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# taz.de -- Landtagswahl in Thüringen: Ich, sagt Bodo Ramelow
> Er könnte als erster Linkspartei-Politiker Ministerpräsident werden. Doch
> auf dem Weg dahin gibt es Hindernisse. Ist eines davon Ramelow selbst?
Bild: Wahlkämpfen, wo Thüringer Urlaub machen: Bodo Ramelow am Zinnowitzer Os…
THÜRINGEN taz | Der Weg zur Macht führt über Meuselwitz. Die Sonne knallt
auf den Marktplatz der Kleinstadt im Altenburger Land im äußersten Osten
von Thüringen. Zwei Dutzend Ältere stehen etwas distanziert um eine kleine
Bühne der Linkspartei. Es ist Juli, der Wahlkampf beginnt. Bodo Ramelow
will Ministerpräsident werden. Diesmal oder nie. Da ist kein Marktplatz zu
klein.
Ramelow springt auf die Bühne und rückt dort erst mal eine meterhohe,
knallrote Marx-Figur in die Sonne. Karl Marx wirkt lässig, Hand in der
Jackentasche. Kein Denkmal, dieser Kunststoff-Marx ist eher ein
Maskottchen. Oder ein Gartenzwerg.
Der Kandidat tut, was er am besten kann. Reden. Er hat eine rauchige, tiefe
Stimme, etwas kratzig auch. Mal hebt er die Hand, mal geht er ein wenig in
die Knie und drückt sich wieder hoch, um Sätze zu unterstreichen. Vor den
paar Leuten, in einer Stadt, in der kein Zug mehr hält, hilft Ramelow, dass
er sich leicht erregen kann. Auch wenn es um Dinge geht, die selbst den
Leuten hier nicht so dringlich vorzukommen scheinen. Die kommunale
Neuordnung in der Gemeinde Krauthausen etwa.
Während die Genossinnen und Genossen in Berlin über Krieg und Frieden
diskutieren, regt sich Ramelow über die Pleite der Stadtwerke Gera auf.
Dass eine Beraterfirma vor dem Bankrott noch eine Million Euro abkassierte.
Zornig macht ihn auch, dass die mittlere Ebene der Verwaltung wächst. Er
findet, dass mehr Entscheidungen in die Kommunen gehören. Land, Kommune.
Zwei Stufen. So stellt er sich das vor. Wozu dazwischen noch eine dritte?
„Die Verwaltungsreform“, sagt Ramelow nach der Rede in Meuselwitz,
„interessiert die Bürger nicht. Aber sie ist wichtig.“
Herr Ramelow, warum wollen Sie unbedingt Ministerpräsident werden?
„Zur Demokratie gehört der Wechsel“, sagt er. Mehr nicht. Als wäre dieser
Regierungswechsel, für den er gerade über die Marktplätze zieht, gar nichts
Besonderes. Als ginge es nicht darum, ob er der erste Ministerpräsident der
Linkspartei wird.
Es wäre die Vollendung der Erzählung der PDS. Das Symbol, dass die
Postkommunisten endgültig Teil der bundesrepublikanischen Normalität
geworden sind. Er wäre der Kretschmann der Linken, ein Zeichen, das über
Erfurt hinaus strahlen könnte. Dietmar Bartsch, Linkspartei-Pragmatiker,
hofft, dass der Ministerpräsident Ramelow auch „die Linkspartei heftig
verändern würde“ – Richtung Realpolitik, Richtung Rot-Rot-Grün in Berlin.
## Großer Sieg für ein großes Ego
Würde Bodo Ramelow tatsächlich in die Staatskanzlei in Erfurt einziehen, es
wäre ein großer Sieg für ein großes Ego. Der Verfassungsschutz führte
jahrzehntelang eine Akte über ihn, ein trübes Kapitel in der Geschichte
deutscher Geheimdienste. Als Ramelow nach Jahren die Klage gegen die
Observierung gewann, hat er geweint. Ein Ministerpräsident, der einmal als
Verfassungsfeind verdächtigt wurde – das wäre ein Clou.
Auf seinem Weg in die Staatskanzlei gibt es jetzt noch zwei Hindernisse.
Die SPD, die als drittstärkste Partei mitmachen müsste. Und ihn selbst.
Im Juli, ein Café in Berlin, unweit des Reichstages. Zwei Dutzend
Hauptstadtjournalisten begutachten den ersten möglichen Ministerpräsidenten
der Linkspartei. Was wird Rot-Rot oder Rot-Rot-Grün tun? Robin Hood spielen
in Erfurt?
