# taz.de -- Berlin-Kreuzberg blockiert: Vier Platzhalter für eine Pinkelpause | |
> An den Sperren rund um die von Flüchtlingen besetzte Schule in Berlin | |
> fanden am Dienstag Sitzblockaden statt. Eindrücke von vor Ort. | |
Bild: Die Polizei hat den Reichenberger Kiez in Berlin-Kreuzberg zu ihrer Ausla… | |
BERLIN taz | Die Schreie sind von weitem zu hören. „Haut ab! Haut ab!“, | |
ruft die Menge. „Achtung! Achtung!“, schnarrt es aus einem | |
Polizeilautsprecher. Eine junge Frau kommt aus Richtung der Blockade | |
gewankt. Sie hält sich den Kopf, ihre Nase blutet. Zwei junge Männer | |
geleiten sie auf einen Stuhl eines der vielen Cafés an der Wiener Straße. | |
Die Kreuzung zur Lausitzer Straße ist durch 200 sitzende Menschen | |
blockiert, mindestens noch mal so viele Demonstranten stehen dahinter. Die | |
Lausitzer ist eine der Straßen, die zur von Flüchtlingen besetzten Schule | |
führen. Seit einer Woche ist sie von der Polizei abgeriegelt, damit keine | |
Unterstützer rein kommen. Seit einer Woche hocken Demonstranten davor, | |
damit eventuell geräumte Flüchtlinge nicht raustransportiert werden können. | |
Ein Dauerpatt. | |
Und das Geschrei gerade eben? „Die Bullen haben eine Sitzblockade geräumt“, | |
erzählt ein Demonstrant gegen 16.15 Uhr. Dann seien sie bis zur nächsten | |
Sitzblockade vorgerückt. Nun steht die Polizeikette nicht mehr hinter dem | |
Gatter am Beginn der Lausitzer Straße, sondern zehn Meter davor. Warum das | |
Ganze? Schulterzucken allerorten. | |
Ansonsten hat sich die Lage erstmal wieder beruhigt. Mitten in der Blockade | |
sitzen drei Frauen, weiße Hemden, schwarze Hüte. Sie spielen Akkordeon, | |
Geige, Flöte. Die Blockierer klatschen, mal im Takt der Musikerinnen, mal | |
im Rhythmus der kämpferisch gerufenen Slogans: „Siamo tutti antifascisti!“ | |
Die Sonne knallt auf die Menge. „Noch jemand Wasser?“, ruft eine junge Frau | |
mit Rastazöpfen und reicht eine Flasche zu den Blockierern. | |
„Waren Sie eigentlich schon mal auf einer Demo?“, fragt ein junger Mann | |
einen Polizisten in der ersten Reihe. „Nein“, antwortet der, „nicht in | |
meiner Freizeit, da habe ich anderes vor.“ Dann streiten sie über | |
Aktionsformen. „Machen Sie doch einen Aufzug“, sagt der Beamte aus | |
Baden-Württemberg, „da kommen viel mehr Leute. Und es nicht so | |
gewalttätig.“ „Was ist denn an einer Blockade gewalttätig?“, fragt der | |
Demonstrant zurück. Doch der Polizist kann nicht mehr antworten, seine | |
Einheit wird gerade abgelöst. | |
Eine junge Frau mit stark geröteten Augen steht in der Mitte der Blockade | |
und zeigt auf einen der Polizisten in der ersten Reihe. „Du da“, ruft sie, | |
„warum hast du mir Pfefferspary direkt ins Gesicht gesprüht?“ Alle | |
Polizisten gucken bewusst unschuldig, einer hat eine Pfefferspraydose am | |
Gurt. „Ja, dich meine ich!“, ruft die junge Frau. „Ich hab überhaupt nic… | |
getan.“ | |
Ein junger Typ mit einer schwarz-rot-goldenen Papierkette um den Hals kommt | |
zu Blockade. „Das ist hier wegen der besetzten Schule, oder?“, fragt er die | |
Sitzenden. Als die nicken, stellt er sich mit ausgestreckten Armen | |
provozierend vor die Polizeikette. Dann hockt er sich zu den anderen | |
Blockierern. Einer von denen schaut kritisch auf den Halsschmuck des neu | |
Hinzugekommenen. „Kannst du dich bitte woanders hinsetzen?“, fragt er dann. | |
„Nie! Nie! Nie wieder Deutschland!“, ruft jemand aus einer anderen Ecke. | |
## Ein Geburtstagsständchen für eine Blockiererin | |
Eine der Blockiererinnen in der ersten Reihe hat Geburtstag. Als das die | |
Runde macht, wird werden keine Parolen mehr gesungen, sondern ein lautes | |
„Happy Birthday“. Die Musikerinnen stimmen ein. Dann folgt noch ein | |
Kinderlied: „Wie schön dass du geboren bist / wir hätten dich sonst sehr | |
vermisst / wie schön dass wir beisammen sind, wir gratulieren dir, | |
Geburtstagskind!“ Die Menge ist überraschend textsicher, auch bei den | |
Strophen: „Dich so froh zu sehen / ist was uns gefällt / Tränen gibt es | |
schon / genug auf dieser Welt.“ „Und Tränengas auch!“, ruft ein Blockier… | |
Die Menge lacht, die Polizisten verziehen keine Miene. Erst als ein | |
Langhaariger eine Bierflasche auf seinem Kopf balanciert, kann einer der | |
Beamten ein Lächeln nicht unterdrücken. | |
Einer der Blockierer hebt seinen Arm hoch und ruft: „Ey Leute, ich muss mal | |
pinkeln. Können so lange vier Leute meinen Platz einnehmen?“ Tatsächlich | |
drängeln sich zwei Frauen und zwei Männer nach vorne. Die Menge klatscht. | |
Ein leicht graumelierter Typ sitzt mit einem Megaphon in der ersten Reihe | |
und hält den Polizisten eine minutenlange Moralpredigt. „Ihr seid selbst | |
verantwortlich für euer Handeln!“, ruft er. „Was macht ihr hier? Wollt ich | |
die Verantwortung tragen, dass die 40 Flüchtlinge da oben auf dem Dach bei | |
einer Räumung in den Tod springen?“, fragt er. Die Masse applaudiert, die | |
Polizisten schweigen. | |
Dann zieht die Polizei plötzlich ab. Genau eine Stunde nachdem sie zehn | |
Meter Land gewonnen hat, gibt sie den Raum wieder Preis. Warum das Ganze? | |
Schulterzucken. Die Blockierer jubeln, rücken vor bis an Gatter und setzen | |
sich dort wieder hin, wo sie vor einer Stunde saßen. | |
Es ist ein buntes Völkchen hier auf der Straße. Viele junge Leute, so wie | |
bei Demos üblich. Nur eine Klientel fehlt, die man normalerweise bei | |
solchen Events immer sieht: Vertreter der Grünen. | |
Nur ein prominenter Grüner ist zu sehen, er steht etwas abseits. Er | |
schüttelt mit dem Kopf. Er fasst sich an die Stirn. Er findet sehr klare | |
Worte über die Politik seiner Parteifreunde im Bezirksamt, die für den | |
jetzt schon eine Woche lang laufenden Polizeieinsatz verantwortlich sind. | |
Ob er das auch öffentlich sagen würde? Er überlegt nur kurz und sagt dann: | |
Nein, das möchte er nicht. | |
1 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Gereon Asmuth | |
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