# taz.de -- Dimitri Verhulsts Buch über Demenz: Hätte er sich doch scheiden l… | |
> Es gibt schon seltsame Arten, der häuslichen Ehehölle zu entkommen: Der | |
> Schriftsteller Dimitri Verhulst legt die wohl erste Demenz-Posse vor. | |
Bild: „Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau�… | |
Man denkt unwillkürlich an Oliver Sacks’ „Der Mann, der seine Frau mit | |
einem Hut verwechselte“. Der Neurologe Sacks legte vor nahezu dreißig | |
Jahren mit seiner Beschreibung tragikomischer Symptome neurologischer | |
Erkrankungen ein populärwissenschaftliches Buch vor, das sich spannend wie | |
ein Roman las und nicht von ungefähr von Peter Brook für das Theater | |
adaptiert wurde. Der flämische Schriftsteller Dimitri Verhulst nun wartet | |
mit einem Roman auf und widmet sich den unter dem Begriff „Demenz“ | |
subsumierten neurologischen Verfallserscheinungen, indem er einen | |
Laiendarsteller in den Mittelpunkt stellt, der das alles nur spielt. | |
„Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau“ | |
liest sich, als hätte eine Komödie daraus werden sollen. Dass es so kommt, | |
hängt damit zusammen, dass ein gewisser Désiré Cordier im zarten Alter von | |
siebzig Jahren einem lebenslangen Martyrium mit der Vortäuschung eines | |
anderen Martyriums zu entkommen versucht. Er hat die Ehehölle mit einer | |
Gattin satt. Also beschließt er, die Symptome einer Demenz zu performen. | |
Ist er dann in einer entsprechenden Einrichtung untergebracht, wendet er | |
alle darstellerische Fantasie auf, um wie ein getriebener Demenzkranker | |
durch die Gegend zu irren und später wie ein erinnerungsloser Mensch zu | |
dämmern. | |
Dimitri Verhulst ist wohl der Erste, der dieses tragische und | |
sozialpolitisch so brisante Krankheitsbild komödiantisch anzugehen wagt. | |
Dass er sich kundig gemacht hat, kann man ihm nicht absprechen. Er kennt | |
das Symptompanorama der Demenz. Wirklich für das Innenleben seines | |
Protagonisten interessiert hat er sich aber nicht. Das hat zur Folge, dass | |
Désiré Cordier als Figur die leblose Hülle ist, die er gegen Ende des | |
Romans im Heim für Demenzkranke spielt. Da sitzt er dann, während er sich | |
in der Zurückgezogenheit der Erinnerungen immer wieder gewollt humorig | |
seinem Lieblingsthema widmet: der Gattin. | |
Das hört sich dann so an: „Wie viele Frauen litt auch die meine unter | |
chronischem Morbus Kaufrausch: kein Schuhgeschäft, an dem sie mit | |
uninteressiertem Wohlgefallen vorbeigehen konnte. […] Nahm man hinzu noch | |
die Tatsache, dass ihre Krankheit – wie in neun von zehn Fällen | |
wissenschaftlich erwiesen – mit manischer Handtaschitis einherging, so | |
konnte man sich vorstellen, dass unsere potentielle Wohnung bis auf den | |
letzten Quadratmeter mit Lederwaren vollgestopft sein würde.“ | |
An dieser Stelle geht es darum, dass das Ehepaar eigentlich das Landhaus | |
aufgeben und in eine kleinere Stadtwohnung umziehen müsste. Für Désiré ist | |
die Vorstellung eines Ehelebens auf ganz engem Raum aber derart | |
schrecklich, dass er sich fortan lieber dem Schauspiel der Demenz widmet. | |
Hätte er sich einfach scheiden lassen, wäre dem Leser einiges erspart | |
geblieben. | |
29 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Berger | |
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