# taz.de -- Kunstvermittlung für Demenzkranke: Immerzu Unvermutetes | |
> Am Frankfurter Städel startet ein Pilotprojekt für Menschen mit | |
> Alzheimer. Dabei werden Betroffene und Angehörige gleichermaßen | |
> einbezogen. | |
Bild: Patientinnen in einem Wohnheim für Alzheimerkranke halten sich die Händ… | |
Der Arzt Alois Alzheimer beschrieb als Erster die „Krankheit des | |
Vergessens“. An der Frankfurter Anstalt für Irre und Epileptische traf er | |
1901 seine berühmteste Patientin: Auguste Deter. Sie prägte einen Satz, der | |
Demenz schön in Worte fasst: „Ich habe mich sozusagen selbst verloren.“ Es | |
trifft sich also ausgesprochen gut, dass gerade das Frankfurter Städel | |
Schauplatz des Pilotprojektes „Artemis“ für Demenzkranke wird. | |
Patienten und Angehörige nehmen an Führungen teil und werden danach auch | |
selbst künstlerisch tätig. Dafür geschulte Kräfte bringen sie ins Gespräch | |
über Kunst, ihre Wirkung, Art und Weisen. | |
An diesem Morgen steht die Kunstvermittlerin Dagmar Marth vor dem Gemälde | |
„Carmencita“ des Impressionisten Lovis Corinth. Es zeigt seine aufgetakelte | |
Frau Charlotte. „Arrogant“, kommt es sofort von einer Teilnehmerin. „Sie | |
will zeigen, was sie hat“, vermutet ein anderer. Immer wieder beginnen die | |
Frauen und Männer ihre Sätze mit „Ich sehe“ oder „Ich sehe auch“. | |
Satzanfänge, die an Kinderspiele erinnern oder an Beschwörungen der eigenen | |
Imagination. Während eine Frau ganz vorne das Wort führt, sitzt neben ihr | |
ein Mann still in sich versunken und blickt beinahe ängstlich auf das | |
Gemälde. | |
Gemeinsam mit der Kunstvermittlerin wird es erkundet wie ein unentdeckter | |
Kontinent. Der Hauptunterschied in der Arbeit mit Demenzkranken besteht für | |
Dagmar Marth in der Unberechenbarkeit der Gruppe, immerzu geschieht | |
Unvermutetes: Einer lacht, eine singt, ein anderer bekundet plötzlich, | |
keine Lust mehr zu haben. Ähnlich wie bei kleinen Kindern, wobei man bei | |
denen darauf eingestellt sei. | |
## Gesellschaftliche Teilhabe | |
Das gemeinsam mit dem Arbeitsbereich Altersmedizin der Goethe-Universität | |
durchgeführte Projekt ist die erste umfassende wissenschaftliche Studie zur | |
interaktiven Kunstvermittlung und dem Potenzial von Kunsttherapie bei | |
Demenz. Die Idee dazu kam vom MoMA in New York, wo es ein ähnliches Projekt | |
mit Demenzkranken gab, wie Johannes Pantel, Leiter des Arbeitsbereichs | |
Altersmedizin, erläutert. | |
Im Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) fand er sofort einen | |
Verbündeten. Der kennt sich aus, leitete, bevor er Oberbürgermeister wurde, | |
ein Altenhilfezentrum und hat deswegen auch Erfahrung im Umgang mit | |
Demenzkranken und ihren Angehörigen. In der Vergangenheit wurde ihm oft | |
seine mangelnde Kulturbeflissenheit vorgehalten. Für dieses Projekt scheint | |
Feldmann indes der goldrichtige Schirmherr. „Das Alter gehört in die | |
Stadt“, fordert er, und das gerade auch in einer schönen, reichen, jungen | |
Stadt wie Frankfurt. In den In-Bezirken sehe man kaum Gruppen von alten | |
Menschen. | |
Gesellschaftliche Teilhabe aber habe nun einmal viel mit der Würde im Alter | |
zu tun. Eine Einschätzung, die man an diesem Morgen auch von Teilnehmern | |
der Studie hört. Etwa von dem Ehepaar aus Offenbach, das sich schon sein | |
ganzes Leben lang gerne miteinander Kunstwerke und Kirchen angeschaut hat. | |
„Wir wollen uns nicht verstecken“, sagt die Frau, während ihr demenzkranker | |
Mann immer mal wieder aus heiterem Himmel lacht. | |
Dann sagt er: „Wir sind schnell gemeinsam begeistert von einem Bild“ und | |
schaut verschwörerisch drein. Die gesellschaftliche Teilhabe ist der | |
Knackpunkt des Vorzeigeprojekts, das sich zur Nachahmung empfiehlt. Von | |
etwa 1,5 Millionen Demenzkranken in Deutschland geht man aus, sagt Pantel, | |
in Frankfurt rechne man mit rund 15 000. Und die Zahlen steigen. | |
## Subjektives Wohlbefinden | |
Für den Direktor des Städel, Max Hollein, eignet sich sein Museum auch | |
deswegen, weil es 700 Jahre Kunstgeschichte unter einem Dach vereint. Die | |
Studie ist auf zwei Jahre angelegt, insgesamt 120 Menschen sollen vor und | |
nach dem Museumsbesuch zu ihrer Stimmung und ihrem Gedächtnis befragt | |
werden. Alle Verantwortlichen versichern schon jetzt, das von der Familie | |
Schambach-Stiftung geförderte Projekt auch danach fortführen zu wollen. | |
Während für die Musiktherapie bereits Wirksamkeitsbelege vorliegen, stehen | |
sie für die Kunsttherapie noch aus. Pantel vermutet aber, dass das | |
subjektive Wohlbefinden der Patienten gesteigert, kognitive Prozesse | |
angeregt und die Beziehung zu den Angehörigen stabilisiert würden. In den | |
Ateliers des Städel werden die Teilnehmer dann selbst zu Künstlern. Zu | |
Vorgaben wie Familie, der Farbe Blau oder Collage malen, schöpfen und | |
kleben sie ihre Welt. Die Ergebnisse sind oft überraschend, mal sehr frei, | |
mal ausgeklügelt und spitzfindig, immer aber unberechenbar. | |
20 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Shirin Sojitrawalla | |
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