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# taz.de -- Fluchtpunkt Libyen: Odyssee ohne Heimkehrer
> Zwei Nigerianer schlagen sich nach Libyen durch. Eines Nachts tritt Oscar
> die Reise nach Europa an, Evans bleibt da – und am Leben.
Bild: Frühjahr 2014: Victor (ganz links) wartet mit anderen Flüchtlingen auf …
TRIPOLIS taz | Es war in Badagry, der einstigen Sklavenstadt westlich von
Lagos. Im Café eines Freundes hockte Evans. Zwei Monate zuvor hatte er
seinen gut bezahlten Job als Fahrer des Bürgermeisters verloren, die Heirat
mit seiner Freundin war für den damals 25-Jährigen in weite Ferne gerückt.
Mit dem Hilfslehrerjob als Computerfachmann für 50 Euro im Monat konnte er
gerade einmal seine Miete in Lagos zahlen.
„Ich war zu jung“, sagt der schmächtige Mann über die Zeit damals. „Zw�…
Stunden durch die Provinz fahren und Menschenmengen von meinem Boss
fernhalten – dem war ich nicht gewachsen.“ Die Hoffnung auf einen guten Job
hatte Evans schon aufgegeben. Da bog sein Schulfreund Oscar um die Ecke. Er
war wegen der Hochzeit einer Tante für einen Kurzurlaub aus Libyen in die
Heimat gekommen. „Komm mit nach Tripolis, dort gibt es Jobs wie Sand am
Meer!“ Ein Satz, der Evans Leben verändern sollte.
Zwei Wochen später und mit geliehenen 500 Dollar in der Tasche saßen die
beiden Nigerianer auf der Ladefläche eines Lkw, neben ihnen 40 weitere
Arbeitsuchende, vor ihnen die Sahara. Für die Strecke von Lagos bis Agadez
in Zentralniger, Umschlagplatz der Menschenschmuggler, hatten sie bereits
umgerechnet 30 Euro bezahlt. Von Agadez fahren die Schmugglerkonvois nach
festem Zeitplan in die libyschen Sahara-Städte Sebha, Murzuk und Gatrun.
Das Geld reichte gerade bis Sebha. Gerüchte von Unruhen in Libyen machten
die Runde, damals im Frühjahr 2011.
## Arbeit als Autowäscher
Evans berichtet davon im Garten der St.-Franziskus-Gemeinde in Tripolis.
Wie an jedem Sonntag suchen hier Hunderte Migranten ein paar Stunden
Sicherheit und Ruhe vor dem nachrevolutionären Chaos. Evans arbeitet
inzwischen in einer Autowaschanlage. „Ein guter Job“, sagt er. Aber seine
Tage in Libyen sind gezählt, wegen der Gesetzlosigkeit und den bewaffneten
Jugendbanden auf den Straßen.
„Am Morgen des 20. Februar 2011 kam unser Konvoi mit mehr als hundert
Leuten in Sebha an. Überall in den Straßen wurde geschossen“, erinnert sich
Evans. Drei Tage zuvor hatte in Bengasi der Aufstand gegen Gaddafi
begonnen. Libyen war über Nacht ein anderes Land geworden. Einige Migranten
wurden von Gaddafis Soldaten direkt von der Ladefläche gezogen. Sie sollten
für Gaddafi kämpfen.
Evans und sein Freund Oscar verbrachten die nächsten Monate in Kellern.
„Aus Angst vor den Soldaten und dem Misstrauen der Rebellen machten wir uns
nur frühmorgens auf die Suche nach Essen.“ Am Tage patrouillierten
plötzlich einige ihrer Bekannten aus dem Konvoi in Militäruniform, Leichen
lagen auf den Straßen. Als Gaddafis Einheiten die Lage in Sebha unter
Kontrolle gebracht hatten, konnten Evans und Oscar auf einer Baustelle
genug Geld verdienen, um sich einen Platz unter der Plane eines gen Norden
fahrenden Gemüselasters zu sichern. Doch auch in Tripolis herrschte
Ausnahmezustand. Die Rebellen hielten Schwarze pauschal für Gaddafis
Spione.
