| # taz.de -- 100. Montagsdemo in Frankfurt: Der Lärm und ich | |
| > Bei der 100. Montagsdemo gegen Fluglärm in Frankfurt wird auch unser | |
| > Autor protestieren. Aber muss er deshalb auf das Fliegen verzichten? | |
| Bild: Eine europaweite Studie zeigt, dass besonders nächtlicher Fluglärm gesu… | |
| Ich bin Leidtragender – und Nutznießer. Es ist ein klassisches Dilemma: | |
| Muss ich, weil ich die Auswirkungen von etwas kritisiere, auch auf dessen | |
| Vorzüge verzichten? Darf ich mich über Fluglärm beschweren und gleichzeitig | |
| in den Urlaub fliegen? | |
| Es ist auch ein kollektives Dilemma, zumindest für die unzähligen | |
| Betroffenen, über deren Häusern sich die Lärmschneisen der Republik | |
| entlangziehen – und die gleichzeitig entweder in puncto Mobilität oder | |
| ökonomisch vom Flughafen profitieren. Oder, weil sie im Winter gerne | |
| Erdbeeren essen. So weit reichen die Verstrickungen in unserer | |
| globalisierten Welt. | |
| Sie reichen bis in die Schlafzimmer der Menschen. Wenn der Lärm des einen | |
| Flugzeugs sich gerade in der Weite des Raums verloren hat, donnert schon | |
| die nächste Maschine im Tiefflug über Wohnhäuser, Schulhöfe und | |
| Schwimmbäder. | |
| Manche Orte sind besonders stark betroffen, etwa rund um Deutschlands | |
| größten Flughafen in Frankfurt am Main. Die Menschen in Offenbach, im | |
| Frankfurter Süden oder in den vielen anderen lärmgeplagten Kommunen können | |
| an Sommertagen ihre Fenster nicht öffnen, Flugzeuge fliegen teils in | |
| wenigen hundert Metern Höhe über die Dächer, ein Gespräch im Freien wird im | |
| Minutentakt unterbrochen. | |
| Dies ist auf meiner Terrasse bloß bei ungünstigem Wind der Fall, und | |
| geweckt werde ich von Flugzeugen nur selten. Ich wohne lediglich am Rande | |
| einer Anflugschneise, nicht direkt darunter. Dennoch: Der Fluglärm nervt | |
| auch mich gewaltig! Über der Metropolenregion Rhein-Main mit mehreren | |
| Millionen Einwohnern starten und landen jeden Tag rund 1.300 Flugzeuge. Die | |
| machen eine Menge Lärm, dem man kaum ausweichen kann – und der laut | |
| einschlägigen Studien krank macht. Auch ich kann deutlich spüren, wie der | |
| Lärm meine Nerven terrorisiert. | |
| Doch soll ich deshalb auf das Fliegen verzichten? In drei Stunden | |
| reibungslos nach Marokko. Oder nach Kreta. Meine Urlaubsplanung ist in | |
| vollem Gange, und soll es nicht der Schwarzwald oder die Nordsee sein, dann | |
| ist Fliegen eine echt gute Option. Was Neues sehen, mobil sein – und vor | |
| allem: schnell sein. | |
| ## Zweimal pro Jahr ist zu viel | |
| Immerhin, ich fliege nur selten. Dennoch ist dies keineswegs ein Ausweg aus | |
| dem Dilemma, denn wenn jeder Bundesbürger so wie ich nur zweimal pro Jahr | |
| ein Flugzeug besteigen würde, gäbe es in etwa so viele Fluggäste wie bisher | |
| – und damit kaum eine Flugbewegung weniger, also den gleichen Lärm, die | |
| gleiche Taktung, wenn ein Flugzeug nach dem anderen von den frühen | |
| Morgenstunden bis fast um Mitternacht unaufhörlich am Himmel | |
| entlangdonnert. | |
| Ist der Lärm also ein Teil von mir, den ich nicht mag, der aber eben | |
| notwendigerweise da ist, weil ich eben fliegen will? Muss ich also | |
| schweigen? | |
| Diese Entweder-oder-Rhetorik – entweder ich verzichte auf das Vergnügen | |
| oder auf die Kritik – kommt einer Zensur gleich, die den Widerstand mundtot | |
| zu machen versucht. Ebenso wie wenn Fluglobbyisten die Demonstranten, die | |
| nun zum 100. Mal montags am Frankfurter Flughafen ihren Protest kundtun, | |
| als wohlhabende Wutbürger denunzieren. Solche Rhetorik betont einseitig die | |
| Verantwortung der KonsumentInnen und lenkt von der politischen Ebene ab. | |
