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# taz.de -- Nachruf Oliver Sacks: Der Mann der anderen Perspektive
> Oliver Sacks war ein Autor mit missionarischem Eifer und Willen zum
> Wissen. Er war bis zuletzt neugierig auf das Leben.
Bild: „Das Gefühl hat, dass das eigene Werk getan ist“: Oliver Sacks.
Neulich noch, am 15. August, veröffentlichte er in der Sunday Review, dem
Kulturteil der [1][New York Times am Sonntag, einen Text, der mit dem
schlichten Wort „Sabbath“] betitelt ist. Wenn man so will war dies ein
bescheiden formuliertes, diskretes Requiem in eigener Sache. Gleichwohl
musste niemand zwischen den Zeilen lesen. Um den nahen Tod von dessen
Autor, Oliver Sacks, wusste das Publikums dieses Blatts: Der gelernte
Neurobiologe und Autor von intellektuell anspruchsvollen Bestsellern hatte
schon lange zuvor die, seine Öffentlichkeit über sein baldiges Sterben
informiert. Mancher mag gedacht haben: Der Tod ist ohnehin ein vulgäres
Ding, er nimmt alles und macht aus allem Nichts.
Bei Sacks wäre das krebsbewirkte Nichts ein besonderer Skandal: Kein
Intellektueller seiner Generation, kein Autor mit diesem missionarischen
Eifer am Willen zum Wissen und Zeigen war ein solcher Besessener in beinah
jedweder Hinsicht, was nur von Interesse sein könnte. Geboren 1933 in
London, jüngstes von vier Kinder einer mäßig orthodoxen jüdischen Familie
in London, studierte, ganz den Wünschen seiner Familie, Medizin,
interessierte sich gleichwohl während seiner Jahre am Queen’s College in
Oxford weniger für Orthopädisches, Chirurgisches oder für die Finessen des
Kardiologie.
Sacks‘ stärkste Aufmerksamkeit fiel auf das Feld der Neurophysiologie – auf
alles, was mit Abweichungen, auf Nerven, auf Anomalien, auf das, ließe sich
sagen, ganz und gar Menschliche. Erste wissenschaftliche Forschungen
widmete er der Europäischen Schlafkrankheit, später der Migräne – zu diesem
üblen Kopfschmerz schrieb er das erste seiner in Deutschland publizierten
Bücher.
Was Sacks von anderen Autoren aus der Medizin unterschied, war sein
verblüffend fesselndes Talent zum Erzählen. Hier – wie aus allen Büchern �…
sprach einer, der nicht in Worte und Sätze gefasste Wellnesskuren
verabreichte, sondern ein Essayist, der seinen Gegenstand für eine wollende
Leserschaft ausbreitete. Sacks wurde schließlich berühmt durch einen 1990
produzierten Film mit Robin Williams und Robert de Niro: „Zeit des
Erwachens“ war ein Kinokassenschlager.
## Stetig staunend
Oliver Sacks ist in einem intellektuellen Klima aufgewachsen, in dem ein
Subjektwissenschaftler wie Sigmund Freud und dessen Psychoanalyse ernst
genommen wurde. Laut Sacks, können Menschen meist sehr gut sagen, was sie
wirklich bedrückt.
Die persönliche Wahrheit eines Menschen ist nicht durch Stetoskope und
anderes medizinisches Besteck zu ermitteln, sondern allenfalls mit den
Patienten selbst. Sacks, ein stetig Staunender, guckte sich erstmal an, was
Menschen zu bieten haben. „Awakening“, so der Filmtitel im Original, machte
aus von der Medizin abgeschriebenen Patienten Sprechende, Ermöglichte:
Sacks, der sich gern mit Drogen beschäftigte und selbst sehr lange von
Amphetaminen abhängig war, wusste Menschen mit Tourette-Syndrom oder der
Asperper-Krankheit zu entstigmatisieren. Das vermochte er in seinen Büchern
wie etwa „Die Insel der Farbenblinden“ (1997), „Onkel Wolfram“ (2001),
„Stumme Stimmen“ (1989), vor allem aber in dem 1985 publizierten Buch „Der
Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“. Nur wenig, so Sacks,
gehöre dazu, dass eine kleine neurologische Kollision im Gehirn aus einem
Menschen einen anderen, trotzdem nicht weniger wahrhaftigen macht.