Ramelow hält erst mal einen Vortrag über Kommunalfinanzen, das
Pumpspeicherwerk in Schmalwasser, das die CDU aus Opportunismus nicht will.
„Wir versprechen keine Wohltaten, sondern einen Prozess der Veränderung.
Bei der Bildung und Verwaltungsreform“, sagt er. Es sind rundgeschliffene,
abgewogene Sätze. Einen Witz gönnt er sich dann doch: „Wir werden am
Rennsteig Wachtürme bauen, damit das Kapital, das scheue Reh, nicht nach
Bayern fliehen kann“, sagt er. Eine routinierte Koketterie mit dem Image
der Linkspartei als Umstürzler.
Ramelow ist 58 Jahre alt und schon lange im Osten. Er kam 1990 aus Hessen
nach Thüringen. Über die DDR-Misswirtschaft zieht er her, als wäre er bei
der CDU. Er ist gläubiger Protestant in der recht gottlosen Linkspartei.
Auf Parteitagen, auf denen es eher nach billigem Rasierwasser riecht, trat
er mit seiner dritten Frau, der Italienerin Germana Alberti vom Hofe, auch
schon ganz in Weiß auf. Er ist, das ist die Botschaft, der etwas andere
Genosse.
## Ramelow kam gleich nach der Wende aus Hessen
Die Hauptstadtjournalisten würden gern etwas Provokantes notieren. Wie
früher. Da hat er SPD-Politikern mal befohlen, das Maul zu halten.
Nichts dergleichen. Was Bodo Ramelow 2014 öffentlich in Rage bringt, ist
nicht, dass es mit dem demokratischen Sozialismus in Thüringen noch etwas
dauern wird. Sondern der Busbahnhof in Eisenach. Der sieht aus, sagt er
empört, wie in der DDR. „Die Besucher, die im Lutherjahr 2017 nach Eisenach
kommen, sehen, wenn sie aus dem ICE aussteigen, als Erstes einen
verrosteten Busbahnhof.“ Das gehe nun wirklich nicht. Das Große und das
Kleinteilige, das Historische und das Lokale liegen bei Bodo Ramelow dicht
beieinander.
Gastwirt Adam strahlt wie ein Kronleuchter, als Ramelow den Reussischen Hof
in Schmölln beritt. „Herr Ramelow, welche Freude“, ruft Adam und lässt
dabei ein durchdringendes Lachen erklingen, das jederzeit abrufbereit
scheint. Die Begeisterung rührt von früher, als der Linksparteimann
unbürokratisch half. „Wenn es Probleme gibt“, sagt Adam, „rufe ich Herrn
Ramelow an und niemand anderen.“ Adam ist Vorsitzender des ostthüringischen
Gaststättenverbandes, eines Unternehmerverbandes.
Ramelow ist in Thüringen gut verdrahtet. Gleich nach der Wende kam er als
Gewerkschaftssekretär der Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen von
Hessen in den wilden Osten. Bankrotte mussten verhindert, Bürokraten auf
Trab gebracht werden. In Arnstadt half er, eine Brauerei zu retten. Er
konnte Buchhaltung und Insolvenzrecht, war im Aufsichtsrat der Handelskette
Konsum und, so erzählt er das gern, der Mann, der im richtigen Moment die
richtigen Leute kannte. In seinen Geschichten gibt es keine böse
Kapitalisten und ausgebeuteten Arbeiter. Eher Menschen, die versuchen, in
misslichen Umständen das Schlimmste zu verhindern.
## Immer im Dienst für Thüringen
„Bei Ramelow kriegt man eine klare Ansage, ob was geht oder nicht“, sagt
Ramelow, während er sich im Reussischen Hof seinem Mittagessen widmet,
Altenberger Ziegenkäse, eine lokale Spezialität. Es gibt, so sieht er das,
eine gerade Linie vom Gewerkschafter zum Ministerpräsidenten. Immer im
Dienst für Thüringen.
Nicht alle in Thüringen teilen diesen Eindruck. Im Besprechungsraum der
Firma Indu-Sol in Schmölln stehen Berge von Kuchen auf dem Tisch. Die
Stimmung ist kühl. Renee Heidl, Geschäftsführer des Betriebs, sagt: „Sie
als Linker sind ja einseitig für die Arbeitnehmer.“ Die Linkspartei
verprelle Unternehmer, „weil sie nur Hartz-IV-Empfänger vertrete“.