| Es sind zwei große Argumente, mit denen der Ausbau der Flughäfen sowie die | |
| Steigerung der Kapazitäten gerechtfertigt werden: Erstens mit der | |
| angeblichen Funktion der Luftfahrt als ökonomischem Heilsbringer. Dafür | |
| sollen die Betroffenen eben Opfer bringen, so wie für eine neue Bahntrasse | |
| oder die Energieversorgung. | |
| Doch stimmt das? Im Falle des Frankfurter Airports, der bei jeder | |
| Gelegenheit von seinen Befürwortern als „Jobmotor“ beschrien wird, fand ich | |
| dies einst plausibel. Nach einer mehrmonatigen Recherche bezüglich der | |
| [1][wirtschaftlichen Folgen des Flughafenausbaus in Frankfurt] blieb davon | |
| nicht mehr viel übrig: Ein paar schöngerechnete Studien, viel heiße Luft – | |
| und der politische Wille, das Drehkreuz Flughafen trotz eines Rückgangs der | |
| Flugbewegungen auf Kosten von Mensch und Natur auszubauen. | |
| Seit dieser intensiven Beschäftigung mit dem Thema Flughafen und seinen | |
| Auswirkungen (kaum neue Jobs, aber Lärmbelastung und Umweltverschmutzung) | |
| stören mich die Maschinen am Himmel noch mehr – und ich kann sie noch | |
| seltener ignorieren. Wie schön sind die Erinnerungen an Pilotenstreiks oder | |
| Vulkanausbrüche – an einen Himmel ohne Flugzeuge also. Als Betroffener, | |
| nicht als Fluggast. Darauf zielt das zweite große Argument pro Luftfahrt: | |
| die Nachfrage, also das Bedürfnis, fliegen zu wollen. Damit bin auch ich | |
| gemeint. | |
| ## Billig, also attraktiv | |
| Doch man muss diese Bedürfnisse nicht als „falsch“ oder „echt“ | |
| klassifizieren, um ihre politische Dimension zu sehen: Das Angebot bestimmt | |
| eben auch die Nachfrage. Das Umweltbundesamt – Deutschlands zentrale | |
| Umweltbehörde – spricht von „umweltschädlichen Subventionen“ für den | |
| Flugverkehr von jährlich rund 11,5 Milliarden Euro. | |
| Der Staat sorgt also „zu Lasten anderer umweltfreundlicherer | |
| Verkehrsmittel“ dafür, dass Fliegen weiterhin billig bleibt – und damit | |
| attraktiv. Dies entlässt uns aber nicht aus der Verantwortung, denn es geht | |
| um das Bewusstsein, nicht mehr – nach Adorno – „unter irrem Zwang auf | |
| fremde Sterne einzustürmen“. Somit geht es in unserer | |
| Wohlstandsgesellschaft wohl auch um Verzicht. | |
| Zumindest den Weg von Kreta nach Hause werde ich in diesem Jahr nicht | |
| fliegen, sondern auf dem Landweg zurücklegen. Aus Prinzip. Und des | |
| Abenteuers wegen. Doch dafür braucht man eines der knappsten Güter unserer | |
| Zivilisation: Zeit. Die haben nicht alle, und vor allem: nicht immer. | |
| Und da liegt das nächste Problem: Die in den letzten Jahrzehnten sprunghaft | |
| gestiegenen Möglichkeiten der Mobilität und des Konsums sowie die | |
| Anforderungen der Arbeitswelt schaffen Bedürfnisse und Notwendigkeiten, für | |
| die man meist nur sehr begrenzte Zeit, Energie und Geld zur Verfügung hat | |
| und sie deshalb „ökonomisch“ gestalten muss. Fast Food statt Slow Food, | |
| kaufen statt selbst machen, schnelles Reisen statt Trampen oder Zugfahren. | |
| Es ist also auch ein produziertes Dilemma. | |
| Es ist der moderne Fordismus, der Konsum gehört zur Arbeit und beides | |
| strukturiert das Leben. Außer durch die Einsiedelei kann sich ein Einzelner | |
| nicht aus diesem (Re-)Produktionskreislauf herausnehmen, zumindest nicht | |
| vollkommen. So wenig wie sich die Widersprüchlichkeit vollständig ausmerzen | |
| lässt. | |
| Ich werde weiterhin vom Fluglärm genervt sein und auf der 100. Montagsdemo | |
| dagegen protestieren. Ein paar Tage später geht der Flieger nach Kreta. | |
| 19 May 2014 | |
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| ## AUTOREN | |
| Timo Reuter | |
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