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# taz.de -- Vom Stasiaufklärer zum Feldforscher: Der sächsische Antidarwinist
> Schon in der DDR war Michael Beleites Umweltschützer. In seinem neuen
> Buch finden sich provokante Thesen. Ein Besuch.
Bild: 30 Jahre und mehr hat Michael Beleites seine „naturwissenschaftliche Ne…
BLANKENSTEIN taz | „Aus nächster Nähe habe ich gesehen, wie sich
Gartenrotschwänze mit Staren gestritten haben“, erinnert sich Michael
Beleites. Er schwärmt von diesen filigranen Wesen, von ihrer tiefschwarzen
Kehle, der rostroten Brust, dem orangefarbenen Bauch und bekennt: „Da hab
ich gemerkt, wie schön die Vögel aussehen.“ Es klingt immer noch wie eine
Offenbarung, auch wenn das Jahrzehnte her ist. Michael Beleites wird in
diesem Jahr fünfzig Jahre alt, die Kindheit liegt ein halbes Leben zurück,
und doch – dieser Mann hat das Staunen nicht verlernt.
Warum interessiert sich ein Halbwüchsiger für Rotkehlchen, Kleiber und
Gartenrotschwanz? Michael Beleites lächelt still in sich hinein. Beleites
war in der DDR Oppositioneller, Umweltschützer, Staatsfeind. Nach der Wende
bildete er sich zum Landwirt aus, später war er Landesbeauftragter für die
Stasi-Unterlagen.
Eigentlich müsste jetzt ein Buch über die DDR kommen. Doch jetzt sind es
die Vögel der Kindheit, die ihn zu seinem Lebenswerk inspiriert haben. Und
ein fast 700 Seiten starkes Buch, mit dem Beleites keinen Geringeren als
Charles Darwin angreift, ist sicher ein Lebenswerk.
Das Buch auf dem Tisch, schwer wie ein Ziegelstein. Zwanzig Jahre
„naturkundliche Nebentätigkeit“ liegen darin gebündelt, sagt Beleites.
Sakko, Pullover, Stoppelhaare, Dreitagebart, eine Tasse Kräutertee vor sich
– er wirkt wie ein Landpfarrer, der sich in Gedanken an die Schöpfung
vertieft hat. Beleites bewohnt mit seiner Familie das frühere Pfarrhaus von
Blankenstein bei Dresden. Hier hat er die Ergebnisse seiner Feldstudien
gesammelt, systematisiert, verglichen und endlich veröffentlicht. Das
Ergebnis: Beleites’ Beobachtungen stützen Darwins Theorie von der
natürlichen Zuchtwahl nicht. Es muss in der freien Natur etwas anderes
geben, was die Arten formt und zusammenhält.
## Stets mit Kamera
Beleites hat zwei Berufe, ist mehreren Beschäftigungen nachgegangen,
Biologe ist er allerdings nicht, jedenfalls keiner mit
Universitätsabschluss. Er bewirtschaftet mit seiner Frau einen Gärtnerhof,
ein Hektar für Blumen und Kräuter, draußen hinterm Haus. Seine Domäne sind
Zitronenmelisse, Brennnesseln, Huflattich, Lindenblüten, seine Frau kümmert
sich um die Blumenbeete.
Zuvor war er von 2000 bis 2010 Sächsischer Landesbeauftragter für die
Stasi-Unterlagen. Doch nach Dienstschluss verwandelte sich der
Stasi-Aufklärer regelmäßig in einen Naturforscher. „Ich hatte als
Landesbeauftragter meist einmal die Woche in Leipzig zu tun“, erzählt
Beleites. Die Termine waren am Nachmittag erledigt. Danach verabschiedete
er sich und fuhr in die Deutsche Bücherei, eine wahre Schatzkammer.
Beleites lässt sich Dissertationen, Zeitschriften und Aufsätze geben.
Sein Wissenshunger ist enorm. Überhaupt nutzt er jeden freien Augenblick.
Bei Dienstfahrten ist stets die Kamera dabei. Er fotografiert Ratten,
Krähen, Spatzen, Höckerschwäne, Stieglitze, Katzen, natürlich auch
Pflanzen. Oft auch Tauben irgendwo unter Bahnhofsdächern. Seine
Forschungsreisen führen nicht um die Welt, sondern nach Erfurt, Berlin und
Magdeburg. Beleites arbeitet seinen Katalog ab: Welche Färbung hat das
Federkleid der Tauben? Ist es eher wildfarben, schon schwärzlich oder
rötlich? Fehlt es den Federn an Pigmenten?
