# taz.de -- Parlamentswahl in Libyen: Wenig Hoffnung auf Demokratie | |
> Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigen hat sich registrieren lassen. | |
> Als Nächstes soll eine neue Verfassung ausgearbeitet werden | |
Bild: Die Wahlurnen werden in eine Schule in Tripolis getragen. | |
BENGASI/TRIPOLIS taz | An dem neuen Einkaufszentrum in der mondänen | |
Dubaistraße in Bengasi vibriert die verspiegelte Glasfassade. Familien mit | |
vollen Einkaufstüten von Modemarken wie Zara oder Esprit bleiben stehen. | |
Stumm verfolgen sie den Kampfhubschrauber am Himmel, der eine Raketensalve | |
in die von hohen Mauern geschützten Bauernhäuser im Bezirk Hawari feuert. | |
„Sollen sie sich doch gegenseitig umbringen“, sagt ein älterer Herr | |
deprimiert. | |
In Bengasi, der Stadt in der Provinz Cyreneika im Osten des Landes, wo die | |
Revolution 2011 ihren Ausgang nahm, ist das Nebeneinander von Alltag und | |
Tod nur schwer zu begreifen. Über 400 Soldaten starben in zwei Jahren bei | |
Attentaten, ohne dass die Regierung etwas unternahm. | |
Der pensionierte General Khalifa Hafter, der eine Militärallianz anführt, | |
sieht islamistische Milizen als Drahtzieher hinter den Morden und lässt die | |
Kasernen von Ansar Sharia, Raf Allah Shati und anderen Gruppen | |
bombardieren. Staatliche Strukturen sind zerfallen, Milizen teilen die | |
Macht unter sich auf. | |
## Sarah Langhi will eine stärkere Dezentralisierung | |
Im Einkaufszentrum putzen Angestellte aus Bangladesch ungeachtet des | |
Einsatzes des Kampfhubschraubers stoisch den Boden. Die zahlreichen Läden | |
in dem dreistöckigen Gebäude sind bis unter die Decke mit Waren aus aller | |
Welt vollgestopft. | |
„Geld war in Libyen bisher kein Problem“, sagt Sarah Langhi* und versucht, | |
den Lärm des Helikopters zu ignorieren. Sie ist Kandidatin für die | |
Parlamentswahlen am 25. Juni und wirbt an einem Stand um Stimmen. Ihre | |
Themen sind die Reform der Schulbildung und eine stärkere Dezentralisierung | |
des Landes. | |
„Wir hier in der Cyreneika wollen eine gerechte Verteilung des | |
Öleinkommens“, fordert sie. Bis heute werde alles in Tripolis entschieden. | |
Doch hier im Einkaufszentrum hat Langhi mit einem ganz anderen Problem zu | |
tun. „Warum bist du nicht zu Hause“, zischt ein Mann mit langem Bart im | |
Vorbeigehen. | |
## Die Wahlen kamen erst nach massiven Protesten zustande | |
Die 42-jährige Langhi ist dreifache Mutter. Sie sei konservativ, wolle aber | |
in Zukunft ein Wörtchen mitreden, lacht sie dem Mann selbstbewusst | |
hinterher. Viele Kandidatinnen werden bedroht, ihre Wahlplakate abgerissen | |
oder beschädigt. Eine Passantin rät zur Vorsicht. | |
Für Langhi hat die Ignoranz vieler Männer nichts mit dem Islam zu tun, | |
sondern mit dem niedrigen Bildungsniveau. „Aber die Extremisten werden die | |
Uhr nicht zurückdrehen können. Wir Frauen werden mitbestimmen, was für ein | |
Land das neue Libyen wird“, beteuert sie. | |
Dass jetzt Wahlen stattfinden, ist nicht selbstverständlich. Im Frühjahr | |
hatte der von religiösen Kräften dominierte Nationalkongress, das | |
Parlament, sein Mandat eigenmächtig verlängert. Doch nach massiven | |
Bürgerprotesten und kriegsähnlichen Zuständen gaben die Abgeordneten vor | |
fünf Wochen grünes Licht für Neuwahlen. | |
## Der Chef der Verfassungskommission rechnet mit einem langen | |
Übergangsprozess | |
Mehr als 1.500 Kandidaten bewerben sich für die 200 Sitze des neuen | |
Parlaments, das künftig Repräsentantenhaus heißt. Alle treten als | |
Unabhängige an, da Parteien nicht zugelassen sind. Wie vor den | |
Kongresswahlen im Sommer 2012 säumen unzählige Wahlplakate die verstopften | |
Straßen von Tripolis, wo nach monatelangen Kämpfen eine relative Ruhe | |
eingekehrt ist. | |
Allerdings haben viele Wähler die Hoffnung auf Demokratie schon aufgegeben. | |
Nicht einmal die Hälfte der Wähler ließ sich per SMS registieren; in | |
Bengasi werden viele wohl aufgrund der Lage den Urnen fernbleiben. | |
„Das ist doch normal. Die Erwartungen nach der Revolution waren | |
übertrieben, der Übergangsprozess wird wie in Osteuropa Jahrzehnte dauern“, | |
sagt Ali Tarhuni. Der Mittfünfziger mit dem schulterlangen Haar ist Chef | |
der libyschen Verfassungskommission. „Leider erleben die Bürger zurzeit | |
täglich Korruption und Gewalt. Anders als in Tunesien und Ägypten ist in | |
Libyen der erste Schritt nach dem Krieg ein Versöhnungsprozess.“ | |
Tarhuni ist nach dem Ende des Krieges aus dem amerikanischen Exil | |
zurückgekehrt. Im Sommer sollen 60 Experten unter seiner Führung einen | |
Verfassungsentwurf vorlegen. Zurzeit reisen seine Mitarbeiter durch das | |
Land. „Wir hören uns an, was die Leute wollen, und wir sind positiv | |
überrascht“, so Tarhuni. „Die Libyer wollen Demokratie, einen moderaten | |
Islam und starke staatliche Strukturen. Sie haben das Chaos satt.“ | |
*Name geändert | |
25 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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