische Wohlfahrtsorganisation IHH aufgerufen – dieselbe, die vor
vier Jahren die „Mavi Marmara“ nach Gaza geschickt hatte.
## Demos verboten
Während die Islamisten ihre Anhänger seit dem frühen Morgen im historischen
Stadtteil Sultanahmet versammelten, begannen Sicherheitskräfte, auf der
anderen Seite des Goldenen Horns, im Zentrum des modernen Istanbuls, den
Taksim-Platz abzusperren.
Offiziell waren am Samstag alle Demonstrationen verboten. Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdogan machte am Mittag bei einer Rede vor Anhängern in einem
Vorort von Istanbul noch einmal deutlich, die Polizei habe „exakte
Anweisung“, das Demonstrationsverbot gegenüber den Gezi-Anhängern
kompromisslos durchzusetzen.
So glich der Taksim-Platz am Mittag einem Heerlager der Polizei.
Wasserwerfer, schweres Räumgerät und Löschfahrzeuge standen bereit,
Hunderte Polizisten sicherten den Platz. In der zum Platz führenden
Flaniermeile Istiklal Caddesi bereiteten sich unterdessen Hunderte
Zivilpolizisten auf ihren Einsatz vor. An jeder Straßenecke hockten sie:
verwegen aussehende Männer mit Plastiktüten, aus denen die Griffe von
Schlagstöcken herausragten.
Am Nachmittag sperrte die Polizei dann auch die Zufahrtswege zur Istiklal
Caddesi. Der U-Bahn-Verkehr wurde eingestellt und die Fähren, die den
asiatischen mit dem europäischen Teil der Stadt verbinden, durften nicht
mehr fahren. Die Spannung war so groß, dass die Zivilpolizei schon lange,
bevor überhaupt nur der Anschein einer Demonstration entstand, auf den
Korrespondenten von CNN, Ivan Watson, losging und ihn vorübergehend
festnahm – nur um einen kurzen Stimmungsbericht vom Taskim-Platz zu
verhindern.
Trotz des Massenaufgebots der Polizei gelang es um kurz vor 19 Uhr dann
doch mehreren hundert Anhängern der sogenannten Taksim-Plattform, sich in
der Fußgängerzone niederzulassen, um friedlich an die Toten der
Gezi-Proteste zu erinnern. Ursprünglich hatte die Plattform, ein
Zusammenschluss von mehr als 60 Bürgerinitiativen, vorgehabt, eine kurze
Erklärung abzugeben. Doch ihre Sprecherin Mücella Yapici, eine 63-jährige,
schmächtige, blonde Architektin, die immer mehr zum Gesicht des Widerstands
wird, wurde von den Wasserwerfern genauso weggefegt wie ihre Freunde und
Kollegen.
Dann beherrschten Jagdszenen übelster Art über Stunden die Innenstadt, aber
auch die anderen säkularen Hochburgen Istanbuls, Besiktas und Kadiköy, wo
ebenfalls Tausende Gezi-Anhänger trotz massiver Polizeipräsens versuchten,
einen Demonstrationszug zu formieren. Auch in Ankara, Izmir, Adana und
anderen Städten wollten sich viele das Protestieren nicht verbieten lassen.
Überall glichen sich die Bilder: Tränengas, Wasserwerfer, prügelnde
Polizisten und fliehende Demonstranten. Allein in Istanbul wurden rund 150
von ihnen festgenommen und Dutzende verletzt.
## Die Lautsprecher der Islamisten stellte die Stadt zur Verfügung
Wer sich dagegen unterhalb des Taksim-Platzes in die Straßenbahn setzte und
knapp zwanzig Minuten zur anderen Seite des Goldenen Horns fuhr, erlebte
eine komplett andere Aufführung: Bei den Islamisten rund um die berühmte
Blaue Moschee herrschte geradezu ausgelassene Demonstrationsstimmung.
Tausende bärtige Männer und Frauen im schwarzen Tschador schwenkten
palästinensische Fahnen und brüllten ihre anti-israelischen Parolen. Aus
den Lautsprecherwagen, die ihnen die Bezirksverwaltung der Altstadt zur
Verfügung gestellt hatte, dröhnte dazu ein Song mit dem Refrain: „Schlag,
schlag den Zionismus“. Polizei war weit und breit nicht zu sehen.
Der Kontrast zwischen der Menschenjagd in Beyoglu und der Volksfeststimmung
auf der Islamistendemonstration hätte nicht größer sein können. Wenn es
noch eines deutlichen Zeichens bedurft hätte, wohin Ministerpräsident
Erdogan die Türkei steuern will – der doppelte Jahrestag hat auch dem
letzten Bürger klargemacht, wohin die Reise geht.
Wie um das zu bestätigen, erschien Erdogan dann am Samstagabend um 23 Uhr
plötzlich auf den Bildschirmen der Nachrichtensender. In einer kurzen Rede
verurteilte der Premier die „terroristischen Aktivitäten“ der
Gezi-Demonstranten, lobte seine prügelnden Polizisten – und kündigte an, ab
dem Tag der Präsidentenwahl am 10. August würde für die Türkei eine neue
Epoche beginnen. Wie die aussehen soll, konnte man am Samstag schon sehen.
1 Jun 2014
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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