Bodo Ramelow keilt nicht zurück. Er findet das erst mal „spannend“. Dann
sagt er den Satz, der die leicht nervöse Stimmung ein bisschen löst: „Die
bösen Unternehmen, die guten Gewerkschaften, so einfach ist es nicht.“ Er
vertrete nicht die Interessen von Verbänden, sondern von Thüringen. Das
klingt bei Christine Lieberknecht, CDU-Ministerpräsidentin, Duzfreundin
Ramelows, nicht anders.
Unternehmer Heidl und sein Kompagnon bleiben skeptisch. Es folgt ein
Klagereigen. Zu wenig Fachkräfte, zu wenig ausgebildete Jugendliche.
Indu-Sol, Umsatz rund acht Millionen, hundert Mitarbeiter, produziert für
den globalen Markt, Steuerungselemente, die in Maschinen Schäden frühzeitig
erkennen. Eine junge Deutsche, die Chinesisch kann, wird demnächst für die
Firma in China arbeiten. Die internationale Konkurrenz schläft nicht, sagt
Heidl. Doch in Thüringen sei ihr Antrag auf Innovationsförderung einfach
abgewiesen worden.
## Er hilft gerne Firmen
Ramelow verspricht, mit dem Wirtschaftsminister zu reden, ob man da nichts
tun kann. Es ist eine seiner Lieblingsrollen: Firmen helfen. „Es gibt“,
sagt er, „manche Betriebe, die ihre Existenz mir verdanken.“
Der Geschäftsführer ist über die Ablehnung seines Förderungsantrages so
fassungslos, dass er die Geschichte gleich zwei, drei, vier Mal erzählt.
Ramelow steht irgendwann auf, fotografiert mit dem Smartphone eine
Werbewand von Indu-Sol, postet das Bild auf Facebook und schreibt:
„Schmölln sucht händeringend junge Leute“.
Dass die Landesregierung den Versandhändler Zalando, der miese Löhne zahlt,
im großen Stil unterstützt, nicht aber dieses aufstrebende Unternehmen im
ostthüringischen Nirgendwo, das geht nicht, findet Ramelow.
Wir brauchen gute Manager, sagt Unternehmer Heidl, am besten aus dem
Westen. Aber wer kommt überhaupt aus dem Westen hierhin in den Osten?
Ich, sagt Bodo Ramelow.
## Er passt das politische Design der Stimmung an
Während die Junge Union vor fünf Jahren „Stoppt Ramelow!“-Flyer verteilte,
kennt dieser Wahlkampf keine Aufreger. Die DDR? Ist lange her. Gegen die
NPD treten CDU und Linkspartei gemeinsam auf – das war unter Bernhard Vogel
noch kaum vorstellbar. Die CDU hat sich von Dieter Althaus’ Plan, Thüringen
als Niedriglohnland zu vermarkten, langsam entfernt. Die politischen
Unterschiede sind kleiner als vor fünf oder zehn Jahren.
Ramelows politisches Design passt in diese Stimmung. Bloß nicht zu viele
Ecken und Kanten. Nicht, dass sich jemand daran stößt. In der Bild-Zeitung
attestiert er der Großen Koalition, dass die durchaus nicht „alles falsch
macht“. Auf den Wahlplakaten mit seinem Konterfei steht: „Es muss nicht
alles anders werden, aber wir können vieles besser machen“. Das klang bei
Gerhard Schröder, eigentlich dem Lieblingsfeind der Linkspartei, 1998 fast
wortgleich. Bodo Ramelow, Mann der Mitte.
Ein Feld gibt es, auf dem Linke und Konservative fast immer
aneinandergeraten: Gymnasium gegen Gemeinschaftsschule, Elite gegen
Egalitäres. Sucht die Linkspartei wenigstens bei der Bildung die scharfe
Kontroverse?
„Nö“, sagt Ramelow in Meuselwitz und schüttelt den Kopf.
Man wolle längeres gemeinsames Lernen, aber die Schulen müssten abgeholt
werden, wo sie sind. Er ist in Hessen in den 70er-Jahren zur Schule
gegangen, als die SPD einen Kulturkampf für Gesamtschulen führte.
„Schulreformen von oben gehen nicht“, hat er daraus gelernt. So klingen
Sozialdemokraten, die aus den Desastern der Planungseuphorie klug geworden
sind.
## Abhängig von der SPD
Nach der Wahl wird alles von den Sozialdemokraten in Erfurt abhängen. Die
Hälfte ihrer Wähler will die Fortsetzung der Koalition mit der CDU. Die
andere Hälfte will Rot-Rot. Die Sozialdemokraten halten sich daher alles
offen.
