# taz.de -- Landwirtschaft in Sachsen: Auf freier Scholle | |
> Die Zwangskollektivierung haben die Dörfer der Ex-DDR überstanden. Dafür | |
> fühlt sich jetzt niemand mehr an Grund und Boden gebunden. | |
Bild: Helmut Kinne: Landwirt im Ruhestand. | |
NAUNHOF taz | Helmut Kinne schiebt mit der Hand die Ohrmuschel vor. Ob er | |
sich an die Kollektivierung erinnert? Aber wie! „Ich hatte die Axt schon | |
geschärft“, poltert er los. Alles anzünden wollte er, den ganzen Hof. | |
„Stockwütend“ war er, weil die 23-Hektar-Wirtschaft 1968 mit allem in die | |
LPG eingebracht werden musste. Helmut Kinne mit Eisen und Fackel als | |
Kämpfer der Entrechteten? Bundeswehrbluse, kräftige Unterarme, Shorts und | |
ein mächtiger Schnauzbart lassen keinen Zweifel – der Mann weiß sich zu | |
wehren. | |
Doch er winkt ab. Nein, nein. Die Eltern haben sich wie alle hier in | |
Fuchshain, einem Ortsteil der Gemeinde Naunhof südöstlich von Leipzig, der | |
Zwangskollektivierung unterworfen und Boden, Geräte, Gebäude und Vieh der | |
LPG vermacht – allerdings mit der Faust in der Tasche und Rachegelüsten im | |
Kopf. | |
Gut, dass Kinne das Familieneigentum verschont hat. Er hat einen gepflegten | |
Dreiseitenhof, Wohnhaus, Scheune, Stall. Efeu rankt. Aus dem Küchenfester | |
zieht Rotkohlduft. Auf der Straße flimmert die Luft, es geht auf Mittag zu. | |
Der Hausherr aber sitzt gegenüber im Büro der Fuchshainer | |
Agrargesellschaft. Sie ist die LPG-Nachfolgerin, die Kinne nach der Wende | |
mit aufgebaut hat und deren Geschäftsführer er viele Jahre war. Kinne, | |
inzwischen 67 Jahre alt, ist Macher geblieben. Kein Rentner, ein Kommandeur | |
steht da im Halbdunkel, und immer ein klares Wort auf der Zunge. | |
„Fuchshain ist nie zu einem Kolchosendorf heruntergewirtschaftet worden“, | |
sagt er zufrieden und nimmt mit seiner Pranke die Brille von der Nase. | |
Kolchose – das war das Schmähwort auf die neue Zeit. Es klang nach | |
Besatzungsregime und Missgeburt – eine sowjetische Kollektivwirtschaft, | |
geleitet von Parteiinstrukteuren und verwahrlost bis zur letzten Furche. So | |
tief wie in Sowjetrussland sollten die Höfe in Fuchshain nie sinken. | |
## „Vom Ich zum Wir“ | |
Bereits 1960 war der Druck auf die Bauern enorm, erzählt Kinne. Sein Onkel, | |
von Tuberkulose geschwächt, war der Erste in der Familie, der wankte. Als | |
er aus dem Sanatorium zurückkehrte, drückte er Kinnes Vater ein Buch in die | |
Hand. „Lies das! Es hat keinen Zweck mehr. Ich gehe in die LPG.“ Bei | |
welcher Lektüre ließ er den Mut fahren? Marx? Lenin? Nein. Kinne hebt den | |
Finger. „Neuland unterm Pflug von Michail Scholochow“. Der spätere | |
sowjetische Nobelpreisträger schildert in dem Roman, wie ein Proletarier | |
und ein Parteisekretär die Bauern in einem Kosakendorf in den Kolchos | |
zwangen. Diese „Umgestaltung“ stand Fuchshain bevor. | |
Helmut Kinne war 22 Jahre alt, als die LPG die Ställe räumen ließ. „So | |
richtig wehgetan hat es, als die Kühe rausgetrieben wurden.“ Es muss wie | |
eine Verschleppung gewesen sein. „Vom Ich zum Wir“, lautete der Schlachtruf | |
der SED – Begleitmusik zur faktischen Enteignung. „Der Hof war nicht mehr | |
der eigene“, sagt Kinne knapp. Aus Bauern wurde Landproletariat, die LPG | |
hieß „Neues Deutschland“. | |
Gut, dass der frühere Verwalter eines Rittergutes der erste LPG-Vorsitzende | |
wurde. „Der hatte die Großraumwirtschaft von der Pike auf gelernt.“ | |
Fuchshain hätte es schlechter treffen können. Kinne studiert Landwirtschaft | |
und arbeitet bald selbst in der LPG, wird Ökonom. Der Rebell rückt in die | |
