| # taz.de -- Demenz: Herr Schulz verreist | |
| > Im Ostseebad Großenbrode erwartet das "Landhaus am Fehmarnsund" | |
| > Demenzkranke und deren Angehörige. Damit sie tatsächlich Urlaub machen. | |
| Bild: In der Anmutung norddeutscher Barock, in der Wirkung Energiequelle: das L… | |
| GROSSENBRODE taz | Ehepaar Schulz ist früher viel gereist. Nach Italien | |
| ging es mit dem Auto, mit dem Flieger nach Asien und Afrika. Nach | |
| Australien und Kanada reiste Renate Schulz allein, da wollte ihr Mann schon | |
| nicht mehr mit – eines der frühen Anzeichen dafür, dass etwas nicht | |
| stimmte. „Oh je, oh je“, sagt Lothar Schulz. Er sitzt am Tisch und schaut | |
| mit gerunzelter Stirn auf die Plättchen vor ihm, die es auf dem Spielbrett | |
| zu verteilen gilt. Der Raum ist in Blau-Weiß gehalten, leise Musik spielt. | |
| Sascha Franz, der neben Schulz sitzt, hilft ihm, einen Spielstein | |
| auszusuchen, dann ermuntert er Schulz’ Nachbarin Dorle Opitz, etwas Wasser | |
| zu trinken. Später werden sie ein wenig spazieren gehen, dann singen. | |
| Renate Schulz will an den Strand. Das Freizeitangebot ist überschaubar in | |
| Großenbrode, dem kleinen Ostseebad kurz vor der Brücke nach Fehmarn. Nur | |
| wenige Läden haben geöffnet, in den Cafés herrscht noch kein Betrieb. | |
| Dennoch machen die Schulzes hier Urlaub und Renate Schulz genießt jeden | |
| Tag. Denn das „Landhaus am Fehmarnsund“ ist ein Hotel der besonderen Art | |
| und bietet einen besonderen Luxus: Gemeinschaft mit Menschen in gleicher | |
| Situation. | |
| ## „Möhre für den Esel“ | |
| „Für mich waren diese Urlaube, was die Möhre für den Esel ist, ich habe | |
| darauf zugelebt“, sagt Beate Linde. Auch sie macht Urlaub in Großenbrode, | |
| allein – ihr Mann starb vor zwei Jahren. Er litt an einer frühen Form von | |
| Alzheimer, Beate Linde war erst 47, als sie die Diagnose erhielten. Danach | |
| bestimmte die Pflege des zunehmend hilflosen Mannes ihr Leben, heute gibt | |
| sie ihre Erfahrungen an andere Angehörige weiter. Über eine Beratungsstelle | |
| erfuhr sie von der Möglichkeit, mit ihrem Mann in den Urlaub zu fahren. | |
| Es ist ein vergleichsweise neues Konzept. 2005 eröffnete die | |
| Arbeiterwohlfahrt Westliches Westfalen das „Landhaus Fernblick“ in | |
| Winterberg im Sauerland, das erste Haus dieser Art in Deutschland. Seit | |
| Dezember gibt es mit dem „Landhaus am Fehmarnsund“, das ebenfalls von der | |
| Arbeiterwohlfahrt betrieben wird, das Angebot auch in Schleswig-Holstein. | |
| Zwischen 54 und 65 Euro kostet ein Doppelzimmer in der Hauptsaison. | |
| Für Beate Linde, die regelmäßig in Winterberg kurte, war das neue Haus ein | |
| Grund, in den Norden zu fahren. „Anfangs war das Misstrauen groß und das | |
| Interesse gering“, sagt Andreas Frank, Leiter der beiden Häuser. Verreisen | |
| mit Kranken, die Ruhe und immer gleiche Abläufe brauchen? Die von einer | |
| fremde Umgebung und neuen Personen überfordert sein könnten? | |
| „Oh Gott, oh Gott“, sagt Lothar Schulz im Garten des Landhauses. Es ist | |
| kühl, Regen droht. Schulz macht kehrt und marschiert zurück ins Haus, ein | |
