| # taz.de -- Landwirtschaft in Ostdeutschland: Der soziale Frieden blieb gewahrt | |
| > Gedanken eines LPG-Vorsitzenden, dem der „Übergang“ vom sozialistischen | |
| > Volkseigentum zum kapitalistischen Privateigentum wider Willen gelang. | |
| Bild: Gerettet: Die Schroeder-Gans Doretta auf der Wiese in Lenzen | |
| LENZEN taz | Er vermisse die Visionen im neuen Gesellschaftssystem, sagte | |
| er 1998. Und das sagt er jetzt wieder. Inzwischen ist Horst Möhring Rentner | |
| und wohnt mit seiner Frau, einer pensionierten Lehrerin, in einem Bungalow | |
| in Lenzen, wo er sich gedanklich mit Hummeln beschäftigt. Seine LPG | |
| „Friedrich Ludwig Jahn“ in Lanz wurde dadurch berühmt, dass er es nach der | |
| Wende schaffte, sämtliche Mitarbeiter, ausgenommen die Vorruheständler, | |
| weiterzubeschäftigen: 300 Leute insgesamt – fast 80 Prozent der Bevölkerung | |
| im arbeitsfähigen Alter der Großgemeinde Lenzen/Elbe in der | |
| Nordwestprignitz. Ihre „Agrar Holding“ bewirtschaftet 4.700 Hektar – davon | |
| 52 Prozent in zwei Landschaftspflegebetrieben, 500 Hektar mit einem | |
| Rinderzuchtbetrieb und 1.024 Hektar mit einem Marktfruchtbetrieb. | |
| Über 2.000 Hektar wurden auf „Bioland“ umgestellt, dessen Produkte, | |
| darunter Wurstwaren und Säfte, über die Marke „Biogarten“ vermarktet | |
| werden. Es gibt außerdem einen Filzverein mit angeschlossener Werkstatt und | |
| einen Naturlehrgarten, dessen Blumen zur Herstellung von „floristischen | |
| Objekten“ und der Weiterverarbeitung von Ölen und Kräuterlikören dienen. | |
| Außerdem promovierten elf Agrarwissenschaftler, unter anderem aus Ghana und | |
| Syrien, auf dem Hof. | |
| Wir sind seit fast 50 Jahren mit Ausstattung und Organisation an diversen | |
| Forschungsprojekten beteiligt. Nach der Wende haben wir selbst eine | |
| wissenschaftliche Tagungsreihe organisiert – die ’Lenzener Gespräche‘, | |
| deren Ergebnisse auch publiziert wurden. Und mit dem Leiter des | |
| Brandenburger Bauernverbands haben wir drei Jahre lang öffentliche | |
| Diskussionen veranstaltet zu der Frage „Sterben die Dörfer der Prignitz?“ | |
| Die Westjournalisten, die sich nach der Wende für den Großbetrieb | |
| interessierten, suchten zunächst vornehmlich nach Dreckecken. Das änderte | |
| sich – spätestens 2000. Da besuchte Bundeskanzler Gerhard Schröder das | |
| Unternehmen, nach einem Rundgang bestellte er aus der Gänsemast eine | |
| geschlachtete Weihnachtsgans. Kurz bevor die gesamte Gänseschar zum | |
| Schlachthof gefahren wurde, hatte ein Mitarbeiter im Kanzleramt eine | |
| „Riesenidee“: Schröder sollte eine seiner Gänse zu Weihnachten | |
| „begnadigen“, wie es ihm US-Präsident Clinton mit einem Truthahn zu | |
| Thanksgiving vorgemacht hatte. So geschah es dann auch. Die Gans „Doretta“ | |
| wurde von der Presse zu einer Story ausgebaut, die sich bis zu ihrem Tod | |
| 2009 im Altenheim „Haus Schönow“ infolge eines Lebertumors in den Medien | |
| hielt. Die taz berichtete damals über den „kleinen Biohof von Horst | |
| Möhring“. Dieser hatte für sein Wirtschaften im Elbauengebiet gerade einen | |
| Naturschutzpreis bekommen. | |
| ## An die Arbeiter- und Buaernfakultät delegiert | |
| Er erzählt sein Leben als Teilnehmer an einem großen Agrarprojekt, der | |
| hinter diesem Werk gerne zurücktritt. Horst Möhring wurde 1939 geboren. Als | |
| Vollwaise kam er auf den Hof seiner Großeltern in Lenzen. 1955 begann er | |
| eine Lehre als landwirtschaftlicher Gehilfe. 1960 bestand er in einer | |
| Lehreinrichtung seine Meisterprüfung. Im selben Jahr fing er in der | |
| dortigen LPG an. Ich habe gemolken und die Bullen gefüttert. Der Betrieb | |
| delegierte ihn dann auf die Arbeiter- und Bauern-Fakultät, wo er Abitur | |