Es gibt in der Ost-SPD zwar noch Vorbehalte gegen die SED-Nachfolgepartei.
Aber sie schwinden. Ein Brandenburger Ex-Bundestagsabgeordneter beklagte in
einem Protestbrief, wer Ramelow zum Ministerpräsidenten mache, breche damit
das Grundgesetz. Er fand allerdings kaum Mitstreiter, schon gar nicht in
Thüringen.
Als die SPD 2013 das Ende der Doktrin verkündete, nie einen
Linkspartei-Ministerpräsidenten zu wählen, traten zwei Sozialdemokraten in
Thüringen aus Protest aus, mehr nicht. SPD-Landesgeschäftsführer René
Lindenberg sagt: „Rot-Rot zerreißt uns nicht mehr.“ Er lobt die „neue
Sachlichkeit zwischen SPD und Linkspartei“. In der Stadt Erfurt regiert
schon Rot-Rot-Grün.
Im Willy-Brandt-Haus in Berlin schreckt nicht das Label Ex-SED, sondern die
Ahnung, dass Linkspartei und SPD sich stark ähneln. Als Juniorpartner einer
anderen sozialdemokratischen Partei wird es die SPD schwer haben, heißt es
im Umfeld von Parteichef Sigmar Gabriel.
## „Er überschätzt sich“
Manche in der SPD in Thüringen stören die als grandezzahaft empfundenen
Auftritte des linken Solotänzers. „Ramelow überschätzt sich und
unterschätzt administratives Handeln“ sagt ein Ex-SPD-Minister. Skeptiker
in der SPD zweifeln, ob Ramelow eine Regierung führen kann. Ob er seine
Fraktion hinter sich hat. Ob er den medialen Druck aushält, wenn alle nach
Erfurt schauen. Man erinnert sich vielleicht an 2009, als Rot-Rot schon
einmal möglich war und an Ramelow und dem aus Berlin importierten SPD-Mann
Matthias Machnig scheiterte. Beide sind etwas zu schnell, zu laut, zu
selbstbewusst für die Provinz. Zwei Alphatiere waren eins zu viel.
„Ach, was“, sagt die Grüne Astrid Rothe-Beinlich. Sie kennt Ramelow seit
1992, unter anderem von Anti-Nazi-Aktionen. „Bodo ist seit Jahrzehnten in
Thüringen aktiv.“ Wenn Sozialdemokraten unterstellen, nur sie selbst
könnten regieren, sei das „billig“. Sollte es für Rot-Rot nicht reichen,
braucht Ramelow die Grünen. Rothe-Beinlich zählt zum linken Flügel der
Grünen in Thüringen. Sie will endlich mitgestalten. Politisch sei
Rot-Rot-Grün möglich – auch die Schuldenbremse sei „kein unlösbares
Problem“.
Die CDU allerdings wird um die Macht kämpfen, die sie nach 24 Jahren zu
verlieren droht. Deshalb wird Christine Lieberknecht die SPD nach dem 14.
September mit Nettigkeiten, Kompromissangeboten und Ministerposten
überschütten. Wie 2009. Obwohl die CDU damals fast doppelt so viele Stimmen
wie die SPD hatte, bekam die Sozialdemokraten vier Ministerposten – genauso
viele wie die CDU.
## Viele halten ihn für einen Choleriker
Bleibt noch eine Hürde für Ramelow auf dem Weg nach ganz oben – er selbst.
Das Aufbrausende, Hochfahrende in ihm. In der Linkspartei erinnern sich
viele an typische Ausraster. Vor allem als er die Fusion von PDS und WASG
managte. In der Parteizentrale in Berlin stellte Ramelow sich damals mit
dem Satz vor: „Ich habe einen schlechten Ruf und nicht vor, ihn zu
verbessern“. Der WASG-Mitgründer Klaus Ernst sagte mal: „Manchmal hab ich
gedacht, der Bodo frisst morgens schon Reißnägel.“ Viele halten ihn für
einen Choleriker. Er weiß das.
„Es kann sein, dass Leute, die schwächer sind, Angst haben, wenn ich laut
werde“, sagt er. Es ist Mitte Juli, er sitzt in Erfurt in seinem eher
spartanischen Fraktionsbüro. „Lahmarschigkeit in der Fraktion macht mich
verrückt.“ Um sich in Griff zu bekommen, hat er mit seinem
Linkspartei-Kollegen Dieter Hausolt einen Code vereinbart. Wenn er
ausflippt, fasst Hausolt ihn an die Schulter. Dann geht er vor die Tür,
sich abregen.
