# taz.de -- Film über Alzheimererkrankung: Wenn die Worte fehlen | |
> Für Liebe gibt es ein Verstehen: In „Still Alice – Mein Leben ohne | |
> Gestern“ spielt Julianne Moore eine an Alzheimer erkrankte | |
> Linguistikprofessorin. | |
Bild: Es gibt keine größere Kränkung als den „Ich-Schwund“: Julainne Moo… | |
„Ich wünschte, ich hätte Krebs“, sagt Alice (Julianne Moore) an einer | |
Stelle in „Still Alice“. Wenn man ein – zugegebenermaßen etwas zynisches… | |
Quiz veranstalten wollte, könnte man diesen Satz herausnehmen und andere | |
raten lassen: Welche Krankheit ist es, die diese Frau noch schlimmer | |
findet? Die Antworten würden wahrscheinlich recht eindeutig ausfallen. | |
Denn Alzheimer – diese Diagnose bekommt Alice im Film von Richard Glatzer | |
und Wash Westmoreland – hat als existenzbedrohendes Schreckgespenst den | |
„Kaiser aller Krankheiten“ (Siddhartha Mukherjee) abgelöst. Und wer der | |
Frage nachgehen will, warum das so ist, für den bietet „Still Alice“ auf | |
unfreiwillige Weise gutes Anschauungsmaterial. | |
Dabei ist „Still Alice“ keine Fallgeschichte, sondern die Verfilmung eines | |
Romans. Der Neurowissenschaftlerin Lisa Genova ging es in ihrem 2007 | |
erschienenen und zum Bestseller aufgestiegenen Buch darum, das Schicksal | |
einer 50-jährigen Linguistikprofessorin mit dem eher seltenen „früh | |
einsetzenden“ Alzheimer aus ihrer Perspektive, als ihre Geschichte zu | |
erzählen. | |
Diese Akzentsetzung behält auch der Film bei, versucht aber gleichzeitig | |
wie in Checklisten-Form die gängigen Alzheimer-Symptome und -stadien | |
abzuarbeiten. Es beginnt mit Wortfindungsschwierigkeiten, dann fällt Alice | |
plötzlich beim Kochen ein altes Hausrezept nicht mehr ein. Der neuen | |
Freundin des Sohnes stellt sie sich zweimal vor, weil sie vergessen hat, | |
dass sie sich gerade schon begrüßt hatten. Und sie findet eine | |
Haarshampoo-Flasche im Kühlschrank. | |
## Alzheimer kann erblich sein | |
Der Arzt bestätigt kurz darauf nur, was der Zuschauer schon weiß und Alice | |
selbst eben nicht wahrhaben will. Die Diagnose geschieht mit amerikanischer | |
Präzision und zieht entsprechendes pragmatisches Handeln nach sich: Alice | |
hat die „erbliche“ Sorte Alzheimer, was für ihre Kinder bedeutet, dass sie | |
eine 50-Prozent-Wahrscheinlichkeit für die gleiche genetische Disposition | |
haben. | |
Auf dem nächsten Familienfest wird tränenreiche Aufklärung geleistet. Die | |
Kinder, alle im Erwachsenenalter, lassen sich prompt testen. Für die | |
älteste Tochter kommt die Nachricht gerade noch zur rechten Zeit, sie | |
möchte mit Hilfe von In-vitro-Fertilisation schwanger werden und kann so | |
ihre Embryos gezielt untersuchen lassen. | |
Von all diesen Dingen erzählt der Film in geradezu irritierender | |
Nüchternheit – Präimplantationsdiagnostik findet hier niemand problematisch | |
–, wobei der Wohlstand, der die Helden dieses Films wie selbstverständlich | |
umgibt, es möglich macht, eine Menge lästiger Themen einfach auszulassen. | |
Professorin Alice, verheiratet mit einem in der Forschung erfolgreichen | |
Mediziner (Alec Baldwin), muss sich in jedem Fall keine Sorgen machen, eine | |
angemessene Betreuung nicht bezahlen zu können. | |
## Die Katastrophe des Ich-Verlusts | |
Die Liebe ihrer Familie ist ihr sicher, was sonst. Die jüngste Tochter (von | |
Kristen Stewart als klassisch sensibel-rebellischer Familientrotzkopf | |
gespielt) ist passenderweise als arbeitsuchende Schauspielerin beruflich | |
wenig eingespannt und zieht am Ende zu ihr, um idyllische letzte Tage mit | |
einer dann nur noch still vor sich hin Lächelnden zu teilen. | |
Trotz dieser fast schon narzisstischen Blindheit fürs Soziale spricht für | |
den Film, dass er das große Pathos vermeidet und seine angeschlagene Heldin | |
nicht, wie andere Filme das mit Alzheimerkranken so gern tun, zum | |
Sprachrohr putziger letzter Weisheiten macht. Stattdessen versteht sich | |
„Still Alice“ (und das mittlerweile Oscar-prämierte Schauspiel von Julianne | |
Moore) als künstlerisches Einfühlen in die Katastrophe des Ich-Verlusts. | |
Ein Verlust, den der Film ganz ohne Scham als besonders für Intellektuelle | |
schwer zu ertragenden herausstellt: eine Linguistik-Professorin, die das | |
Sprechen verlernt – welch Ironie des Schicksals! | |
Zugleich verrät eben diese Tunnelblick-Perspektive, was Alzheimer zum | |
zentralen Schrecken unserer Zeit hat aufsteigen lassen: Es gibt hier und | |
heute keine größere Kränkung als den „Ich-Schwund“, als die Vorstellung, | |
nicht mehr Herr seines Lebens zu sein. „Still Alice“ endet mit der | |
tröstenden Note, dass wir, wenn wir nichts mehr verstehen, immer noch Liebe | |
verstünden. Abweichende Erfahrungen finden vorsorglich keinen Platz. | |
4 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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