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# taz.de -- Debatte Bewahrung von Kulturen: Vermischt euch!
> Die Sehnsucht nach „unverfälschter Kultur“ ist über politische Lager und
> soziale Milieus hinweg beliebt. Das ist aber ein gefährlicher Irrglaube.
Bild: Authentische Kultur, aber ist sie bayerisch? Oder deutsch? Oder europäis…
Andalusien, Serrano-Schinken über dem Tresen, ausgestorbene Straßen zur
Siesta – von so was wird auf Partys gern mal geschwärmt. Abends in
Hinterhöfen dann Flamenco. Der Flamenco mit Seele, versteht sich, nicht der
für Touristen. So toll, so ursprünglich, so echt. Eine gewachsene Kultur,
ganz unverdorben von der Gleichmacherei durch McDonald’s und Starbucks.
Immer wieder hört man auf Familienfeiern oder Partys solche Geschichten.
Sie spielen mal in der Toskana, mal in der Provence, mal anderswo.
Kultur-Nostalgie ist über politische Lager und soziale Milieus hinweg en
vogue. Doch die Sehnsucht nach unverfälschter Kultur, die sich hinter dem
schwärmerischen Palaver verbirgt, ist ein gefährlicher Irrglaube. In
letzter Konsequenz legitimiert das Beharren auf kollektive Verschiedenheit
nämlich Ausgrenzung und Diskriminierung bis hin zu ethnischen Säuberungen
und Völkermord. Ethnopluralismus ist nur auf den ersten Blick ein
tolerantes, friedliches Konzept. Vielmehr ist es die gefährlichste
intellektuelle Waffe der Neuen Rechten. Kulturen sind nicht per se
schützenswert!
Seit Ende der 70er Jahre haben Autoren wie Alain de Benoist, Henning
Eichberg und Pierre Krebs die rechte Ideologie grundlegend umgemodelt,
indem sie auf die Abwertung vermeintlich minderwertiger Rassen
verzichteten. Den belasteten Begriff der „Rasse“ ersetzten die Vordenker
der Neuen Rechten durch „Ethnie“ und „Kultur“.
Krebs forderte ein „Recht auf Verschiedenheit“ für alle Kulturen. Er
wünschte sich eine „heterogene Welt homogener Völker, nicht umgekehrt“.
Dieser Slogan des Ethnopluralismus spricht auch vielen
antiimperialistischen Linken aus der Seele. Statt „american way of life“
und „Meltingpot“ soll das Ursprüngliche einer Kultur erhalten bleiben,
selbst wenn jene, die von einer bestimmten Kultur sozialisiert sind, nicht
mehr dort leben, wo die Kultur herkunftsbezogen verortet ist. So gedacht,
fußt auch Multikulturalismus auf der Vorstellung bewahrenswerter
Unterschiede kultureller Gruppen.
## Deutsche wie ein Indianerstamm
Für Benoist schließt dieses Recht auf Verschiedenheit zwangsläufig auch
„die Verpflichtung mit ein, dieses Recht auszuüben“. Mit anderen Worten:
Unter allen Umständen muss verhindert werden, dass sich Kulturen
vermischen. Das würde sie erst überfremden, dann vernichten.
Um die dämonisierte Vermischung zu verhindern, müssen Menschen – so der
Schluss der Rechten – aus anderen Kulturkreisen ferngehalten werden.
Eichberg hat folgerichtig ein „Kulturkonzept Deutschland den Deutschen“
propagiert. Denn natürlich muss Deutschen das gleiche Recht auf eigene
Kultur zustehen wie einem bedrohten Indianerstamm. Die Brisanz des
vermeintlich toleranten Modells einer Kulturenvielfalt ist evident: Im
Ethnopluralismus ist der Ausländer nur so lange wertgeschätzt, wie er im
Ausland bleibt.
Ethnopluralistische Botschaften sind allgegenwärtig. Die NPD verbrämt seit
Jahren ihre Ausländerfeindlichkeit mit dem Recht auf kulturelle
Verschiedenheit. Aber auch viele, die in Talkshows oder Foren für eine
multikulturelle Vielfalt werben, beziehen sich implizit auf kulturelle
Gruppenzugehörigkeit, wie sie Charles Taylor in seinem Essay
„Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung“ begründet hat. Taylor
ging es um die Wertschätzung und rechtliche Absicherung
kulturell-ethnischer Gruppen. Dieses Modell des Multikulturalismus ist bei
genauerem Hinsehen eine Art Ethnopluralismus im Miniaturformat.
Der Diskurs über gesellschaftliche Vielfalt kreist heute zwar stärker um
Diversität, die jedem zugesteht, mit unterschiedlichen kulturellen Codes zu
leben. Gleichwohl lebt das Ideal von „Multikulti“ weiter. Gegen Leitkultur
oder Sarrazin wurde gern mit einem Bekenntnis zur multikulturellen
Gesellschaft argumentiert. Der Philosoph Wolfgang Welsch erkennt im
Multikulturalismus „bei allen guten Intentionen die Unterstellung einer
kugelartigen Verfassung der Kulturen“. Wer in der Kugel gefangen ist, muss
mitmachen – ob er will oder nicht.
