# taz.de -- Kommentar Wahlenthaltung im Osten: Der Motor der Demokratie stockt | |
> Der Landespolitik in Ostdeutschland fehlt es an Kontroversen. Die | |
> potenziellen Wähler fühlen sich nicht als Subjekt der Demokratie. | |
Bild: Stehengeblieben auf der Suche nach der Demokratie | |
Vielleicht gibt es Ostdeutschland nicht mehr und wir haben es nicht | |
bemerkt, weil sich der Prozess zu langsam vollzog, um die | |
Wahrnehmungsschwelle zu überschreiten. Der Osten hat sich, jedenfalls wenn | |
man auf das Soziale und Wirtschaftliche schaut, aufgefächert. Ältere, | |
regionale Prägungen sind deutlicher geworden. Der traditionell | |
industrialisierte Südosten boomt, der Nordosten ist teilweise geworden, was | |
er schon im 19. Jahrhundert war: eine ländliche Auswanderungsgegend. | |
2014 haben Angestellte in Erfurt und Potsdam, was Habitus und Lebensstil | |
angeht, mehr mit Angestellten in Göttingen gemein als mit Minijobbern in | |
einer Kleinstadt in Nordbrandenburg. Ein Arbeitsloser in Eberswalde hat | |
mehr mit einem Arbeitslosen in Ostfriesland zu tun als mit dem Facharbeiter | |
bei Porsche in Leipzig. | |
Trotzdem sind Produktivität und Löhne und auch die Renten in Ostdeutschland | |
niedriger als im Westen, die Arbeitslosigkeit ist höher. Aber dieser Blick | |
allein ist zu grob geworden. Denn die Kluft zwischen florierenden | |
Metropolen wie Leipzig und schrumpfenden Städten wie Schwedt oder Prenzlau | |
wird weiter wachsen. Hinsichtlich Wirtschaft und Demographie hat der Osten | |
als Begriff etwas Schattenhaftes angenommen: Es war mal etwas da, das | |
langsam verschwindet. Es bleibt ein Umriss. | |
Politisch aber gibt es im Osten etwas, das zumindest noch auffälliger als | |
in Westdeutschland ist – eine hartnäckige, achselzuckende Art, sich von | |
demokratischen Ritualen abzuwenden. In Sachsen ging die Hälfte der | |
BürgerInnen nicht zur Landtagswahl. In Thüringen und vor allem in | |
Brandenburg ist zu befürchten, dass am Sonntag noch weniger wählen werden. | |
Zwischen der Uckermark und der Lausitz wollen, laut Emnid-Umfrage, 49 | |
Prozent der BürgerInnen vom Wahlkampf nicht behelligt werden. | |
## Ausdruck der Zufriedenheit? | |
Konservative deuten solche Politikferne gern als stille Zustimmung: Wer | |
nicht zur Urne geht, sende damit die Botschaft an die Regierenden, dass die | |
Sache irgendwie in Ordnung sei. Es mag sein, dass in der Wahlabstinenz auch | |
ein passives Ja steckt. Aber als generelles Deutungsmuster ist das doch | |
allzu gemütlich. Es hat etwas von Selbstberuhigung. Und zwar nicht nur, | |
weil die Nichtwähler oft Rechtspopulisten wie der Alternative für | |
Deutschland oder sogar rechtsextremen Parteien wie der NPD den Weg in die | |
Parlamente bahnen. | |
In der Weigerung zu wählen verbirgt sich auch oft zu stummer Resignation | |
herunter gedimmte Verzweiflung. Es ist kein Zufall, dass vor allem das | |
untere Fünftel bei Wahlen zu Hause bleibt. Offenbar ist das Gefühl, nicht | |
Autor der Demokratie zu sein, im Osten stärker ausgeprägt. Darin ist ein | |
Echo von 1990 zu hören, als der Osten das westdeutsche politische System | |
übergestülpt bekam. Das wollte die Mehrheit der Ostdeutschen damals. Aber | |
es war ein Importartikel, nicht ihre Errungenschaft. | |
So kann man im Osten deutlicher als im Westen beobachten, wie das | |
politische System leerläuft. Weil der Souverän sich zurückzieht und sich | |
wurschtig desinteressiert zeigt, strömen alle Politiker in die Mitte. Bloß | |
keine scharfen Kontoversen! Lieber präsentiert man sich als | |
heimatverbunden, sendet Wohlfühlbotschaften und appelliert an die regionale | |
Identität. Das macht die CDU in Sachsen nicht viel anders als Linkspartei | |
oder SPD in Brandenburg. | |
So begeben sich Souverän und Politik in eine Spirale gegenseitiger | |
Unterforderung. An deren Ende wissen die Bürger wirklich nicht mehr, was | |
eigentlich zur Wahl steht. Warum soll man abstimmen, wenn ja doch alle | |
nahezu das Gleiche wollen? Der Motor der Demokratie, die Wahl zwischen | |
Alternativen, stockt. | |
Das ist kein Grund für Wessi-Überlegenheitsposen. Der postdemokratische | |
Rückzug zwischen Gotha und Eberswalde ist nur die Blaupause für das, was | |
mit Zeitverzögerung auch im Westen passiert. | |
13 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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