| machte. Danach studierte er Landwirtschaft in Rostock. | |
| 1966 heiratete er seine Frau Christel, die als Grundschullehrerin tätig | |
| war, sie bekamen zwei Kinder, eins adoptierten sie noch dazu. Im selben | |
| Jahr schloss er sein Studium mit einem Diplom ab, danach arbeitete er als | |
| Leiter der Tierproduktion in der 1.000-Hektar-LPG von Mödlich bei Lenzen. | |
| 1968 fasste man diese mit fünf weiteren zu der LPG „Lenzener Wische“ | |
| zusammen. Gleichzeitig investierte man und legte Teile der | |
| Elbe-Überflutungsflächen trocken – zur Stabilisierung der Erträge. Die DDR | |
| musste damals Futtermittel importieren, der Westen reagierte darauf zwei | |
| Mal mit einem Getreide-Embargo, es ging bei dem Projekt mithin darum, | |
| unabhängig von Getreideeinfuhren zu werden. | |
| 1970 bekam die LPG Mittel zur Errichtung einer Jungvieh-Anlage für 5.500 | |
| Tiere – jeweils ein Stall für 1.000 Rinder. 1972 verlegte man die Mündung | |
| der Löcknitz um 12 Kilometer, wodurch eine Rücküberflutung aus der Elbe | |
| verhindert und 10.000 Hektar Ackerfläche geschaffen wurden. | |
| ## Herr über 15.000 Rinder | |
| Im selben Jahr kam es zu einer Trennung der Pflanzen- und Tierproduktion in | |
| den LPG. Trotz seiner Parteilosigkeit wurde Horst Möhring dann in den Rat | |
| des Kreises nach Ludwigslust aufgenommen, er war für die Tierproduktion im | |
| Kreis verantwortlich. Die Bewirtschaftung der Tierbestände wurde neu | |
| überdacht: So sollten die Zucht und Mast der Schweine aufeinander | |
| abgestimmt werden, damit ein Kreislauf im eigenen Landkreis entsteht – wie | |
| viel Mastschweine mussten zum Beispiel am 1. Mai in welchem Stall stehen? | |
| Es ging auch darum, die Arbeit von jedem einzelnen zu qualifizieren. Damals | |
| war ich täglich im Kreis unterwegs – mit Dienstwagen. Es kam die Vision | |
| auf: In jeder Kooperation muss es eine Schafherde geben. Das wurde auch | |
| umgesetzt. | |
| Dann machten die Großherden der Rinder Probleme. Wir hatten 15.000 Rinder. | |
| Die Probleme in der Milchproduktion waren die Euterkrankheiten und die | |
| Milchleistung. Dazu mussten Flachsilos für die Silageherstellung geschaffen | |
| werden, bei der Silagefütterung stellten sich Probleme mit der | |
| Milchqualität ein. Wir produzierten ja Babynahrung, nach der Wende hatten | |
| wir einen Direktvertrag mit Alete/Nestle. | |
| 1974 qualifizierte sich Horst Möhring als Fachingenieur für | |
| Rinderproduktion. 1983 absolvierte er noch ein Zusatzstudium in | |
| Hochschulpädagogik für Tierzuchtleiter. Er kam aber nicht dazu, an einer | |
| Uni zu lehren, denn im selben Jahr wurde er Vorsitzender der LPG “Friedrich | |
| Ludwig Jahn / Lanz“ – und das blieb er bis zur Wende. Sie versorgte 2.000 | |
| Milchkühe, dazu Kälber und Färsen, 2.000 Schafe, 70 Pferde und 800 | |
| Schweine. | |
| ## Brigade für Leute mit Suchtproblemen | |
| Als erstes wurde unter seiner Leitung die Milchviehanlage modernisiert, und | |
| in die Grünlandbewirtschaftung investiert – außerdem eine betreute Brigade | |
| für Leute mit Suchtproblemen geschaffen. Dann wurden mit den Handwerkern | |
| der LPG zwei Kinderkrippen und zwei Gaststätten errichtet sowie ein | |
| Wohnheim für die damals 150 Landwirtschaftslehrlinge gebaut. Die letzten 70 | |
| Auszubildenden wurden nach der Wende in den Westen delegiert, um dort ihren | |
| Abschluss zu machen. Horst Möhrings Sohn machte seinen Meister in Kiel. | |
| Nach der Wende erhielt Horst Möhring mehrere Jobangebote -von Verbänden und | |
| vom Landwirtschaftsministerium in Mecklenburg-Vorpommern. Wir blieben aber | |
| als Leitung zusammen und wandelten die LPG um – gemäß dem | |
| Landwirtschaftsanpassungsgesetz, das die BRD der DDR verordnet hatte. Wir | |