## Falsche Rücksicht
Allzu viel Verständnis für kulturelle Unterschiede kann fatale Folgen
haben. Mitarbeiterinnen der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes haben
schon vor Jahren falsche Rücksichtnahme der Behörden bei Fällen von
Zwangsheirat und häuslicher Gewalt etwa unter türkischstämmigen Migranten
beklagt. Und immer wieder haben Richter „Ehrenmördern“ ihre kulturelle
Prägung zugute gehalten. Im März sagte ein Richter in Wiesbaden, ein
Deutschafghane, der seine schwangere Exfreundin erstochen hatte, habe sich
„aufgrund seiner kulturellen und religiösen Herkunft in einer Zwangslage
befunden“.
Am Ende läuft es auf die simple Frage hinaus, was mehr zählt: Kultur oder
Mensch. Kollektiv oder Individuum. Wer Kulturen über alles stellt,
entmündigt den Einzelnen. Zwangsverheiratete türkischstämmige Mädchen
müssten demnach die Familienehre achten, ohne Recht auf ein Glück abseits
dieses archaischen Ehrbegriffs. Es macht einen fundamentalen Unterschied,
ob man sich frei zu einer Kultur bekennt oder dazu genötigt wird. Das eine
ist Selbstbestimmungsrecht. Das andere Freiheitsentzug.
So charmant eine Welt verschiedener Kulturen erscheint, so wenig
überzeugend kann der Ethnopluralismus sie herleiten. Denn welchem Kollektiv
zu huldigen ist, bleibt willkürlich. Ist die fränkische Kultur
schützenswert? Oder die bayerische? Die deutsche? Gar die europäische oder
doch die der westlichen Welt? Für jede dieser „Kulturen“ lässt sich ein
organisches Wachstum behaupten, dessen Status quo bewahrt werden muss.
## Nichts ist in Stein gemeißelt
Heißt das nun im Umkehrschluss, Kulturen seien wertlos? Natürlich sind
einzelne Kulturgüter schützenswert. Doch schon beim Schutz der Sprache muss
man genau unterscheiden. Wenn Kurden in der Türkei den offiziellen Gebrauch
ihrer Muttersprache einfordern, berufen sie sich auf ein Menschenrecht.
Wenn aber in Frankreich ein Gesetz zum Schutz der französischen Sprache
erlassen wird, das Fremdwörter aus dem öffentlichen Gebrauch verbannen
will, greift das in absurder Weise in individuelle Freiheitsrechte ein.
Sprachen sind ein gutes Beispiel dafür, dass Kulturen nicht in Stein
gemeißelt sind, sondern sich entwickeln. Natürlich heißt es T-Shirt und
nicht „T-Hemd“. Das sagen nur Sympathisanten der NPD.
Trotz seiner Widersprüche ist Ethnopluralismus europaweit ein populäres
politisches Programm. Wenn etwa schottische Nationalisten die
Unabhängigkeit anstreben, können sie sicher sein, viele Europäer auf ihrer
Seite zu haben. Klein gegen groß. Selbst- gegen fremdbestimmt.
Befreiungsnationalismus wird von links bis rechts als legitim angesehen.
Vergessen wird häufig, dass es diesen Bewegungen oft in erster Linie nicht
um demokratische Selbstbestimmung, sondern um Nationalismus geht. Von
friedlicher Staatsgründung bis zum Massenmord – unter dem Banner des
Befreiungsnationalismus ist alles möglich. Im zerfallenden Jugoslawien
endete der kollektive Wahn einer Sehnsucht nach ethnischer und kultureller
Reinheit für Tausende in Massengräbern. Lange hatten serbische, kroatische
und bosnisch-muslimische „Ethnien“ friedlich zusammengelebt. Bevor im Namen
der jeweiligen Kultur vertrieben, vergewaltigt und gemordet wurde. Die
„ethnischen Säuberungen“ zeigen drastisch, was passiert, wenn nur noch
Kulturen und Völker zählen und nicht mehr der Mensch.
Menschen sind wichtiger als Kulturen. Wer will, soll Traditionen pflegen.
Wer das nicht will, hat jedes Recht, es zu lassen. Wir brauchen auch keine
Leitkultur. Wir haben Gesetze. Kulturelle Reinheit ist ohnehin eine
Illusion. Auch das geliebte, unverdorbene Andalusien ist ein wildes Mosaik.
Überall haben die Mauren ihre Spuren hinterlassen. In Granada die Alhambra,
in Sevilla die Giralda. Menschen vermischen und verändern sich. Kulturen
auch.
14 Sep 2014
## AUTOREN
Michael Kraske
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