# taz.de -- Die Wahrheit: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg | |
> Homestories sind immer nur so gut wie die Besuchten: Auf Visite beim | |
> Ersten Weltkrieg im friedlichen Lothringen. | |
Bild: Die Jubiläums-Tortenschlacht des Ersten Weltkrieges steht 2014 unmittelb… | |
Unter weltweiter Anteilnahme feierte vor Kurzem der Erste Weltkrieg seinen | |
Hundertsten. Die Wahrheit hat den rüstigen Jubilar in seinem beschaulichen | |
Lothringer Domizil besucht. | |
Hécatombe-la-Gaillarde ist eine typische Siedlung in der französischen | |
Provinz: 30 Prozent Rechtsextreme, 70 Prozent Arbeitslose, 100 Prozent | |
Unzufriedene. Das Reihenhäuschen, das der prominenteste Einwohner des | |
Bilderbuchdorfes bei Verdun bewohnt, unterscheidet sich auf den ersten | |
Blick kaum von den Nachbarhäusern. | |
Obwohl es heißt, er sei reicher als Bernie Ecclestone, protzt der Erste | |
Weltkrieg nicht mit seinem Geld. Das Vorgärtchen ist liebevoll gestaltet. | |
Zwischen bunten Blumenbeeten verlaufen pittoreske Schützengräben, aus denen | |
Gartenzwerge in historischen Uniformen MGs auf den Besucher richten. | |
Gipsrehe mit Gasmasken inmitten von Sandsäcken, Stacheldrahtverhauen und zu | |
Blumenkübeln umfunktionierten Kampfpanzern vervollständigen das pastorale | |
Bild. | |
## | |
Gerade als ich den Klingelknopf drücken will, ertönen Detonationen und eine | |
wütende befehlsgewohnte Stimme hinter dem Haus. Der Hintergarten sieht aus | |
wie ein Schlachtfeld: Bombentrichter, zertrampelter, aufgeworfener Rasen, | |
überall tote Vögel, Feldmäuse, Maulwürfe. „Die Biester sind Gift für mei… | |
Rosen“, ruft ein drahtiger Greis und kommt mir zur Begrüßung mit einem | |
Bündel Handgranaten entgegen. Schäferhund Gaston und die beiden Kater | |
Panther IV und Tiger II tollen fröhlich um seine Beine. | |
Wenig später sitzen wir im gemütlichen, mit Zinnsoldaten, Bajonetten, | |
Feldpostkarten und leichter Artillerie vollgestopften Wohnzimmer. Der | |
Gastgeber tischt auf, es gibt Graubrot mit Gulasch-Ersatz und | |
Brennnesseltee, dazu selbstgebrannten Slibowitz. Obwohl er viel von der | |
Welt gesehen hat, („nur in Amerika war ich leider nie zu Gast“) hat der | |
1914 in einem Kaffeehaus in Sarajevo als Sohn serbischer Wirrköpfe Geborene | |
seine Wurzeln nicht vergessen. „Meine Anfänge waren schwierig“, sagt er und | |
zündet sich eine Selbstgedrehte an. „Von den europäischen Großmächten | |
wollte ja keine mich haben.“ – „Aber dann haben Sie alle Skeptiker und | |
Zauderer überzeugt“, meine ich. „Zum Glück stand die Bevölkerung von Anf… | |
an hinter mir und ist begeistert mitgegangen. 17 Millionen Tote können | |
nicht irren.“ | |
## Kleine Atempause | |
"Kam der Waffenstillstand denn als Enttäuschung?", will ich wissen. "War da | |
nicht noch mehr drin?" - "Ach was", winkt er ab, "die kleine Atempause | |
hatten wir alle nötig, damit die Beteiligten sich wieder sortieren konnten. | |
14-18 steckte ich ja noch in den Kinderschuhen, vieles war suboptimal. | |
Gucken Sie sich nur die Panzer von damals an, kaum mehr als Seifenkisten."- | |
"Ja, da ging es im Zweiten Weltkrieg deutlich professioneller zu", sage | |
ich. Der Erste Weltkrieg starrt mich an. "Wie jetzt … Zweiter Weltkrieg?" - | |
"Na, 39-45? Ihr Nachfolger im Amt?" | |
Der Erste Weltkrieg haut mit der Faust auf den Tisch, dass Schnapsgläser | |
und Zinnsoldaten erklirren. "Es gibt nur einen Weltkrieg und das bin ich." | |
- "Wollen Sie mir weismachen, 39-45 sei ein lokaler Konflikt gewesen?", | |
frage ich überrascht. "Aber das war doch ich selbst, in alter Frische." Der | |
Erste Weltkrieg sieht mich an wie einen besonders begriffsstutzigen | |
Rekruten. "Nach dem sogenannten Waffenstillstand ging es sehr flott mit dem | |
polnisch-russischen Krieg von 1920 weiter. Ach, es war eine wilde Zeit. Und | |
überall gewann ich neue Mitstreiter. Zu meinen traditionellen Verbündeten | |
Patriotismus, Religion und Kapitalismus gesellten sich nun auch Faschismus | |
und Bolschewismus." Er blickt verträumt in die Ferne. "Das einsame | |
