| # taz.de -- Flughafen im Wohngebiet: Das Blut vibriert | |
| > Fluglärm ist wie Tinnitus: Man muss ihn ignorieren, sonst wird er immer | |
| > lauter. Deshalb ist der Protest der Tegel-Anwohner so kraftlos. | |
| Bild: Der Ton schwillt an. Wird laut. Krachend. Wird noch lauter. Knallend. Ist… | |
| Denkpause – das Wort ist so schön. Aber wie geht sie? Selbst im Suff | |
| philosophieren die Leute, im Schlaf träumen sie. Aber es gibt eine | |
| Versuchsanordnung, die das Denken beendet: Man muss die Probanden nötigen, | |
| dafür in der Einflugschneise eines Flughafens zu wohnen. | |
| Bevor sie dort die startenden, landenden Flugzeug hören, spüren sie sie. | |
| Die Flüssigkeit im Glas, das sie in der Hand halten, beginnt zu vibrieren. | |
| Dann schwillt der Ton schon an. Wird laut. Krachend. Wird noch lauter. | |
| Knallend. Ist am lautesten. Reißend. Schwillt ab. Erst brummend, dann | |
| dumpf. Auf dem Höhepunkt stocken Gespräche, mitten im Satz, und es stoppt | |
| das Denken. | |
| In Berlin gibt es diese Versuchsanordnung in Echtzeit, denn gleich hinter | |
| dem Zaun am Flughafen Tegel beginnt das Wohngebiet. Hunderttausende Leute | |
| leben dort. Seit Jahren wird ihnen versprochen, dass es aufhört. Es hört | |
| nicht auf. | |
| Aber, aber. Wozu über den Flughafen Tegel jammern, wo man über den neuen | |
| Flughafen BER, der in Berlin gebaut wird, so gut lachen kann. Da ist diese | |
| Postkarte mit Ulbricht. In der Sprechblase steht: „Niemand hat die Absicht, | |
| einen Flughafen zu bauen.“ Sie kursierte, nachdem klar war, dass der | |
| Eröffnungstermin im Juni 2012 nicht gehalten werden kann. | |
| ## Futur III | |
| Sehr gelungen auch die Erfindung des Futur III, nachdem ein Jahr später | |
| nicht mehr nur die Eröffnungstermine abgesagt wurden, sondern auch die | |
| Termine für die Ankündigung eines Eröffnungstermins. Bisher hätten, sagen | |
| die Erfinder des Futur III, die vorhandenen Zeitformen Futur I und Futur II | |
| prima ausgereicht – um Ereignisse, die in der Zukunft passieren oder | |
| passiert sein werden, zu beschreiben. | |
| Nunmehr aber bedürfe es einer neuen Zeitform, die sprachlich jenes Ereignis | |
| fasse, „das höchstwahrscheinlich nicht eintrifft, weil es ohnehin | |
| verschoben wird, nach offizieller Sprachregelung aber eigentlich zutreffen | |
| müsste“. „Nächstes Jahr um diese Zeit werde ich gerade meine Koffer beim | |
| Check-in aufgegeben hätten gehabt“, ist ein Beispiel. Nur in dieser | |
| Zeitform sind Gespräche über den neuen Berliner Flughafen BER möglich. | |
| Nicht ganz klar ist, ob es nicht sogar eines Futur IV bedarf, denn | |
| inzwischen werden selbst die Termine, an denen Termine für | |
| Eröffnungstermine verkündet werden sollen, verschoben. | |
| Neuerdings wird diskutiert, dass es einen Haufen Leute gibt, die von der | |
| Verschiebung profitieren: Unternehmensberater, Bauüberwacher, alle | |
| eigentlich. Der Korruptionsskandal um den Ex-Technikchef Jochen Großmann | |
| hat es an den Tag gebracht. | |
| Niemand unterstellt Klaus Wowereit, dem Aufsichtsratsvorsitzenden der | |
| Flughafengesellschaft und Regierenden Bürgermeister Berlins, der Ende 2011 | |
| bereits die Eröffnungsparty plante, mit ungeheurem Bombast, dass er nichts | |
| lieber hätte, als dass der Flughafen BER „eröffnet hätte gehabt“ (Futur | |
| III). Aber als sich dies als Illusion herausstellte, entstand nicht der | |
| Eindruck, dass ihn das sehr belaste. | |
| ## Kein Geld für Schulen | |
| Belastet sind andere: jene, die mit dem Niedergang der sozialen | |
| Infrastruktur in Berlin zurechtkommen müssen. Geld für den unfertigen | |
| Flughafen ist da, Geld für Schulen, Bibliotheken, Schwimmbäder und | |
| Jugendarbeit immer weniger. | |
| Und belastet sind eben auch jene, die ungeschützt den Lärm des Flughafens | |
| Tegel in Berlin abbekommen, der mitten im Wohngebiet liegt und die | |
| Hauptlast des Flugverkehrs trägt, solange es den BER nicht gibt. Wenn | |
| Wasser im Glas vibriert, vibriert auch das Blut. Eine Novellierung des | |
| Fluglärmgesetzes von 2007, das abgesenkte Lärmpegel rund um Flughäfen | |
| festschrieb, schloss in einem Zusatzpassus dezidiert jene Menschen aus, die | |
| in der Nähe eines Flughafens leben, der innerhalb der nächsten zehn Jahre | |
| schließt. | |
| Gemeint war der Flughafen Tegel. Man nennt dieses Gesetz auch „Lex Tegel“. | |
