# taz.de -- Literatur von Paulo Coelho: Lebenshilfe als Belletristik getarnt | |
> Die Romane des brasilianischen Schriftstellers Paulo Coelho sind äußerst | |
> erfolgreich. Sein neues Buch „Untreue“ gibt dennoch Anlass für Kritik. | |
Bild: Viel gelesener Autor: Paulo Coelho (Archivbild, 2009). | |
„Untreue“ heißt das gerade erschienene neue Buch des brasilianischen | |
Erfolgsautors Paulo Coelho. Es ist ungefähr das 25. und es wird sich wie | |
die meisten seiner Vorgänger millionenfach verkaufen. Die Geschichte ist | |
schnell zusammengefasst: Frau ist in der Ehe unzufrieden, betrügt ihren | |
Mann, beendet Affäre, alles gut. | |
Das Buch wird in der deutschen Fassung mit einer Startauflage von 200.000 | |
Stück auf den Markt geworfen, und angesichts der üblichen Verkaufszahlen | |
ist das für den Verlag vermutlich kein Risiko. Denn die Bücher von Paulo | |
Coelho verkaufen sich wie geschnitten Brot. Allein „Der Alchimist“ wurde | |
weltweit 65 Millionen Mal verkauft. Im Ein- bis Zweijahresrhythmus | |
veröffentlicht Coelho seine Romane, dazu kommen diverse Zitatsammlungen. | |
Aber warum sind diese Bücher dermaßen erfolgreich? An literarischen | |
Kriterien kann es nicht liegen. Denn „Untreue“ ist ein sehr schlechter | |
Roman. Ich-Erzählerin Linda, 31, ist Journalistin und lebt mit ihrem | |
reichen Mann und zwei Söhnen in Genf. Erzählt wird in der Gegenwartsform. | |
Würde sie ihre Geschichte rückblickend erzählen, wären die vielen Wertungen | |
ihres eigenen Verhaltens etwas flüssiger zu lesen. Denn es ist kein Stream | |
of Consciousness, sondern eine Aneinanderreihung von Erklärungen und | |
Fragen, wie sie kein normaler Mensch je denken oder sagen würde. Linda | |
langweilt sich und hat keine Lust mehr auf Sex mit ihrem Mann, vielleicht | |
kündigt sich eine Depression an. | |
## Blutleere Nichtigkeiten | |
Der größte Teil der 300 Seiten gibt Lindas Überlegungen zu ihrem inneren | |
Zustand wieder, mit Sätzen gefüllt wie: „Wir sind nicht die, die wir gern | |
sein wollen. Wir sind das, was die Gesellschaft verlangt“ oder „In einer | |
gesunden Beziehung ist der Sex für die Stabilität der Ehe viel wichtiger | |
als Zukunftspläne oder Gespräche über Kindererziehung.“ Das ist misslungen, | |
weil blutleer und voller Wiederholungen und Nichtigkeiten. Bei den vielen | |
Logik- und Anschlussfehlern würde man bei raffinierteren Autoren vielleicht | |
an eine unzuverlässige Erzählerin denken. | |
Das Buch ist im „Tell, don’t show“-Stil verfasst: Es wird behauptet, dass | |
Linda ihren Mann liebt, aber sie nennt keinen Grund dafür. „Wir haben zwei | |
Söhne, die (wie meine Freundinnen sagen würden) ’mein ganzer Lebensinhalt‘ | |
sind“, steht auf der ersten Seite. Ein typischer Satz, der Fragen stellt, | |
die nie beantwortet werden: Sind die Söhne nun Lebensinhalt oder gerade | |
nicht? Soll das Ironie sein? Was haben die Freundinnen damit zu tun? | |
Freundinnen, das sei verraten, tauchen nicht auf, und die Söhne werden auf | |
den folgenden 300 Seiten nur erwähnt, wenn sie auf ihren iPads | |
nichtaltersgerechte Ballerspiele daddeln. | |
Als Linda aus Frust vermehrt einkaufen geht, macht sie „eher | |
Verlegenheitskäufe, wie zum Beispiel etwas für den Haushalt“. Wie viel Mühe | |
hätte es dem Autor gemacht, ein paar konkrete Gegenstände hinzuschreiben, | |
damit der Leser irgendetwas hat, was er sich vorstellen kann? | |
## Frage nach dem Erfolg | |
Die Erklärung für den Erfolg des Autors liegt also nicht in der | |
literarischen Qualität der Romane. Aber wie erklären die Leser ihre Liebe | |
zu Titeln wie „Der Alchimist“, „Veronika beschließt zu sterben“ und �… | |
Zahir“? Die zahlreichen 5-Sterne-Rezensionen bei Amazon oder in | |
Social-Reading-Portalen gleichen sich zum Teil aufs Wort: „Regt zum | |
Nachdenken an“ taucht fast in jeder auf. | |
Und immer wird die „Botschaft“, die „Lebensweisheit“, die „Philosophi… | |
gepriesen, die Coelho in „wunderbar einfacher Sprache“ vermittele: „Eine | |
Geschichte, die Mut macht, seine Träume zu verwirklichen“ – „Jeder ist | |
seines Glückes Schmied“ – „Man muss sein Leben bewusst leben, im Jetzt�… | |
literarische Qualitäten, um Spannung, die Entwicklung der Figuren, geht es | |
allenfalls in den wenigen Verrissen, in denen deren Fehlen bemerkt wird. | |
Den Hintergrund für Coelhos Romane bieten ganz unterschiedliche Epochen und | |
Weltgegenden. „Der Alchimist“ reist auf Schatzsuche von Andalusien nach | |
Ägypten, „Veronika beschließt zu sterben“ führt in eine psychiatrische | |
Klinik in Slowenien, „Elf Minuten“ handelt von einer brasilianischen | |