Er glaubte fest daran, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt – vielmehr
bilde sich das Universum in jedem Menschen in purem Eigensinn ab. Als
Mensch, als Arzt nehme man die Perspektive der anderen, Unverstandenen an.
Verschiedenheit eines jeden Menschen sei sprachlich zu erfassen, aus den
Botschaften, die ein jeder austrägt. Das Subjektive ließe sich nicht aus
organischen Befunden erschließen. Erst die Kunst des sprachlichen
Verstehens mache aus Medizin eine humane Disziplin.
Das war, auch ärztlich, eine Haltung zum Heilen und Verstehen, die sich
fundamental von allem Medizinischen unterschied, was Mainstream war –
klassischer Psychiatrie mit ihrem scheinsicheren Wissen von dem, was im
Gehirn los ist. Und eine krasse Opposition zu dem, was die
nationalsozialistische Medizin mit ihrem Verständnis von unnützem, unwertem
Leben exekutierte. Für Oliver Sacks, den man sich als ziemlich schüchternen
Optimisten vorstellen muss, war diese Medizin keine.
## Begeisterungsfähig, aber unbegabt für Smalltalk
In seinen Memoiren „On The Move“ (“Mein Leben“, 2015) erzählte er
öffentlich erstmals von seinem Schwulsein. Schockierend war es zu lesen,
dass seine Migration von London nach Nordamerika auch mit dem mütterlichen
Satz zu schaffen hat. Diese hätte ihn, hätte sie von seiner Homosexualität
gewusst, am liebsten nicht geboren. In Kanada und den USA lebte er
tatsächlich sein Begehrens, seine Kunst des Liebens eher wenig aus. Mehr
verlegte er sich auf Körperliches in sportiver Hinsicht. Fotos von ihm aus
den Fünfzigern und Sechzigern zeigen ihn glücklich auf Motorrädern, als
Schwimmer, als Gewichtheber, der einige Zeit lang kalifornischer
Rekordhalter war.
Er habe meist große Scheu vor Bindung gehabt, sei auch nie besonders
zuversichtlich gewesen – insofern war es ein Geschenk am Ende seines
Lebens, sich noch einmal verliebt zu haben. Mit Bill Hayes, Autor der New
York Times, lebte er in den letzten Jahren zusammen. Sacks, der seit
einiger Zeit an Leberkrebs erkrankte, hat irgendwie an allem Begeisterung
gefunden.
Er bleibt der Mann, der seine ihn in seiner Liebesfähigkeit ablehnende
Mutter überlebt, der Forscher und Performer, der Farne studierte,
Musikologischem anhing oder die einer Mondfinsternis, der völlig unbegabt
für Smalltalk war und dem Dünkel fremd war, schrieb in dem Text namens
„Sabbath“: „Und nun, schwach, kurzatmig, meine einst straffen Muskeln vom
Krebs weggeschmolzen, finden meine Gedanken zunehmend, nicht bei
Übernatürlichem oder Spirituellem, jedoch bei dem, was gemeint ist mit
einem guten und lohnenswertem Leben – den Sinn für den Frieden mit einem
selbst zu vollenden. Meine Gedanken wenden sich dem Sabbath zu, dem Tag der
Ruhe, der siebte Tag der Woche, und vielleicht ist dies der siebte Tag
eines jeden Lebens, wenn man das Gefühl hat, dass das eigene Werk getan ist
und man, in gutem Gewissen, ruht.“
Oliver Sacks ist Sonntag, 82 Jahre alt und in jeder Hinsicht noch neugierig
auf das Leben, in New York City gestorben. Er hinterlässt Freunde,
Familienangehörige – und seinen Lebensgefährten Bill Hayes.
30 Aug 2015
## LINKS
[1] http://www.nytimes.com/2015/08/16/opinion/sunday/oliver-sacks-sabbath.html
## AUTOREN
Jan Feddersen
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