Ramelow hat ein erstaunliches Gedächtnis und redet aus dem Stegreif fast
druckreif. Er ist, so sieht er es, im Kopf schneller als andere. „Bestimmte
Fähigkeiten zu haben, kann einsam machen“, sagt er.
## Die Mutter prügelte auf ihn ein. Er versteht das, sagt er
Als Aufsteiger hat er sich nach oben gekämpft. Der Vater kam mit Gelbsucht
aus dem Krieg und starb, als Bodo elf war. Ein behütetes, heimeliges
Elternhaus, protestantisch, norddeutsch. Die Mutter, willensstark, streng,
stammte aus einer Familie mit vielen Pfarrern. Einer hat Goethe getauft.
Bei Ramelows in Osterholz-Scharmbeck musizierte man. Die drei Geschwister
spielten Instrumente. Bodo nicht. Kein Klavier, keine Gitarre, kein
Akkordeon.
„Alles, was mit Finger zu tun hat, ist bei mir Totalausfall“, sagt er. Er
war außerdem Legastheniker, unerkannt. Die Diktate waren Katastrophen. Die
Lehrerin sagte der Mutter: „Bodo ist hochintelligent, aber stinkend faul.“
Er hätte aber nicht gekonnt, selbst wenn er gewollt hätte.
Das Schlimmste aber war nicht die Schule, nicht die Versagensangst, das
Scheitern. Sondern die Mutter, die ihn mit der Peitsche schlug. „Es waren
Gewaltorgien“ sagt er.
Heute, sagt er, verstehe er die Mutter. „Vier Kinder, kein Einkommen, der
Mann todkrank. Und dann der faule Sohn. Sie war überfordert“, so erklärt er
das.
Das Verstörende war, dass diese Familie doch eigentlich ein Hafen in einer
schwierigen Welt war. Man war arm, aber hielt zusammen. Dann die Gewalt,
dort, wo man sich geschützt glaubte.
## Präzise reden, schneller denken
Weil Schreiben so schwer fiel, verlegt sich Ramelow auf das Verbale.
Präzise zu reden, schneller zu denken. Er lernte Einzelhandelskaufmann bei
Karstadt in Gießen. Die Legasthenie wurde erst diagnostiziert, als er 19
war. Die Ausbildung schaffte er, weil es Multiple-Choice-Tests gab. Der
Meister bescheinigte ihm, dass er der beste Lehrling war, den er je geprüft
habe. Ramelow erzählt das mit stolzem Lächeln. Es ist ein Sieg, noch immer,
vierzig Jahre später. Über sein Handicap, über das nagende Gefühl, ein
Versager zu sein.
Was ist von diesen Schrecken geblieben? Er hat die Prügel mit Hilfe von
Psychologen verarbeitet, mit der Mutter hat er sich versöhnt. Nichts also?
„Die Empfindlichkeit“ sagt Ramelow. „Die ist mein Nachteil.“ Deswegen s…
er so unduldsam.
Am 17. Juli geht der Oppositionsführer Ramelow im Erfurter Landtag zum
Rednerpult. Die Generaldebatte steht an. Gerade hat Regierungschefin
Lieberknecht siebzig Seiten vom Blatt abgelesen und ihr Kabinett gelobt.
Ramelow redet frei, gestikuliert, schmeichelt, polemisiert. Er wettert
gegen die Straßenausbaubeiträge, die das Land von den Kommunen fordere, als
würde es um das Weltböse an sich gehen. Es ist ein Rede mit viel Verve, in
einem Parlament, in dem rhetorische Talente etwa so häufig sind wie
Christen in der Linkspartei.
Heike Taubert, die etwas farblose SPD-Spitzenkandidatin, hatte ihn zuvor in
einem Interview persönlich angegriffen. Ramelow sei „diktatorisch“ und
„selbstverliebt“. Eine Provokation, ausgerechnet von der SPD-Kandidatin,
die ihn doch wählen soll. Taubert gehört zu denen, die bei Rot-Rot eher
bremsen.
Ramelow erwähnt das mit keinem Wort. Er lobt vielmehr Tauberts Reden über
Rechtsextremismus. Per Lokalzeitung lässt er ausrichten, er finde die
SPD-Kandidatin persönlich recht nett.
Er lässt sich nicht provozieren. Wer sich ihm in den Weg stellt, wird
umarmt.
25 Aug 2014
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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