Prostituierten, die in die Schweiz kommt. Aber Coelho schreibt über Orte, | |
an denen er sowieso schon selber war, und auf Details kommt es nicht an. | |
Die Protagonisten haben auch keine je eigene Sprache. Die Informationen | |
über das politische System der Schweiz, die Coelho in „Untreue“ eingebaut | |
hat, waren im Original übrigens völlig falsch und wurden erst nach | |
Übersetzung ins Deutsche vom Lektorat korrigiert. | |
## Geschichten als Verpackung | |
Denn das Setting spielt bei Coelho keine große Rolle. Die Geschichten sind | |
nur die Verpackung für formelhafte Verheißungen wie „Wenn man etwas ganz | |
fest will, dann wird das ganze Universum darauf hinwirken, dass du es | |
erreichen kannst“ („Der Alchimist“). Diese Formeln legt der Autor den | |
Protagonisten in den Mund, die reden und denken wie Motivationscoaches oder | |
Kalenderblätter, oder sie werden von spirituellen Botschaftern überbracht, | |
von Priestern, Hexen, Schamanen, Gurus. | |
Das Muster der Romane ist schlicht: Jemand sucht etwas (einen Schatz, einen | |
Engel, Sinn, ein Schwert) und findet am Ende etwas, was als Liebe | |
bezeichnet wird. Dazwischen liegen Prüfungen und Begegnungen. Wie im | |
Märchen. Der Leser preist die „positive Stimmung“ und kann gar nicht | |
enttäuscht werden: Wenn sich das Finden in seinem eigenen Leben noch nicht | |
eingestellt hat, dann befindet er sich eben noch auf dem langen Weg | |
dorthin. Schließlich ist der Weg das Ziel, oder – in der Coelho’schen | |
Langfassung: „Wenn man auf ein Ziel zugeht, ist es äußerst wichtig, auf den | |
Weg zu achten. Denn der Weg lehrt uns am besten, ans Ziel zu gelangen, und | |
er bereichert uns, während wir ihn zurücklegen“ („Auf dem Jakobsweg“). | |
Wer Bücher von Paulo Coelho kauft, verrät Amazon, kauft auch Bücher mit | |
Titeln wie „Das Engel-Orakel für jeden Tag“ oder „Heilung aus der Mitte. | |
Werde der, der du bist“. Die Leser suchen also keine guten Romane, sondern | |
unterhaltsame, niedrigschwellige Lebenshilfe. Das ist das genial einfache | |
Konzept von Paulo Coelho: Wenn man esoterische Lebenshilfebücher in Romane | |
packt, genügt eine schlichte Geschichte, und auf die Glaubwürdigkeit der | |
Charaktere kommt es nicht an. | |
Das scheint auf den ersten Blick harmlos, was soll daran falsch sein, | |
„seinen Träumen zu folgen“? Doch es geht immer nur um Selbstverwirklichung, | |
Selbsterhöhung, nie um eine Gemeinschaft. Coelhos „Botschaft“ ist nie | |
sozial. Und auch Linda, die frustrierte Icherzählerin in „Untreue“, ist | |
eine durch und durch egoistische Figur. | |
## Reaktionäres Frauenbild | |
„Untreue“ könnte aber auch Hardcore-Coelho-Fans enttäuschen. Denn schlich… | |
optimistische Botschaften gelingen Coelho dieses Mal nicht. Außerdem dürfte | |
es auch gutwilligen Lesern schwerfallen, sich mit Linda zu identifizieren. | |
Die ist verwöhnt, unsympathisch und langweilig. Sie ist unemanzipiert („… | |
ich kann mich dank der Großzügigkeit meines Mannes so attraktiv und teuer | |
kleiden, wie ich will“) und an nichts interessiert. Ein kubanischer | |
Schamane rät ihr schließlich zum Ausleben der Affäre. | |
Nach 200 Seiten kommt es zu Geschlechtsverkehr, nach 300 Seiten ist alles | |
wieder in Ordnung: Ein Wochenende in Interlaken mit dem Ehemann bringt | |
Linda auf den allerletzten Seiten zurück ins häusliche Glück: „Ich begriff, | |
dass von allem das Mächtigste meine Liebe zum Leben, zum Universum war.“ | |
Die Entwicklung zu diesem Punkt hin ist ebenso wenig nachvollziehbar wie | |
die Bedeutung des Satzes. | |
Das größte Ärgernis an „Untreue“ aber ist das Frauenbild, das Coelho vö… | |
ungebrochen vermittelt: Linda öffnet ihrem Jugendfreund gleich beim ersten | |
Wiedersehen, einem Interview in seinem Büro, die Hose zum Blowjob. Obwohl | |
es sie selbst erklärtermaßen nicht befriedigt, beflügelt sie das. Bei den | |
späteren Treffen im Hotel vergewaltigt Jacob Linda anal oder unterwirft sie | |
auf andere Weise. Es kann nur Coelhos Sexfantasien zu verdanken sein, dass | |
seine Hauptfigur, obwohl sie während des Aktes nur Schmerz, keine Lust | |
empfindet, immer mehr davon will: „Im Stillen beschimpfe und hasse ich ihn, | |
aber ich überspiele es mit einem Lächeln.“ | |
Sie gibt sich selbst die Schuld dafür, dass sie es nicht genossen hat („ich | |
war zu schüchtern“), und kommt mit ihren eigenen erwachenden erotischen | |
Fantasien niemals zum Zuge. Will Coelho seinen Millionen Lesern wirklich | |
sagen, dass frustrierte Frauen nur mal richtig rangenommen werden wollen? | |
7 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Angela Leinen | |
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