| # taz.de -- Antisemitismus in Frankreich: „Jetzt fängt es wieder an“ | |
| > "Klein-Jerusalem" wird Sarcelles genannt, weil dort Juden, Muslime und | |
| > Christen zusammenleben. Die antisemitischen Ausschreitungen schockieren | |
| > sie. | |
| Bild: Polizisten bei Ausschreitungen in Sarcelles | |
| SARCELLES taz | Wem die Gewalt gelte, das wisse er aus Erfahrung nur zu | |
| gut, sagt der kleine Mann mit den grauen Haaren. „Ich bin 87 und habe | |
| Marschall Pétain und die faschistischen Milizen erlebt. Jetzt fängt es | |
| wieder an.“ Als 14-jähriger Jude sei er im Gefängnis ausgepeitscht worden, | |
| erzählt er. In Constantine, das damals französisch war und heute in | |
| Algerien liegt. Er greift in seine Tasche und zeigt eine zusammengefaltete | |
| Kippa, die er aus Angst vor Aggressionen beim Gang ins Einkaufszentrum | |
| nicht trage. Seinen Namen will der Mann nicht nennen. „Sonst bin ich in 48 | |
| Stunden tot.“ | |
| Einige Tage nach den Ausschreitungen, die weltweit für Schlagzeilen | |
| sorgten, sieht das kosmopolitische Einkaufszentrum an der Esplanade des | |
| Flanades nur auf den ersten Blick völlig friedlich aus. Die ausgebrannte | |
| Apotheke ist nicht zu übersehen und immer noch liegt ein stechender Geruch | |
| in der Luft. Schwer beschädigt wurden auch die darüber liegenden Wohnungen, | |
| wo eine 91-jährige Frau nur knapp dem Tod entging. Der Angriff auf die | |
| Apotheke war gezielt, denn alle wussten, dass die Inhaber eine jüdische | |
| Familie sind, die einst aus Nordafrika einwanderte. Zudem blieben der | |
| benachbarte Halal-Fleischer „La ferme de l’Afrique“ und der Kebab-Imbiss | |
| „Norway“ ebenso unversehrt wie der Supermarkt „Istanbul“ gegenüber. | |
| Am vergangenen Sonntag haben im Anschluss an eine verbotene Kundgebung | |
| gegen Israels Gaza-Offensive radikale Demonstranten in Sarcelles mehrere | |
| jüdische Geschäfte angegriffen und verwüstet. Autos und Mülltonnen | |
| brannten, Demonstranten warfen Steine auf Polizisten, diese antworteten mit | |
| Tränengas und Gummiknüppeln. | |
| Er habe zwei Schwestern in Israel, erzählt der Mann im Einkaufszentrum. Die | |
| hätten ihn angerufen und eindringlich gebeten, nach Israel zu kommen. Aus | |
| Sicherheitsgründen. Aber was soll er da? Hier sind seine Kinder, hier sind | |
| seine Enkel. „Für mich ist es zu spät“, sagt er. Ein Mann Ende zwanzig | |
| mischt sich ins Gespräch ein. Seine Frau dränge ihn, mit nach Israel zu | |
| ziehen. Er überlege noch. | |
| ## Ausweg Auswandern | |
| Die Juden in Sarcelles haben Angst. Die Juden in ganz Frankreich haben | |
| Angst. Viele überlegen, nach Israel auszuwandern. Viele sind es bereits, | |
| obwohl es in Israel auch alles andere als sicher ist. Mehr als 3.000 in | |
| diesem Jahr, so viele wie insgesamt 2013. | |
| Sarcelles ist eine dieser Pariser Vorstädte mit Wohnhochhäusern, viel | |
| Beton, wenig Grün; man erreicht sie vom Stadtzentrum aus in einer halben | |
| Stunde mit der S-Bahn. Dass es ausgerechnet hier antisemitische | |
| Ausschreitungen gibt, schockiert und irritiert zutiefst die ungefähr 15.000 | |
| hier lebenden Juden aus Marokko, Tunesien und Algerien, die in dieser ville | |
| nouvelle in den 50er und 60er Jahren Zuflucht fanden, weil sie sich in | |
| Nordafrika nicht mehr sicher fühlten. „Klein-Jerusalem“ wird die Vorstadt | |
| häufig genannt, weil hier Juden, Muslime sowie chaldäische und koptische | |
| Christen nebeneinander wohnen. | |
| „Sarcelles war immer eine Stadt, in der es sich gut leben ließ und wo alle | |
| Gemeinschaften gut auskamen“, sagt Lucienne Zerbib, die in Sarcelles eine | |
| Kindertagesstätte leitet. „Diese Barbarei jetzt, die ist für mich | |
| unverständlich.“ | |
| Der französische Premierminister Manuel Valls spricht von einem „neuen | |
