| # taz.de -- Zustände im Altenheim: „Dem freien Markt geopfert“ | |
| > Pflege-Missstände können durch Netzwerke und Mut zur Anzeige aufgeklärt | |
| > werden – nicht aber die Ursachen dafür, sagt Pflege-Aktivist Reinhard | |
| > Leopold. | |
| Bild: Reinhard Leopold (zweiter von links) geht für gute Pflege auch auf die S… | |
| taz: Herr Leopold, können Sie Menschen ruhigen Gewissens empfehlen, ihre | |
| Angehörigen im Alter in ein Pflegeheim zu schicken? | |
| Reinhard Leopold: Es gibt durchaus Menschen, die in einem Pflegeheim | |
| regelrecht „aufblühen“, wenn sie so beispielsweise aus ihrer vorherigen | |
| Einsamkeit herauskommen. Andere möchten aber genau das nicht, sondern nur | |
| ihre Ruhe. Kaum ein Mensch tauscht aber freiwillig seine Unabhängigkeit und | |
| sein gewohntes Zuhause gegen ein relativ kleines, aber teures Zimmerchen. | |
| Und vor dem Hintergrund des herrschenden Pflege-Notstands und meinen | |
| persönlichen Erfahrungen kann ich gewiss keine Empfehlung dafür geben, im | |
| Alter in ein Pflegeheim zu gehen. | |
| Die Altenpflegerin, die in der letzen Woche vom Landgericht Bremen | |
| verurteilt wurde, weil sie im Forum Ellener Hof eine Bewohnerin misshandelt | |
| hat, konnte nur durch eine versteckte Kamera überführt werden. Wie schwer | |
| ist es, Gewalt in der Pflege nachweisen zu können? | |
| Für Angehörige und betroffene Menschen ist es so gut wie unmöglich, auf | |
| üblichem Wege Gewalt in der Pflege nachzuweisen. Sie sind meist Laien und | |
| können hinsichtlich einer mangelhaften Versorgung oder Gewalt lediglich | |
| Vermutungen haben. | |
| Wie verhalten sich die Menschen, die feststellen, dass ihre Angehörigen | |
| mangelhaft gepflegt oder gar misshandelt werden – und wie sollten sie sich | |
| verhalten? | |
| Die meisten Angehörigen trauen sich nicht, Mängel offen anzusprechen, | |
| geschweige denn, anzuzeigen – das ist das größte Problem. Denn nur Fehler, | |
| die bekannt sind, können abgestellt werden. Als ehemals betroffener | |
| Angehöriger ist es mir seinerzeit ähnlich gegangen. Erst später habe ich | |
| gelernt, dass man Probleme deutlicher ansprechen und deren Beseitigung | |
| fordern muss. Heute würde ich alle Möglichkeiten nutzen, um Beweise zu | |
| sammeln und zu dokumentieren. Außerdem ist es sehr wichtig, den Kontakt zu | |
| anderen Angehörigen aufzubauen. So können sie feststellen, ob sie ähnliche | |
| Probleme haben und sich zusammenschließen – das ist meist erfolgreicher als | |
| der Alleingang. | |
| Das Verhalten der verurteilten Altenpflegerin wurde nicht nur im Forum | |
| Ellener Hof, sondern auch in anderen Einrichtungen, in denen sie gearbeitet | |
| hat, recht stillschweigend geduldet: Sie verlor zwar zahlreiche | |
| Arbeitsstellen schon nach kurzer Zeit wieder, wurde aber ansonsten nicht | |
| belangt und bekam immer wieder neue Jobs. Wie ist Ihre Erfahrung mit der | |
| Aufklärung von Missständen durch Heimleitungen oder Instanzen wie dem | |
| Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK)? | |
| Bei den zuständigen Behörden und Institutionen muss leider festgestellt | |
| werden, dass Heimaufsichten, MDK, Polizei und Staatsanwaltschaft personell | |
| nicht ausreichend ausgestattet sind. Das führt dann zu solchen | |
| Merkwürdigkeiten, dass beispielsweise die Staatsanwaltschaft – trotz | |
| massiver Belege – das Verfahren einstellt „mangels hinreichenden | |
| Tatverdachts im Sinne einer hinreichenden Verurteilungswahrscheinlichkeit“. | |
| Gute Pflegeanbieter erkennt man nicht zuletzt an einem funktionierenden | |
| Qualitätsmanagement. Die Betonung liegt auf „funktionierend“, denn Qualit�… | |
| nur auf dem Papier nützt niemandem. Pflegekräfte decken leider aus Angst zu | |
| oft Fehler und Mängel und machen sich so mitschuldig. Manchmal ist | |
| Schweigen schon Gewalt. | |
| Die Anwältin der Pflegerin sprach von strukturellen Problemen, von | |
| Überlastung der Pflegenden durch Personalmangel. Das hieße, Gewalt in | |
| Pflegeheimen müsste an der Tagesordnung sein. Ist das so? | |