Er sammelt Krähenfedern und untersucht sie auf Pigmentstörungen und
Festigkeit. Er findet in den Städten Krähen, die weiterziehen, und solche,
die brüten. Die Stadtbrüter zeigen Pigmentstörungen, manche Federn sind
weiß. Sein Schluss: Im urbanen Milieu degeneriert die Population.
## Die alten Koryphäen studiert
Beleites geht mit den Augen eines Feldforschers durch die Stadt, sucht
Dächer und Bäume nach Vögeln ab, fotografiert an Straßenrändern Wildkräut…
– der Stasi-Unterlagen-Beauftragte in recht eigentümlicher Mission. Viele
dieser Bilder finden sich in seinem Buch wieder.
Und er liest die Schriften längst verstorbener Koryphäen der
Evolutionslehre. Er studiert Johann Jakob von Uexküll, der den Begriff der
Umwelt in der Biologie etablierte, und Ernst Mayr, den späteren
Harvardprofessor, der als Junge in Sachsen Vögel beobachtete und die
Population als biologisches System erkannte. Vögel sind auch die Favoriten
von Otto Kleinschmidt. Der Theologe und Ornithologe inspiriert Beleites wie
kein Zweiter.
Kleinschmidt, ein Wanderer zwischen Naturwissenschaften und Theologie,
hatte 1927 in Wittenberg das „Forschungsheim für Weltanschauungskunde“
gegründet. Später in Kirchliches Forschungsheim umbenannt, wurde der Ort in
den achtziger Jahren ein Zentrum der Umweltbewegung. Von hier aus beginnt
Beleites, sich mit dem Uranbergbau zu beschäftigen. Das Resultat seiner
verdeckten Recherche: Die „Pechblende“, eine 77 Seiten starke
Untergrundschrift, in der er die Folgen des Uranbergbaus beschreibt:
Radonbelastung, Gewässerbelastung, Schwefelsäure, Baumsterben, Lungenkrebs,
Silikose. „Das hat die Stasi in Hochform gebracht.“ Beleites lacht kurz
auf. Er darf nicht studieren, nicht ins Ausland reisen, wird zur Kündigung
am Naturkundemuseum Gera gedrängt. Der Operative Vorgang, den die Stasi zu
Beleites anlegt, heißt „Entomologe“.
## Bienenfresser im Tagebau
Doch ganz gleich ob Uran, Landwirtschaft oder Evolution – seinen Anfang
nimmt alles mit den Rotschwänzen, Amseln und Tauben auf dem Pfarrhof von
Trebnitz, einem Dorf südwestlich von Leipzig, wo Beleites aufwächst. Dort,
in Sichtweite der Schlote von Leuna und Buna, im DDR-„Chemiedreieck“, zieht
der Elfjährige mit einem Vogelberinger über die Felder. Sie beobachten den
paradiesisch bunten Bienenfresser, der nun am Tagebau auftaucht, einen
Brüter, der das Subtropische liebt und den der Klimawandel in die
Mondlandschaften der Braunkohlegruben vorschickt. Eine Sensation.
Schon als Schüler fängt Beleites an, Tauben zu züchten. Aus dem Fenster der
Schule beobachtet er den Flug seines Schwarms. „Die Tauben bilden die
Verbindung zu den Variationsstudien, die ich später gemacht habe“, wirft
Beleites ein. „Auch wenn Darwin zu anderen Ergebnissen kam, waren übrigens
auch die Tauben Hauptgegenstand seiner Forschungen.“
Beleites hat gelegentlich beim Reden innegehalten, ist still geworden, als
wollte er seine Fühler ausrichten. Draußen vor dem Fenster schaukelt ein
Futterhäuschen. Immer wieder kommen Vögel geflogen. Auf einem Regal steht
eine ausgestopfte Amsel unter Glas. Eine Arbeit von Beleites aus der Zeit,
als er Tierpräparator war. Sein Biologiestudium, sagt Beleites. „Solide
zoologische Vorlesungen“ hat er als junger Präparator am Naturkundemuseum
Berlin gehört.