| Antisemitismus“. Es sei unerträglich für die Französische Republik, wenn | |
| wieder Menschen ungestraft „Tod den Juden“ rufen könnten. Der Bürgermeist… | |
| von Sarcelles sagt, etwas sei kaputtgegangen am letzten Sonntag und könne, | |
| wenn überhaupt, nur schwer wieder in der Hauptstadt repariert werden. | |
| François Pupponi ist gerade mit Architekten unterwegs, um die | |
| Wiederinstandsetzung der beschädigten Geschäfte zu besprechen. Der | |
| 51-jährige Sozialist ist seit 17 Jahren im Amt, er hat die Leitung des | |
| Vororts mit 60.000 Einwohnern im Norden der französischen Hauptstadt von | |
| Dominique Strauss-Kahn geerbt, dem späteren Minister und IWF-Direktor. | |
| Pupponi glaubt, das sein Ex-Mentor „sein Sarcelles“ kaum wiedererkennen | |
| würde: „Das Misstrauen und die Abneigung gegen den Anderen hat sich zu tief | |
| in die Gesellschaft gegraben.“ Das habe nicht nur mit der Situation im | |
| Nahen Osten zu tun, sondern auch mit der Krise in Frankreich. „Offenbar | |
| gibt es viel Verbitterung, und alle suchen einen Sündenbock.“ | |
| Für seine jüdischen Mitbürger seien die antisemitischen Aggressionen ein | |
| Trauma, sagt Pupponi. Die Verantwortlichen der rassistisch motivierten | |
| Gewalt beschreibt er noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse als | |
| „Horden von Wilden, die völlig enthemmt und skrupellos gekommen sind, um | |
| Juden anzugreifen, und das heute, nur 20 Kilometer von Paris entfernt“. Ein | |
| starkes Polizeiaufgebot, vor allem in der Nähe der größten Synagoge, konnte | |
| das Schlimmste verhindern. Verletzt wurde zum Glück niemand bei den | |
| schweren Ausschreitungen im Anschluss an die Kundgebung, die wegen | |
| bekannter Risiken im Voraus von den Behörden untersagt wurde. War dieses | |
| Vorgehen richtig oder hat es unnötig die ohnehin erhitzten Gemüter | |
| provoziert? Darüber wird nicht nur in Sarcelles weiter diskutiert. Für | |
| dieses Wochenende hat die Polizeipräfektur erneut eine Pro-Palästina-Demo | |
| in Paris verboten. | |
| In der jüdischen Gemeinde ist man überzeugt, dass die Angriffe vergangene | |
| Woche geplant waren. Schon in den Tagen zuvor hätten Unbekannte mit | |
| Filzstift eine Aufforderung auf Mauern und Plakate geschrieben: „Palästina, | |
| 20. Juli. Kommt zahlreich und ausgerüstet für einen Abstecher ins jüdische | |
| Quartier.“ David Harroch, Inhaber einer Buchhandlung für jüdische Literatur | |
| in Sarcelles, sieht sich in seinen schlimmsten Befürchtungen bestätigt: „Es | |
| handelt sich um eine offen antisemitische Bewegung, die da unter dem | |
| Vorwand des Antizionismus geschaffen wurde. Und diese Antisemiten verbergen | |
| sich nicht mehr.“ | |
| ## Das Miteinander retten | |
| Trotz allem: Wie eine Stadt im Ausnahmezustand wirkt Sarcelles heute nicht. | |
| Nur vor dem jüdischen Zentrum Beit Abraham und vor der Synagoge an der | |
| Avenue Paul Valéry schieben ein Dutzend Polizisten Wache. Eine Gedenktafel | |
| erinnert hier an den lokalen Gelehrten Raphaël Yaacov Israël, der seine | |
| Nachkommen gemahnt hat: „Um Krieg zu führen, braucht es zwei. Ich werde nie | |
| der Zweite sein.“ | |
| Der derzeitige Rabbiner, Laurent Berros, sucht in diesem Sinne den | |
| interreligiösen Dialog, um die – früher immer als exemplarisch gefeierte – | |
| Tradition des Miteinander in Sarcelles zu retten. „Der Antisemitismus und | |
| die Spaltung dürfen nicht gewinnen“, sagt er. Der Pariser Vorort wird zum | |
| Testfall. „Wenn das Modell Sarcelles zusammenbricht, ist für das ganze Land | |
| das Schlimmste zu befürchten“, prophezeit Bürgermeister Pupponi. | |
| 25 Jul 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Rudolf Balmer | |
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