## Hilfsbereite Einheimische
Als Tripolis im September 2011 von Regimegegnern eingenommen wurde,
versuchten viele Migranten, sich nach Europa zu retten. Evans und Oscar
aber schlugen sich nach Osten durch. „Viele Libyer halfen uns. Sie wussten
ja, dass wir zum Arbeiten gekommen waren.“ In Khoms landeten sie im
Gefängnis, als sie sich wegen noch ausstehenden Lohns für sechs Wochen
Arbeit beschwerten.
„Der Bauherr rief seinen Freund bei der örtlichen Polizei an. Wir hatten
natürlich kein Geld, um uns freizukaufen.“ Also zwang man sie, das
Gefängnis, in dem sie einsaßen, zu renovieren. Nach vier Monaten schafften
sie es nach Tripolis. Dort beruhigte sich Mitte 2012 die Lage langsam.
„Der Bauboom bot genügend Jobs. Geschlafen haben wir zwar zu zehnt in einer
gemieteten Bauruine, aber das Gemeinschaftsgefühl bot Sicherheit“, erinnert
sich Evans. Die meisten Nigerianer, Ghanaer und Kongolesen arbeiten sieben
Tage die Woche. Mit 15 Euro Tageslohn sind viele schon zufrieden. Das Geld
wird für die Bootsfahrt nach Italien gespart oder nach Hause geschickt.
## 600 Euro für den Platz auf einem Seelenverkäufer
Evans landete mehrfach vor einem Richter, musste Strafen für eine fehlende
Arbeitsgenehmigung zahlen. „Wofür genau, weiß ich nicht. Mein Arabisch ist
noch immer schlecht.“ Die zahlreichen Milizen betreiben mittlerweile ein
mafiaähnliches Netzwerk, das die Inhaftierten an Baustellen und die
Schmugglerboote vermittelt. Ab 600 Euro ist ein Platz auf einem
Seelenverkäufer zu haben, für eine Überfahrt mit Rettungsweste und einem
erfahrenen Kapitän muss man das Doppelte hinlegen.
Als der Gottesdienst beendet ist, strömen Philippiner und Afrikaner aus
unterschiedlichen Ländern aus der St.-Franziskus-Kirche. Vor der Kirche
beobachten bärtige Gestalten das Treiben. „Der Geheimdienst stand schon zu
Gaddafis Zeiten hier“, murmelt ein pakistanischer Ingenieur. Als Christen
fühlen sie sich nicht wohl im neuen Libyen. Schnell verstreut sich die
Menge. Pater Dominic Rezau setzt sich zu Evans, den die Erinnerungen
sichtlich mitgenommen haben. Der Franzose, ein ernster Mittfünfziger, hat,
bevor er die Pfarrstelle in Tripolis antrat, viele Jahre im kongolesischen
Bürgerkriegschaos verbracht.
Er schließt den kleinen Behandlungsraum auf, den die Gemeinde mithilfe von
Spendengeldern für die Flüchtlinge und Migranten betreibt. „Wir können nur
kleine Verletzungen behandeln und Trost spenden“, sagt Rezeau matt, „aber
in den staatlichen Krankenhäusern müssen die Migranten seit der Revolution
zahlen, und sie riskieren, ihren Reisepass zur verlieren.“ Der Pater lässt
durchblicken, dass er sich genauso verunsichert fühle wie seine
Schützlinge.
Im Frühjahr, nach den gezielten Morden an sieben ägyptischen Kopten in
Bengasi, bekam der benachbarte ägyptisch-orthodoxe Bischof Besuch von
libyschen Milizionären. „Du hast 24 Stunden Zeit, das Land zu verlassen,
ansonsten bringen wir deine Familie und dich um“, sollen sie gesagt haben.
Die EU-Botschafter und die UN-Mission verzichteten darauf, gegen den
Rauswurf der Christen zu protestieren. „Wohl um nicht selbst zum Ziel zu
werden“, vermutet Pater Rezeau. Er ahnt, dass Evans nun vom schwersten Teil
seiner Odyssee erzählen wird.