| behielten alle Mitarbeiter, 580 Beschäftigte kamen auf geförderte | |
| Arbeitsplätze. Ich war damals Kreistagsabgeordneter und mithilfe eines | |
| Landrats in Nordrhein-Westfalen holten wir im August 1990 zwei | |
| Ausbildungsfirmen heran. Sie boten eine Spezialschweißer-Ausbildung an, wir | |
| stellten die Räumlichkeiten. Sie organisierten außerdem eine | |
| Berufsqualifizierung – als Altenpfleger, Krankenpfleger und Buchhalter. | |
| Über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und andere Förderungen wurden Hecken | |
| gepflanzt, Müllhaufen abgetragen, ein Pflanzgarten für Farbpflanzen | |
| angelegt und alte Kartoffelsorten weitergezüchtet. Es ging darum, durch | |
| geförderte Arbeitsverhältnisse ältere Kollegen bis zum Vorruhestand zu | |
| bringen. Man kann auch sagen, der soziale Frieden auf dem Dorf blieb | |
| erhalten, weil wir weiter machten. | |
| ## Generation ohne Ismen | |
| Ich fühlte mich verantwortlich für den Übergang und hätte gerne gesehen, | |
| dass der soziale Bereich weitergeführt wird. Er wurde dann in Vereinsform | |
| übertragen. Die Nachfolger machen nur noch den landwirtschaftlichen | |
| Bereich. Sie leisten da gute Arbeit. Und die Zeit ist nun mal so. Wir waren | |
| geprägt, Verantwortung für die Menschen und die Region zu tragen. Das ist | |
| heute nicht mehr unbedingt gewollt oder möglich. Bis auf die | |
| Ausgeschiedenen ist der alte Stab noch da. Es gibt jetzt eine neue | |
| Generation – die ohne Ismen auskommt. | |
| Es geht alles in Richtung Fremdbewirtschaftung. Die Betriebe gehören | |
| zunehmend Investitionsgesellschaften. Mein Sohn arbeitet auf einem Gut, das | |
| einem Großunternehmer gehört. Im landwirtschaftlichen Buchführungsverband | |
| Kiel habe ich erfahren, dass 80 Prozent der Höfe in Deutschland Banken | |
| gehören. | |
| In Mecklenburg sind 38 Prozent der Landwirtschaftsfläche schon in Besitz | |
| von Industriellen und holländischen Agrarunternehmern. Der Boden wird als | |
| Investition gekauft. In der Landwirtschaft geht die Verbindung zum Boden | |
| verloren. Mein Großvater musste den Boden noch riechen, bevor er ihn | |
| bearbeitete, heute wird er reduziert auf eine Nutzung, die sich | |
| kapitalisiert. Die derzeitige Rückbesinnung auf ökologische Kreisläufe ist | |
| gut, wird aber den Kern der Landwirtschaft nicht erreichen. | |
| Horst Möhring hat Angst vor der Entwicklung der deutschen Landwirtschaft – | |
| dass sie eine reine Kapitalanleger-Sache wird und dadurch die Gesundheit | |
| des Bodens aufs Spiel setzt. Im Moment ist die Landwirtschaft noch gut | |
| aufgestellt, außer dass es Probleme mit den Besitzverhältnissen gibt. Wir | |
| als Landwirte sind keine Einheit – in den Verbänden gibt es divergierende | |
| Interessen. Ich denke, bestimmte Grundeinheiten müssen volkseigen sein. | |
| Wenn der Wald und die landwirtschaftlichen Nutzflächen volkseigen würden, | |
| wäre ein anderer Umgang damit möglich. Damals, bei den jährlichen | |
| Plansitzungen, stand der Boden immer als erstes zur Debatte: die | |
| Düngemittelversorgung, der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Wichtig ist | |
| aber auch, genau hinzugucken, wie es den Menschen, den Kollegen geht. Ich | |
| würde mir wünschen, dass man wieder eine gesellschaftliche Vision findet. | |
| Die auch die Landwirtschaft, die Pflanzen- und Tierproduktion umfasst.“ | |
| Als Horst Möhring in Rente ging, zog er sich von allen Posten zurück. Heute | |
| bin ich nur noch Ehrenvorsitzender des Schafzuchtverbands. Vor allem habe | |
| ich mich für den Übergang verantwortlich gefühlt. | |
| 11 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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