| Das muss man sich vergegenwärtigen: Es gibt ein schützendes Gesetz – man | |
| hat ja eingesehen, dass Lärm krank macht –, aber man schließt etwa | |
| dreihunderttausend Leute davon aus. Mitgefühl Fehlanzeige. Niemanden | |
| juckt’s. Und rechtlich sei das okay, wie das Oberverwaltungsgericht Berlin | |
| gerade beschied. Fluglärm ist der Tinnitus Berlins. Ein Alarmsignal. | |
| Die Anwohnenden von Tegel wehren sich nicht. Manche sind verzweifelt, und | |
| ihre Proteste sind es auch. Man kann sich nicht wehren, wenn man Fluglärm | |
| ausgesetzt ist. Wer sich wehrt, regt sich darüber auf. Wer sich darüber | |
| aufregt, kann es nicht aushalten. | |
| Die Menschen dort sind geschlagen – Flugzeuge, die über einem starten und | |
| landen, sind wie Schläge. Dass Fluglärm, wie Untersuchungen belegen, | |
| Bluthochdruck, Konzentrationsschwächen, Schlaflosigkeit verursacht, krank | |
| und dumm macht, müssen die Leute, die in Einflugschneisen leben, hinnehmen, | |
| wenn sie sich einen Wegzug nicht leisten können – oder zu alt und zu krank | |
| dafür sind. | |
| Fluglärm ist wie Tinnitus, körperlich, jeder spürt ihn für sich. Man muss | |
| ihn ignorieren, sonst wird er immer lauter. Deshalb auch ist der Protest | |
| der Betroffenen rund um den Flughafen Tegel so kraftlos. | |
| ## Erlernte Hilflosigkeit | |
| Dem Berliner Senat und Wowereit kommt diese Abgestumpftheit entgegen. Und | |
| die Schlechtmeldungen vom BER verstärken sie noch. Als würden den Menschen | |
| ständig Kirschen vor den Mund gehalten, und genau dann, wenn sie zugreifen | |
| wollen, werden sie weggezogen. Operante Konditionierung mit negativem | |
| Ausgang. Geschlagene ergeben sich dem Geschlagenwerden. Manche nennen das | |
| auch: erlernte Hilflosigkeit. | |
| Ganz anders die Anwohnenden rund um den neuen Flughafen BER. Sie haben | |
| etwas zu verlieren, Ruhe nämlich. Und gleichzeitig haben sie noch die | |
| nötige Ruhe, um zu kämpfen, gegen den Krach, der ihnen droht. Sie sind | |
| stark, gut vernetzt, laut. Und sie haben viel erreicht: den besten | |
| Lärmschutz, den ein Flughafen in Deutschland je hatte. Während man den | |
| Leuten rund um den Flughafen Tegel einen angemessenen Schallschutz | |
| verweigert, obwohl der Flughafen dort vielleicht nie geschlossen wird, wird | |
| er rund um den neuen Flughafen BER eingebaut, obwohl es so scheint, als | |
| werde dieser nie fertig. | |
| ## Der Protest schläft ein | |
| Und jetzt eine Behauptung: Bis zu den Wahlen in Brandenburg in diesem | |
| September wird es auch keine Positivmeldungen vom Flughafen BER geben. Denn | |
| solange sich der Eindruck verfestigt, der BER sei ein Fall fürs Futur III, | |
| eine Luftnummer, schläft der Protest rund um den BER ein, obwohl eine | |
| Forderung der Flughafengegner unerfüllt ist: eine verbriefte Nachtruhe | |
| zwischen 22 und 6 Uhr. | |
| Der eingeschlafene Protest kommt Brandenburgs Ministerpräsident Woidke, der | |
| wiedergewählt werden will, zupass. Seine Doppelzüngigkeit in Sachen | |
| Nachtflugverbot, jaja, er ist für Nachtflugverbot, aber neinnein, Berlin | |
| und der Bund seien eben dagegen, bringt ihn nicht in die Bredouille, wenn | |
| alle glauben, dass vom BER ohnehin nie ein Flieger abhebt. | |
| Mehdorn liefert die Schlechtmeldungen vom BER in Folge: die | |
| Brandschutzanlage, die Kosten, das Personal. Erfolgsmeldungen dagegen | |
| werden vermieden. Dass 39 der 40 Gebäude dort seit Kurzem baurechtlich | |
| abgenommen sind, drang nicht als Freudenmeldung ins Ohr. Der Eindruck, dass | |
| das Ding nie fertig wird, scheint also nützlich, bis die Wahl in | |
| Brandenburg über die Bühne ist. | |
| Danach aber müsste sich das Blatt wenden. Besser: müsste sich das Blatt | |
| gewendet würde haben. Denn in Berlin sind in zwei Jahren Wahlen. Und da | |
| kann Wowereit nur einen Blumentopf gewinnen, wenn er den Berlinern klar | |
| macht: Der Flughafen BER wird ein Erfolgsding. Kann sein, dass der | |
| Flughafen auch bis zur Berlinwahl noch immer nicht eröffnet ist, aber bis | |
| dahin wird alles getan, alle glauben zu machen, dass es geschieht, und dass | |
| der BER wunderbar wird. Denn: Wenn der Pfusch am Bau nicht bald aufhört, | |
| wird Klaus Wowereit die längste Zeit Regierender Bürgermeister Berlins | |
| wären gewesen. Im Ohr pfeift es schon. | |
| 20 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
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