# taz.de -- Homosexuelle in Deutschland: Kapitalismus pink lackiert | |
> Die CSD-Saison nähert sich ihrem Ende. Und wie steht die homosexuelle | |
> Bewegung da? Statt rosa Revolte, politisch ganz schön abgeschlafft. | |
Bild: CSD 2014 in Berlin: So teuflisch die Fassade, so bieder der Anspruch. | |
Die Welt ist unübersichtlicher geworden und vertrackter, alte Gewissheiten | |
sind überholt. Das erleben auch Homosexuelle. Große Zeichen erreichen sie | |
widersprüchlich und verwirrend: Politische Parteien machen ihnen | |
Versprechungen, die sie dann doch nicht halten. | |
Repräsentative Umfragen ergeben gesteigerte Sympathiewerte, aber Wutbürger | |
in Baden-Württemberg wollen davon nichts wissen. Der neue Papst findet | |
versöhnende Worte, an der Anti-Homo-Doktrin seiner Kirche ändert sich gar | |
nichts. Die Mainstreammedien widmen sich schwul-lesbischen Themen wie nie | |
und ziehen unbeirrt jede Klischeekarte. | |
Homosexuelle haben davon genug, wollen es lieber einfach und schlicht. Ihre | |
kleine Welt heißt Community, die Verkehrssprache ist Denglisch, die | |
Nationalfarben sind die des Regenbogens und die aktuelle Nationalhymne | |
heißt „Rise like a phoenix“. Die Feinde lauern an den Außengrenzen, | |
Rückschritt lautet die Analyse, „Stop Homophobia!“ der Schlachtruf. | |
Zur Verständigung trifft man sich bei Facebook, wo Tacheles geredet wird, | |
kämpferisch, kurz und knapp. Das entlastet für den Moment und hat keinerlei | |
Konsequenzen. Die Zeiten konsensualer Diskussionen sind vorbei. | |
Nach 1968 waren es Soziologiestudenten, die auf die rosa Revolte setzten | |
und ihre Sprache bei Marx, Freud und Foucault entlehnten. Dann kamen die | |
Funktionäre an die Reihe, kungelten mit den Parteien und bezogen ihren | |
Unterhalt aus öffentlichen Kassen. | |
## Früher mal „Rotzschwul“ | |
Die Protagonisten der Bewegung heute stammen aus der PR-Branche und führen | |
ihre Kampagnen in der Sprache der Werber, als gelte es, ein neues Produkt | |
zu etablieren. Hießen die Gruppen dereinst noch „Rotzschwul“ oder | |
„Homosexuelle Aktion“, so macht man sich jetzt fit für den internationalen | |
Markt. | |
„Enough is enough“ ist die Formation der Stunde. Ihre Aktionen sind | |
fantasievoll und friedlich, ihre Währung ist – Einschaltquoten gleich – die | |
Zahl der Teilnehmer, verbindliche Inhalte sucht man vergebens. Zur | |
Unterstützung werden Musikvideos für Youtube produziert, und geht man in | |
der CSD-Saison auf Reisen durch die Lande, so begibt man sich „on tour“. | |
Politisch ist hier gar nichts, auch wenn es vorgeblich um die ganz große | |
geht, um die in Berlin so wie die internationale. Jedes „Auflehnen“ gegen | |
die Unterdrückung homosexueller Menschen hat – so formulierte es einmal | |
Alfonso Pantisano, der Frontmann von „Enough is enough“ – „gar nichts m… | |
Politik zu tun. Sondern mit Anstand!“ | |
So wird aus Protest eine Frage des Anstands, und Homosexuellenfeindlichkeit | |
kommt über einen wie ein Hagelsturm. Kein Wort über den Sexismus, der das | |
eine mitbedingt, den Rassismus, die Fremdenfeindlichkeit, den | |
Antisemitismus. Homosexuellenfeindlichkeit in der neuen Lesart ist ein | |
singuläres Phänomen, das alles andere überstrahlt. Und ist böse, böse, | |
böse. | |
## Alle böse außer Mutti | |
Damit wird die Welt wieder ein bisschen einfacher. Die CDU ist böse wie | |
Matthias Matussek wie Gabriele Kuby. Diese Vereinfachung verhindert den | |
genauen Blick und erschwert, ja verunmöglicht die angemessenen Antworten. | |
Dabei ist die CDU genau so „böse“ wie jede andere Partei auch, Homosexuelle | |