Highlight aber war mein Spanienurlaub - waren übrigens auch viele Deutsche | |
da. Guernica war echt der Burner." | |
"Und das alles wollen Sie - der Erste Weltkrieg - gewesen sein?" So langsam | |
scheint der alte Herr die Geduld mit uns zu verlieren: "Was glauben Sie | |
denn? Nur ein blutiger Zivilist in seinem Elfenbeinturm verkennt die | |
tieferen Zusammenhänge, die allen weltweiten Konflikten zugrunde liegen. | |
Nach jedem Gemetzel heulen alle ,Nie wieder Krieg' und während meine | |
Partner aus Politik und Wirtschaft mich noch öffentlich verleugnen, sitzen | |
wir längst wieder im Hinterzimmer und bereiten die nächste Episode vor." | |
"Aber die langen Friedenszeiten geben doch Hoffnung?" - "Feuerpausen", | |
verbessert mich mein Gastgeber, "wir Profis nennen es Feuerpausen." - "Gut, | |
dann lassen Sie uns zum zweiten, pardon, zur nächsten Phase des Ersten | |
Weltkriegs kommen, 39-45?" - "Das war ein Knaller, was? Mal wieder mit | |
meinen Freunden aus aller Welt durch die Botanik gefetzt und Europa in | |
Trümmer gelegt. Vor allem die Deutschen haben ihre typischen | |
Kämpferqualitäten gezeigt, aber Russen, Amis und Briten haben auch nicht | |
schlecht gespielt und kleinere Nationen wie Belgien eben ihren | |
Möglichkeiten entsprechend. Nur Frankreich und Italien, pfft?" | |
"Kein Wunder auch, dass alle so geplättet waren, danach", sage ich. "Das | |
Kriegsende hatte schon was von Antiklimax. Und merkwürdigerweise gaben am | |
Ende alle mir die Schuld und wollten mich loswerden?" - "Eben", pariere ich | |
triumphierend, "endlich war Frieden und der währt bis heute …" - | |
"Papperlapapp", unterbricht er mich, "Sie haben immer noch nichts aus der | |
Geschichte gelernt, junger Mann. Alle haben weitergemacht, nur anderswo. | |
Nach dem Krieg ist vor dem Krieg." | |
"Aber …" Er unterbricht mich: "Gehören Korea, Algerien, Vietnam, Israel, | |
Syrien, Jordanien, Ägypten, Nordirland, Falkland, Ruanda, Kongo, Mali, | |
Somalia, Iran, Irak, Jugoslawien, Palästina, Georgien, Tschetschenien etwa | |
nicht zu Ihrem Planeten?" - "Sekundäre Konflikte", werfe ich verzagt ein. | |
"Wollen Sie meine Geschichte hören? Dann nennen Sie mir einen Krieg der | |
letzten 50 Jahre, der ohne direkte oder indirekte Beteiligung von Russen, | |
Amis und derer Verbündeten auskam?" | |
"Na gut. Was haben Sie nach 1945 so getrieben?" - "Da ich mich in Russland | |
ein wenig erkältet hatte, wollte ich eine Luftveränderung und habe Ostasien | |
besucht. Erst Korea, dann Indochina. Viele meiner alten Freunde hatten | |
dieselbe Idee, alles war voller Russen und Amerikaner. Es waren fruchtbare | |
Jahre, viele Konflikte schwelen bis heute." - "Aber in Europa herrscht | |
Frieden," sage ich starrsinnig. "Westeuropa", verbessert er mich. "Da habe | |
ich die kriegerischen Handlungen seit 1945 outgesourct und deshalb werden | |
in Frankreich, Deutschland, Großbritannien etc. die Waffen jetzt | |
störungsfrei produziert." | |
## Gelehrige Schüler | |
"Im Übrigem gehe ich vor wie ein kluger Bauer: Schlachtfelder nicht zu | |
intensiv bewirtschaften, sie auch mal ein paar Sommer brachliegen lassen, | |
damit Boden und Bevölkerung sich wieder erholen." - "Wenn das so ist, dann | |
sollten Sie den Nahen Osten mal verschnaufen lassen." - "Ach, die hören | |
längst nicht mehr auf mich in ihrem Wahn, so gelehrige Schüler hatte ich | |
selten. Und momentan werde ich eh anderswo gebraucht … " | |
Ein Motorengeräusch unterbricht uns. "Sie entschuldigen mich", ruft er | |
erfreut. "Mein Hubschrauber. Ich habe noch einen Termin in Donezk." Während | |
er seine Kampfmontur anlegt, beklagt er sich über ewiggestrige Fans: "Mir | |
scheint, als ob denen die alten Sachen besser gefallen, als meine aktuellen | |
Arbeiten. Das frustriert ein wenig. Außerdem finde ich ,Welt'-Krieg so | |
einen antiquierten Namen." - "Wie möchten sie denn gern heißen?" - | |
"Global", sagt er, "nennen Sie mich Global." | |
16 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Francis Kirps | |
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