| großer Mann, gewohnt zu bestimmen: Der heute 78-Jährige arbeitete im | |
| Rechenzentrum von Thyssen in Duisburg. Die Uhr, die er zum Abschied | |
| erhielt, trägt er noch heute, nur sie zu lesen fällt ihm schwer. | |
| Am Strand, einen knappen Kilometer entfernt, warten die Strandkörbe auf | |
| Gäste und besseres Wetter. Donner grummelt, also verzichtet Renate Schulz | |
| auf einen Spaziergang. Sie ist eine elegante Frau, die jünger wirkt als 79 | |
| Jahre. Die Goldringe an ihren Händen blitzen, wenn sie gestikuliert. Sie | |
| und ihr Mann sind vor einer Woche angereist, an die neue Umgebung hat sich | |
| Lothar Schulz schnell gewöhnt. Die mehrstündige Betreuung macht ihm Spaß, | |
| zur Erleichterung seiner Frau. Hilfe sucht sie sich auch zu Hause. „Wenn | |
| wir wieder in Duisburg sind, kann ich ihn zur Tagespflege bringen.“ | |
| Die Pflege eines Demenzkranken ist anstrengend, vor allem psychisch. | |
| Angehörige haben daher Anspruch auf eine Kur. Normalerweise würde der | |
| Demenzkranke während dieser Zeit in einer Kurzzeitpflege untergebracht. Und | |
| eben da läge das Problem, sagt Andreas Frank: „Die Angehörigen haben ihre | |
| Reise geplant, verbringen die Nacht vor der Abreise allein zu Hause und | |
| stellen dann fest, dass sie es doch nicht fertigbringen, den Partner | |
| dazulassen. Also stehen sie morgens vor der Pflegeeinrichtung und fordern | |
| mit Tränen in den Augen, dass er mit nach Hause kommt – damit sind die | |
| Ferien wieder ausgefallen.“ Nach einigen Erlebnissen dieser Art seien sie | |
| auf die Idee mit dem gemeinsamen Urlaub gekommen: Kur für den Angehörigen, | |
| Tagespflege für den Kranken, plus ein Zuschlag für das Hotelzimmer mit | |
| Vollpension. | |
| Das „Landhaus“ hat die Einschränkungen eines älteren Publikums im Blick, | |
| der Fußboden ist mit glattem Kunststoff belegt, die Türschwellen sind | |
| entfernt. Aber es ist kein Heim – es gibt keine Pflegekräfte, die Paare | |
| müssen den Alltag alleine regeln, sich waschen, anziehen und zu den | |
| Mahlzeiten im Speisesaal erscheinen. Die Betreuungsgruppe ist ein | |
| freiwilliges Angebot, ebenso die Gesprächsnachmittage, bei denen sich die | |
| Angehörigen austauschen können. Renate Schulz geht gern hin, sagt sie: | |
| „Dümmer wird man nicht davon.“ | |
| Sie war kaufmännische Angestellte, genau wie ihr Mann. Aber während er bei | |
| Thyssen Karriere machte, blieb sie zu Hause, als die Kinder kamen. Erst | |
| später hat auch sie wieder gearbeitet. Sie haben eine gute Ehe geführt, | |
| reisten zusammen, ließen sich gegenseitig auch Freiheiten: Er angelte, sie | |
| hatte den Chor. Harmonisch, sagt Renate Schulz. | |
| „Sie geht immer weg, jeden Tag geht sie weg“, beschwert sich Lothar Schulz | |
| über seine Frau. Das ist ein wenig unfair: Nicht sie verlässt ihn, sondern | |
| er hat vor einigen Jahren angefangen, sich von ihr und ihrem bisherigen | |
| Leben zu verabschieden, jeden Tag ein bisschen mehr. Bei einem | |
| Weihnachtsfest fiel Lothar Schulz’ Familie zum ersten Mal etwas Seltsames | |
| auf: Als die vier Enkel ihm eine Bastelei schenkten, freute er sich nicht, | |