sind eine Quantité négligeable, die man so lange hofiert, solange es | |
opportun ist, und dann fallen lässt wie eine heiße Kartoffel – aus | |
wahltaktischen Gründen, aus Koalitionsräson, ein Grund findet sich immer. | |
Homosexuelle haben, und das müssen sie wissen, in der Politik keinen | |
verlässlichen Partner, nicht einen einzigen. | |
Und dann die verwirrten Männer wie Matussek, Broder oder Pirinçci. So | |
verwirrt sind die gar nicht. Sie wissen sehr genau, zu welchem Zeitpunkt | |
die Homos dran sind, und treffen dann zielgenau den Nerv ihrer Klientel, | |
sichern sich Auflage und Aufmerksamkeit, auch Shitstorm genannt. Davon | |
leben die. | |
Schließlich Schriftstellerin Gabriele Kuby, eine freundliche Frau mit | |
saudummen Ansichten, eine, die nur das wiedergibt, was so viele inzwischen | |
empfinden: dass Lesben und Schwule langsam zu einer Bedrohung werden, je | |
mehr sie öffentlich erscheinen. Solange die noch im Zaum zu halten waren, | |
eingeschüchtert im Versteck, so lange konnte man die eigenen Klischees und | |
Vorurteile unter der Decke halten. Aber jetzt muss alles raus, ehe es zu | |
spät ist, das muss man doch mal sagen dürfen. | |
## Die angepasste Variante | |
Nehmen wir einmal für einen Moment an, der Widerstand gegen die geplante | |
homosexuellenfreundliche Bildungsreform in Baden-Württemberg sei ein | |
existenziell bedrohlicher für jeden homosexuellen Einzelnen: Warum widmen | |
sich nicht alle CSDs in diesem Jahr dieser Herausforderung? Mal ganz ohne | |
den kommerziellen Scheiß und die billige Parteienpropaganda? | |
Stattdessen gab es in Berlin eine eitle Rangelei mit drei Umzügen als | |
Ergebnis, in München heißt es dieses Jahr „Prost – Liebe für alle“, un… | |
Motto in Bielefeld lautet „Wir können auch anders“. | |
Der Karneval geht also weiter. | |
Und in der CSD-Nachbetrachtung in Berlin wird nicht über verpasste Inhalte | |
räsoniert, dafür taucht wieder eine Frage auf, die bereits 1973 im | |
legendären „Tuntenstreit“ die linksradikale Bewegung Berlins spaltete: Wie | |
zeigen wir uns öffentlich? In Strapsen, Leder und Boa und schaden damit dem | |
Ansehen der ganzen Innung? | |
Oder ganz casual und modisch auf der Höhe und tun niemandem weh damit? Eine | |
nicht repräsentative Umfrage auf der Facebook-Seite des Homo-Magazins | |
Männer ergab – wie nicht anders zu erwarten – eine deutliche Mehrheit für | |
die angepasste Variante. | |
## Karrieremessen und Denkfabriken | |
Doch damit der Albernheiten nicht genug. blu, schwule Stadtzeitschrift in | |
fast allen deutschen Großstädten, veröffentlichte kürzlich eine Liste der | |
elf „einflussreichsten“ Schwulen Deutschlands, die derzeit das „Bild von | |
schwulen Männern prägen“. | |
Platz eins im Ranking – kein Witz – ist Chris Fleischhauer, einer, den man | |
googeln muss: Er moderiert die Lottozahlen und ist Anchorman bei Regio TV. | |
Auf Platz drei dann ein Berliner „IT-Boy“, Platz vier ein | |
RTL-Soapdarsteller und auf Platz elf der bei Schwulen besonders unbeliebte | |
CDU-Politiker Jens Spahn. | |
Andere Frauen und Männer, die dank engagierter Arbeit entschieden mehr | |
getan haben für das öffentliche Bild der Homosexuellen, trafen sich | |
unlängst in Köln zu einer „Denkfabrik“ und tauschten sich aus über | |
Gegenwart und Zukunft des homosexuellen Kollektivs. | |
Exakt zur gleichen Zeit waren in Berlin auf der „Sticks & Stones – der | |
Rockstar der Karrieremessen“ junge Homosexuelle unterwegs, um bei großen | |
Unternehmen den Weg in eine ertragreiche Zukunft zu suchen, ohne | |