„Am 27. Mai letzten Jahres bekamen wir mitten in der Nacht einen Anruf von
unserem Kontaktmann. Er sagte, das Meer sei nun ruhig und ein Boot stehe am
Strand bereit. In drei Stunden müssten wir mit dem Geld dort sein.“ Bis auf
Evans packten alle ihre Tasche. „Ich zögerte, weil in den Vortagen ein
scharfer Westwind geweht hatte. Ich bin als einziger am Meer groß
geworden.“ Wieder ging alles ganz schnell, wie damals, als Oscar in Badagry
um die Ecke bog. Diesmal zog Oscar mit sechs anderen Zimmergenossen los,
noch vor Morgengrauen. Evans blieb zurück. „Am nächsten Tag ging ich mit
zitternden Knien zur Arbeit und dachte, ich hätte mich falsch entschieden.
Abends hörte ich dann von Freunden auf Lampedusa, dass alle ertrunken sind.
Das Boot war vor der Küste gekentert.“ Dominic Rezeau bestätigt, dass sich
bei gutem Wetter jede Nacht Hunderte auf den Weg zum Strand machen. Dieses
Jahr mehr als je zuvor. Abends kann man die Boote manchmal von der
Innenstadt aus sehen.
## Die Freundin nachgeholt
Als Schichtleiter in der Autowaschanlage verdient Evans pro Auto 5 Euro.
„Ein guter Lohn“, sagt er. Sogar seine Freundin hat er nach Tripolis
geholt, sie putzt in einem Architektenbüro. „Ich könnte zufrieden sein.
Aber ich habe meine Freunde verloren, und in Libyen gibt es weder Polizei
noch Gesetze. Sobald es geht, wollen wir mit einem Touristenvisum nach
Europa fliegen.“
Bei einigen EU-Botschaften müsse man nur genug Geld in den Pass legen,
bestätigen viele. An großen Straßenkreuzungen in Tripolis stehen
Schwarzafrikaner. Mit Schaufel, Besen oder Elektrokabel in der Hand
demonstrieren sie, wofür man sie anheuern kann. Der neue Boom der libyschen
Privatwirtschaft lockt immer mehr aus dem Süden hierher, trotz der Gewalt.
Eine Woche nach dem Treffen mit Evans ist Pater Rezeau noch bedrückter. Die
junge Kongolesin Marine, auf die er letzten Sonntag vergeblich gewartet
hatte, wurde mit ihrer 12-jährigen Tochter Opfer eines Unfalls. Ein Wagen
krachte seitlich in das Taxi, mit dem sie auf dem Weg zum Gottesdienst
waren. Die Tochter ist tot, Marine selbst schwer verletzt.
„Auf den christlichen Friedhöfen in Tripolis darf ich Marines Tochter
zurzeit nicht beerdigen“, berichtet Pater Rezeau bekümmert. „Wir müssen
ihren Leichnam nach Misrata fahren.“ Der Mutter wurde der Pass abgenommen
und die kongolesische Botschaft weigere sich zu helfen.
Bitter enttäuscht ist der Pater von der millionenschweren Eubam-Mission der
EU, die sich um Grenzen und Flüchtlinge kümmern sollte. In Sichtweite ihrer
Basis Palm City legen nachts die Boote ab. „Wir helfen aus Nächstenliebe,
aber wir haben für mehrere tausend Flüchtlinge doch gar nicht die Mittel“,
sagt er. Viele NGOs und die EU hingegen arbeiteten lieber mit den
Ministerien zusammen, die in Libyen im Moment aber nur virtuell
existierten.
Pater Rezeau singt leise die alte kongolesische Nationalhymne, mit der er
Marine und ihrer Tochter ab und zu das Heimweh vertrieb. „In ihrer Schule
in Kinshasa hat man sie gezwungen, das Lied zu singen. Hier aber bedeutete
es kurze Zeit Heimat und Sicherheit. Nun ist sie staatenlos, und mit ihrer
Tochter hat sie alles verloren, was sie hatte.“
2 Jul 2014
## AUTOREN
Mirco Keilberth
## TAGS
Libyen
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