| „er saß einfach nur da“, sagt Renate Schulz. Noch dramatischer war, als sie | |
| bei einem Essen mit dem Kegelclub einen allergischen Schock bekam. Wieder | |
| saß Lothar Schulz scheinbar desinteressiert daneben, während sich die | |
| übrigen angstvoll um seine Frau bemühten. Mit dem Fortschreiten der | |
| Krankheit zogen sich Bekannte zurück: Alzheimer macht Angst, Alzheimer | |
| macht einsam. | |
| ## Nun spricht er | |
| „Eins, zwei, drei, in der Bäckerei“, singt Lothar Schulz. Er hat eine | |
| schöne, kräftige Stimme, aber die Töne sind nicht sauber genug getroffen | |
| für das feine Gehör von Dorle Opitz, der ehemaligen Gesangslehrerin. Sie | |
| schüttelt tadelnd den Kopf, bleibt aber stumm. Lothar Schulz dagegen redet | |
| mehr, seit er krank ist, sagt seine Frau. Früher sei er anders gewesen, ein | |
| typischer Mann eben: „Eher schweigsam.“ Seine Probleme machte er meist mit | |
| sich selbst aus. Dass er eine Demenz hatte, wollte er nicht hören, eine | |
| Untersuchung lehnte er lange ab, der Hausarzt bestärkte ihn: Das bisschen | |
| Vergesslichkeit sei normal. | |
| „Zu dem Arzt gehen wir nicht mehr“, sagt Renate Schulz knapp. Als die | |
| Diagnose dann feststand, „fing das Leben neu an“, ein anderes Leben: Statt | |
| zu reisen, die Kinder zu besuchen, die Enkel zu verwöhnen, Freunde zu | |
| treffen, musste Renate Schulz sich auf die Pflege einstellen – und darauf, | |
| dass der Mann an ihrer Seite allmählich ein anderer wird: „Ich habe ihn | |
| umfunktioniert, er macht jetzt auch Hausarbeit. Hat er früher nie getan.“ | |
| Noch kann Renate Schulz ihn allein zu Hause lassen, aber sie sagt: „Man hat | |
| keinen Partner mehr, sondern immer mehr ein Kind.“ | |
| Das verneint Sascha Franz: „Menschen mit Demenz bleiben Erwachsene und | |
| müssen mit Respekt behandelt werden.“ Der Geronto-Fachpfleger hat sieben | |
| Jahre in Winterberg gearbeitet und ist nun nach Großenbrode gezogen. An das | |
| Wetter müsse er sich noch gewöhnen, meint er diplomatisch. Die Arbeit ist | |
| zurzeit einfacher als im Sauerland: Das Haus am Fehmarnsund ist noch nicht | |
| so bekannt und längst nicht voll belegt. Nur drei Kranke betreut Franz an | |
| diesem Nachmittag. | |
| Die Art, mit Dementen umzugehen, hat sich verändert, seit es immer mehr | |
| Betroffene gibt. Es geht nicht darum, sie im Hier und Jetzt zu halten, | |
| sondern um eine freundschaftliche Begleitung bei ihrer Reise ins Vergessen. | |
| Lothar Schulz hört auf seinen Nachnamen, er erinnert sich an Thyssen, er | |
| freut sich auf die Heimreise. Dorle Opitz hat sich schon weiter | |
| zurückgezogen, sie reagiert vor allem auf ihren Vornamen. Reden mag sie | |
| kaum mehr. Aber beim Singen fällt sie mit ein, manchmal stimmt sie auch | |
| allein die nächste Strophe an, erzählt Sascha Franz. Im Garten pflückt er | |
| eine Pusteblume und reicht sie der alten Frau. Sie sieht zu, wie die weißen | |
| Propeller davon schweben, und lacht. | |
| 1 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Geisslinger | |
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