heterosexuelle Tarnung. In Köln wird nachgedacht und in Berlin der | |
Kapitalismus ein bisschen pink lackiert: Das ist der „Brei der Bewegung“, | |
wie ihn bereits 1983 der Schriftsteller Matthias Frings prognostizierte. | |
## Jammern auf ganz hohem Niveau | |
Alle sind Community, mit formatierten Körpern und formatierten | |
Lebensentwürfen, mit Kind und Kegel. Der Foucault’schen Freiheit, „eine | |
Lebensart zu erfinden, die noch unwahrscheinlich scheint“, hat man sich nie | |
gestellt, anstelle souveräner Selbstachtung und Autonomie passiert der | |
Rückfall in die vertrauteste aller Rollen, mit langer Geschichte und | |
Tradition: in die Opferrolle. | |
Homosexualität ist weiterhin Schicksal, dem man sich zu beugen hat, und | |
keine Frage – auf gar keinen Fall – irgendeiner Entscheidung. Das | |
Gender-Ding ist was für das akademische Milieu, aber nichts für das | |
praktische Leben. | |
Hierzulande warten Homosexuelle derzeit auf ihre völlige rechtliche | |
Gleichstellung, es ist nur noch eine Frage der Zeit. Dann wird der Weg frei | |
sein für jene, die seriös und angepasst leben wollen. Und das Diktum des | |
sexuellen Hasardeurs wird Geschichte – was für eine Zäsur! | |
Doch das Raunen über ein Rollback steigt weiter an, selbst die | |
homolästerliche Äußerung eines hinterletzten CDU-Provinzpolitikers wird | |
hochgejazzt zum nächsten Menetekel an der Wand. Das ist Jammern auf ganz | |
hohem Niveau. Und steht auf keiner, aber auf gar keiner Tagesordnung. | |
2 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Elmar Kraushaar | |
## TAGS | |
Homosexuelle | |
Mainstream | |
Kapitalismus | |
Bewegung | |
Gleichstellung | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Sexismus | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Polen | |
Homosexualität | |
Homosexualität | |
Asylrecht | |
Homophobie | |
WM 2014 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kommentar Diskriminierende Werbung: Gesellschaftliche Grundstörung | |
Frauenorganisationen fordern ein gesetzliches Verbot sexistischer Werbung. | |
Doch es gibt ein praktisches und ein generelles Problem. | |
Diversität von Geschlechterrollen: XY … ungelöst | |
60 Geschlechteroptionen stehen Facebook-Nutzern jetzt zur Auswahl. Das | |
war's dann mit dem Zwangsbekenntnis zu „Frau“ und „Mann“ – oder? | |
Homosexuelle in Polen: Zufluchtsort für Homophobie-Opfer | |
Polen plant Notunterkünfte für verfolgte Homosexuelle. Auch eine | |
konservative Stiftung beteiligt sich an der Finanzierung des Projektes. | |
Magazine für Homosexuelle: „Schwule leben anders, lieben anders“ | |
Früher Wichsvorlage und Infoquelle – heute Gratisheftchen oder pleite. | |
Schwule Printmedien stecken in der Krise. Wieso eigentlich? | |
Nachhilfe in Sexualkunde: Wenn Heteros von Homos lernen | |
Seit Tausende gegen Schulpläne zur „sexuellen Vielfalt“ protestierten, ist | |
klar: Deutschland braucht dringend Nachhilfe. Hier kommt sie. | |
EuGH zu Rechten Homosexueller: Blutspenden müssen erlaubt werden | |
Das Blutspendeverbot für homosexuelle Männer wird wohl fallen. Außerdem | |
werden die Rechte homosexueller Asylbewerber gestärkt. | |
Opfer von Homophobie in BaWü: Schwul und immer noch vorbestraft | |
SPD und Grüne in Baden-Württemberg wollen sich bei den Opfern des | |
Schwulenparagrafen 175 entschuldigen. Betroffene sollen rehabilitiert | |
werden. | |
Kommentar schwule Nationalspieler: Die vorerst letzte Chance | |
Homosexualität im Fußball ist nach wie vor ein Tabu. Im Halbfinale der WM | |
stehen mindestens fünf schwule Männer auf dem Platz – statistisch gesehen. |