## Kritische „Bauernstimme“
Dreißig und mehr Jahre hat er seine „naturwissenschaftliche Nebentätigkeit�…
betrieben. Doch was heißt „Nebentätigkeit“? Das, was Beleites preisgibt,
klingt eher nach Passion. Es ist die Natur, die ihn von Kindheit an
begeistert, die ihn zur „Pechblende“ recherchieren lässt, die ihn – auch…
eine „Nebentätigkeit“ – zu einem Kritiker der Agrarindustrie werden läs…
Erst kürzlich hat er in der Bauernstimme, der Zeitung der
Arbeitsgemeinschaft für bäuerliche Landwirtschaft, wieder für ein neues
Leitbild plädiert. Das ewige „Wachsen oder Weichen“, das Bauern für ein
Naturgesetz halten, habe ausgedient.
„Wachsen oder Weichen“ – auch das klingt nach Darwin. Seine Theorie hat
politische Folgen, ist sich Beleites sicher. Die verhängnisvollste: die auf
die Wettbewerbslogik gegründete Wachstumsgesellschaft der westlichen Welt,
die die Erde immer weiter ausplündert. Doch an den Grundsatz, dass der
Stärkere gewinnt, dass der Kampf ums Dasein und die natürliche Selektion
alles Lebendige geschaffen haben, glaubt er nicht mehr. Das sind nicht die
Prinzipien, die Beleites bei all seinen Beobachtungen erkannt hat. Denn es
ist die Umwelt, das gesamte ökologische Milieu, das viel stärker auf
Zusammenhalt, die Kohäsion einer Population Einfluss nimmt als Darwins
Naturauslese.
Die Vielfalt einer Art, ihre genetische Variation, unterliegt anderen
Regeln als einer ausdauernden Auslese der Geeignetsten. Was sie
zusammenhält, ist der Zugang zu natürlichen Umweltinformationen. Das sind
optische, akustische oder auch elektromagnetische Faktoren, wenn Zugvögel
den Sternenhimmel sehen, ihre Artgenossen hören und das Magnetfeld der Erde
ohne Einschränkungen spüren können. Werden diese natürlichen
Umweltinformationen gestört, so ist auch die Umweltbeziehung gestört.
Beleites nennt diese Wechselwirkung „Umweltresonanz“ – so ist der Titel d…
Buches; sein Untertitel: „Grundzüge einer organismischen Biologie“.
„Organismisch“ soll heißen, dass er die Biologie, die „Lehre vom Leben�…
nicht auf Moleküle und Zellen reduziert, sondern die Schwärme, Populationen
und Ökosysteme als ganzheitliche Systeme sieht.
## Was sagen die Biologen?
Beleites nimmt einen Schluck Tee. Er wirkt friedlich, fast weich, auf den
ersten Blick kein Kämpfertyp – und will doch Darwin vom Sockel stoßen. Was
sagen denn die Biologen dazu? Die meisten etablierten Biologen ziehen
Darwin nicht mehr in Zweifel, haben sich aber der Molekular- und
Zellbiologie zugewandt. Der Darwinismus sei für viele der heutigen Biologen
„mehr Bekenntnis als Erkenntnis“. Beleites winkt ab. „Ist eine Lehre erst
einmal zum Dogma geworden, lässt sich mit Fakten und Argumenten nicht mehr
viel ausrichten.“ Es wirkt nicht so, als glaube er an eine große
wissenschaftliche Debatte. Eher hat da jemand sein Herz freigeschrieben.
Immerhin, einer hat sich zu Wort gemeldet. Der Biologe und Ökologe Michael
Succow geriet nach der Lektüre ins Schwärmen. Beleites habe erkannt, dass
man sich von der „zerstörerischen, alles rechtfertigenden Wettbewerbslogik“
lösen müsse, schreibt er. Sein Buch „gibt dem immer größeren Kreis von
Zweiflern, von nach Zukunftsfähigkeit Suchenden endlich wirkliche
Argumente.“ Man kann Succow, den Träger des Alternativen Nobelpreises von
1997, als einen Verbündeten bezeichnen. Die hat Beleites auch nötig.
Ein Grashalm ziert den Buchtitel, ein Tautropfen, den die Sonne funkeln
lässt, ein Beleites-Foto – und irgendwie ein Hoffnungsschimmer.
19 Jul 2014
## AUTOREN
Thomas Gerlach
## TAGS
Sachsen
Umweltschutz
Reiseland Australien
Landwirtschaft
DDR
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