Führung der LPG auf – ohne Parteiabzeichen am Revers. Kommunist sei er nie | |
gewesen. Darauf legt Kinne großen Wert. | |
## In eigener Hand | |
Großraumwirtschaft – das Wort geht Kinne ohne Gram über die Lippen. Er | |
zieht eine Pappe vom Schrank, die alte Flurkarte von Fuchshain. Eine | |
Dorfstraße, 40 Höfe zu beiden Seiten, dahinter die Handtuchfelder, die seit | |
dem Ende der Dreifelderwirtschaft im 19. Jahrhundert die Flure prägten. | |
Doch diese Grenzen sind seit zwei Generationen verschwunden. Ein Riese | |
scheint über die Felder gegangen zu sein, hat aus Dutzenden Parzellen erst | |
Dreißig-, dann Sechzig-, dann Achtzig-Hektar-Schläge geformt. Auf der | |
Flurkarte mit ihrem Sütterlin lebt eine Welt fort, die draußen versunken | |
ist – wie der Militär-, der Schützen- und der Gesangsverein, einstige | |
Fuchshainer Kulturträger, deren Ablichtungen wie Ahnentafeln an den Wänden | |
hängen. | |
Hat es da nicht wie eine Befreiung gewirkt, als 1990 die LPG aufgelöst | |
wurde? „Ich war wie durch ’n Wind“, gesteht Kinne. Hoffung? Fehlanzeige. | |
Die LPG hatte nicht nur die Feldmark geprägt, sie hat auch die Menschen | |
verändert. Der Wunsch, endlich wieder das eigene Land zu bestellen, war | |
nicht besonders groß. „Verpachtet ihr uns die Flächen?“, fragte Kinne. Die | |
meisten nickten. 1.270 Hektar bewirtschaftet die Agrar-GmbH & Co. KG | |
derzeit. „Wir haben alles noch in der eigenen Hand“, betont Kinne. Keine | |
Investoren, keine Fremden. Gewinn und Pacht werden pünktlich gezahlt. | |
Auf der Straße schiebt Kinne den Efeu beiseite, der das Firmenschild zu | |
überwuchern droht. Zwei Kuhköpfe blicken von der Tafel. Ja, Milch | |
produziere man auch. Kinne frohlockt: „Wir könnten dieses Jahr auf die | |
10.000 Liter kommen.“ Pro Kuh – ein Spitzenwert. Nein, kein Hauch von | |
Kolchosendorf. | |
## Der Verkauf geht weiter | |
„Der Weizen steht ja exzellent“, murmelt Uwe Schirmer. Schirmer, | |
verwaschenes Polohemd, ein kräftiger Dreiangel am Knie und Sandalen an den | |
Füßen, steht am Feldrand, das Dorf Erdmannshain im Rücken, und lässt den | |
Blick schweifen. Schirmer ist einer der Eigentümer, die an die Agrar-GmbH | |
verpachtet haben. Sein Blick bleibt an einen Baum hängen, der wie ein | |
Mahnmal aus dem Weizen ragt. „Schön, dass der noch steht.“ Ein letzter | |
Zeuge dafür, dass die Landschaft einst andere Züge trug. „Ich habe noch | |
gelernt, dass der ideale Schlag 150 bis 200 Hektar groß sein soll“, sagt | |
Schirmer und zeigt auf den blassgelben Weizen. „Das hier sind etwa 60 | |
Hektar.“ Für DDR-Verhältnisse ein Winzling. Schirmer, Jahrgang 1962, hat | |
vor über 30 Jahren in der LPG gelernt. Als „Agrotechniker/Mechanisator“ – | |
so bedeutsam klangen die Berufsbezeichnungen – ist er auf Traktor und | |
Mähdrescher über die Felder gerollt. Seine Eltern, zuvor Einzelbauern, | |
schufteten im Kuhstall. | |
Schirmers Generation sollte die „sozialistische Landwirtschaft“ ins neue | |
Jahrtausend führen. Doch Uwe Schirmer hat die LPG 1987 verlassen. Heute ist | |
er Professor für Thüringische Landesgeschichte an der Universität Jena. Ein | |
Bauer ist er geblieben. Er wohnt auf dem Hof seiner Vorfahren. Eine | |
Entscheidung, für die der Spezialist für Siedlungs-, Agrar- und | |
Reformationsgeschichte die 120 Kilometer täglich bis nach Jena auf sich | |
nimmt. | |
Langsam geht Schirmer über den Friedhof zurück ins Dorf. Mächtige | |
Familiengräber erheben sich. Wie Patriarchen liegen die Bauern in Reihe. | |
Wieder draußen, bleibt Schirmer an vergilbtem Rasen stehen, akkurat gemäht | |
und trostlos wie ein Urnenfeld. „Hier war der LPG-Hof, wo auch mein Traktor | |