| Fakt ist, dass der Personalmangel allgegenwärtig ist. Nun gibt es Menschen, | |
| die damit gut, andere weniger gut und manche überhaupt nicht klarkommen. | |
| Für eine vernünftige, menschenwürdige Pflege braucht man ausreichend Zeit. | |
| Ist die nicht vorhanden, kann das Voraussetzung für Gewalt sein. Wobei | |
| anzumerken ist, dass Gewalt nicht erst mit Schlägen anfängt. Psychische | |
| Gewalt kann manchmal sogar grausamer als körperliche sein. | |
| Der Bundestag will 2015 das erste von zwei Pflegestärkungsgesetzen auf den | |
| Weg bringen, das vorsieht, die Leistungen für Pflegebedürftige und | |
| Angehörige auszuweiten. 20.000 zusätzliche Betreuungskräfte sollen | |
| eingestellt und ein Pflegevorsorgefonds eingerichtet werden. Ein richtiger | |
| Schritt? | |
| Es ist ein erster richtiger Ansatz, aber es sind leider nur | |
| Trippelschritte. Die Leistungserhöhungen sind absolut nicht ausreichend. | |
| Vor allen Dingen der Vorsorgefonds wird von vielen Seiten sehr kritisiert. | |
| Selbst beim Koalitionspartner SPD gibt es Stimmen, die davor warnen, mit | |
| Versichertenbeiträgen am Kapitalmarkt zu spekulieren – es können im Zweifel | |
| verlorene Beiträge sein. Im Gesetzesentwurf ist weder etwas zur | |
| Verbesserung der Fachkräfte-Situation zu finden noch darüber, wie man | |
| Betrug und Korruption im Pflegebereich künftig unterbinden will. | |
| Die Ausbildung zum Altenpfleger ist nicht gerade attraktiv – wenn | |
| zusätzliche Betreuungskräfte eingestellt werden sollen, müssen aber | |
| Auszubildende her. Sieht das Pflegestärkungsgesetz hier irgendwelche | |
| Maßnahmen vor? | |
| Es gibt an keiner Stelle des Entwurfs einen Hinweis darauf, woher die | |
| 20.000 Betreuungskräfte kommen sollen und was gezahlt werden soll, damit | |
| irgendjemand überhaupt diesen Job machen will. Im Übrigen brauchen wir | |
| nicht mehr Laien und Lakaien, sondern mehr Professionalität in der Pflege. | |
| Der Kranken- und Pflegebereich wurde in den zurückliegenden Jahren durch | |
| eine völlig falsche Politik dem freien Markt geopfert. Die sozialen | |
| Notwendigkeiten blieben dabei unberücksichtigt. | |
| Pflegende Angehörige sollen ab 2015 größere finanzielle Unterstützung | |
| bekommen – wird sie sich dann tatsächlich spürbar verbessern? | |
| Menschen, die ihren Beruf aufgeben, um einen nahen Verwandten oder Freund | |
| zu pflegen, landen früher oder später in Hartz IV – und die angekündigten | |
| finanziellen Mittel werden nicht wirklich eine andere Situation | |
| herbeizaubern. Abgesehen davon tragen Informationsdefizite und | |
| organisatorische Hürden mit dazu bei, dass auf bestehende Ansprüche | |
| verzichtet wird. | |
| Sie haben einen guten Einblick in die Pflegesituation im Land Bremen. Sind | |
| die Menschen in Heimen und bei ambulanten Pflegediensten in Bremen gut | |
| aufgehoben? | |
| Auch in Bremen gibt es zu wenig Fachpersonal. Grund dafür ist die | |
| Unattraktivität des Berufs. Die erwartete und geforderte Leistung wird zu | |
| schlecht bezahlt, zudem wird zu oft immer wieder nur befristet eingestellt. | |
| Teure Imagekampagnen und andere Werbeaktionen sind rausgeworfenes Geld, | |
| wenn nicht endlich der Beruf insgesamt aufgewertet wird. Die Wertschätzung | |
| der Pflegekräfte und ihrer Arbeitsleistung durch die Arbeitgeber ist zu | |
| gering bis nicht vorhanden. In der Bevölkerung hingegen ist das Ansehen von | |
| Kranken- und Pflegekräften, gleich nach Feuerwehrleuten, am größten. | |
| Die Bremer Pflegeeinrichtungen haben im Januar nach einer Prüfung durch den | |
| MDK die Durchschnittsnote 1,4 erhalten – die schlechteste Note war eine | |
| 2,2. Das heißt, dass sogar das schlechteste Heim noch gut ist – wie kann | |
| das sein? | |
| Das bisherige Bewertungssystem des MDK ist kläglich gescheitert. Das ist | |
| öffentlich und lange genug kritisiert und diskutiert worden. Ob das | |
| überarbeitete System realitätsnäher sein wird, darf bezweifelt werden. | |
| 7 Aug 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schnase | |
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