stand“, sagt Schirmer. Nach der Wende wurde der Hof komplett abgerissen. | |
Schirmer beobachtet, wie die Bindung an die Höfe nachgelassen hat. | |
Gestandene Bauern seien nach der Wende weich geworden, wenn ein Investor | |
Geld versprach für Ackerland, um darauf Supermärkte, Reihenhaussiedlungen | |
und Gewerbegebiete zu planen. Für Spottpreise ging das Land der Vorfahren | |
über den Tisch. Das, was jahrzehntelang nichts wert war, wurde verhökert. | |
Und der Verkauf geht weiter. Stirbt ein Eigentümer, besteht die Gefahr, | |
dass die Erbengemeinschaft das Land verkauft, auch um Streit zu vermeiden. | |
Wertewandel auf dem Dorf. Gesunde Tiere, fette Böden, solide Scheunen sind | |
keine Währung mehr, die zieht. | |
## Selbst ist der Bauer | |
Gibt es keine Bauern, die ihr Land selbst bewirtschaften? Doch. Dort drüben | |
verkauft einer Kartoffeln. „In meinen Adern fließt grünes Blut“ – Jungb… | |
Stefan steht auf dem Pflaster und lacht. Sechs Hektar hat der Hof. 40 | |
Enten, Kartoffeln, Bohnen, drei Reihen Mais, Getreide. Seine Familie gehört | |
zu den wenigen, die ihr Land nicht an die Agrar-GmbH verpachtet haben. | |
Selbst ist der Bauer. | |
Doch Leben kann man davon nicht, räumt der 42-Jährige sogleich ein. Und so | |
arbeitet er tagsüber als Tischler, erst nach Feierabend wird er zum | |
„Mondscheinbauern“. So hatte es Uwe Schirmer genannt. „Die einen gehen | |
tauchen, reiten oder Fußball spielen. Ich mach Landwirtschaft!“, sagt er, | |
als würde er über ein Hobby reden. „Was machen die Leute in der Stadt den | |
ganzen Abend?“, sinniert er. Während er redet, sitzen die Altbauern im | |
Schatten des Hauses, vor sich Kaffee, Wurst und Brot. | |
Und was hält er von der Großraumwirtschaft? „Die großen Betriebe | |
verteufeln? Nee.“ Er lacht. „Es will ja gar keiner mehr unsere Arbeit | |
machen.“ Das sei beim Gastwirt und beim Bäcker auch so. Die Großen könnten | |
zumindest ihre Leute besser bezahlen. Ihn wurmt anderes. „Das, was mich so | |
ärgert, ist, dass Land nur als Bauland geschätzt wird. Dass es das ganze | |
Volk ernährt, das sieht keiner mehr.“ | |
## Ein sowjetischer Traktor | |
Als Stefan seine Landtechnik zeigt, verfliegt der Groll. Das neueste Stück | |
ist ein sowjetischer Traktor Marke „Belarus“, der mit Grubber und Eggen | |
mitten auf dem Hof steht. Hinten bei den Enten strahlt Stefan wieder. Ein | |
freier Bauer auf freier Scholle. | |
Auf freier Scholle? Die Familie wurde auch unter den neuen Verhältnissen | |
enteignet. Ein Stück der A 38, der Südumfahrung von Leipzig, führt über | |
ihren Acker. Centbeträge hätten sie vom Staat als Entschädigung erhalten, | |
schimpft Stefan. Und die Bodenverwertungs- und -verwaltungsgesellschaft, | |
ein Unternehmen des Bundes, sei es, die gleichzeitig die Bodenpreise in | |
schwindelerregende Höhe treibe. Mehr als 2 Euro pro Quadratmeter fordere | |
sie für Ackerland! Unbezahlbar. „Verbrecher“, entfährt es Stefan, der –… | |
bittet er zum Abschied – den Namen seiner Familie nicht in der Zeitung | |
lesen will. Warum? Er lacht verlegen. Die Nachbarn könnten sich lustig | |
machen – über die Krauterei, den alten Bulldog und das Pferd, das aus dem | |
Fenster lugt. Kurzum, über die bäuerliche Landwirtschaft. So ein Leben | |
scheint nicht mehr angesagt. Wie zur Illustration erzählt er, dass er an | |
Wochenenden mit dem Einspänner übers Land kutschiert. | |
Es gibt inzwischen moderne Ideen im Dorf. Im Haus gegenüber hat eine | |
Katzenpension eröffnet. Einen Hundefriseur gibt es schon. | |
21 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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