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# taz.de -- Literatur aus Ruanda: Was dem Völkermord vorausging
> Zwei Jahrzehnte vor dem Genozid: In ihrem Roman erzählt Scholastique
> Mukasonga vom Alltag an einer Mädchenschule in Ruanda.
Bild: Ruanda, 1994.
Ein Mädchen wie Gloriosa gibt es auf jeder Schule. Ein lautes, piesackendes
und besserwisserisches Gör aus guter Familie, das sich selbst und seine
Ansichten für den Nabel der Welt hält. In „Die Heilige Jungfrau vom Nil“,
Scholastique Mukasongas Roman, ist Gloriosa die Tochter des Präsidenten von
Ruanda – ihr Wort hat Gewicht. Für ihre Mitschülerinnen der angesehenen
Schule hat sie nicht viel übrig, schon gar nicht für diejenigen unter
ihnen, die Tutsi sind.
Zu einer von ihnen sagt sie im Vorbeigehen: „Na, Veronica, suchst du den
Weg nach Hause? Keine Angst, ich werde zur Heiligen Jungfrau vom Nil beten,
dass dich die Krokodile auf ihrem Rücken dorthin zurücktragen oder, besser
noch, in ihrem Bauch.“ Wie Pfeile treffen solche Sätze nicht nur das
Mädchen Veronica, die zu den „Quotentutsi“ der katholischen Mädchenschule
gehört, sondern auch die Leserin im Jahr der 20-jährigen Erinnerung an den
Genozid in Ruanda.
Dass dieser sich in die globale kollektive Erinnerung eingeprägt hat,
zeigten die Medienreaktionen des Frühsommers. Einzig die Kontexte des
beispiellosen Mordens, das über 800.000 Menschen 1994 binnen nur zweier
Monate das Leben kostete, bleiben oft ungeklärt. Viele haben nur vage
Vorstellungen von der Rivalität der Hutu und der Tutsi, die durch
kolonialistische Rasseneinteilungen mitgeprägt wurde. Mukasongas Roman
trägt dazu bei, die Hintergründe und Strukturen, die im Genozid gipfelten,
im Alltag des Ruandas der 1970er Jahre aufzuzeigen.
Im Roman bildet der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi zwar das Kernthema,
doch geht es auch noch um ganz andere Dinge. So wird erzählerisch das
alltägliche Netz gespannt, in das sich die Strukturen des Hasses über die
Jahre immer tiefer einflechten konnten. Da gibt es den Pater der Schule,
der Enthaltsamkeit und Frömmigkeit predigt, aber die Mädchen zwingt, sich
vor ihm auszuziehen. Da gibt es die Schülerin, die zu einer Regenmacherin
geht, damit diese ihr für viel Geld ein spezielles Liebespuder für ewige
Treue anmischt. Da geht es um die angstvoll erwartete erste Regelblutung
der Mädchen oder um Zimmerwände mit einem Mix von Heiligen- und
Popstarbildern.
Immer wieder spielt auch der Konflikt zwischen der Welt der Weißen, die die
Bildung, Erziehung und Ernährung der Schülerinnen bestimmt, und den
Traditionen ruandischer Familien eine Rolle. Einmal unterhalten sich die
Schülerinnen über die beste Zubereitungsart von Kochbananen, die sie
angesichts des Internatsessens schmerzlich vermissen. Ein anderes Mal geht
es um den verrückten französischen Plantagenbesitzer, der in einer Kapelle
auf seinem Grundstück die Legenden der Tutsikönige nachstellen will.
## Vermessung der Schädel
Gekonnt lotet Mukasonga so auch die kolonialistischen Hintergründe des
Völkermordes aus, um sie in einigen Szenen an die Oberfläche treten zu
lassen. So macht sich die Schülerin Modesta, die halb Hutu, halb Tutsi ist,
Gedanken über die Rasseneinteilungen der Kolonialherren: „Dass es in Ruanda
nun mal zwei Rassen gab. Oder drei. Das haben die Weißen gesagt, sie haben
es herausgefunden. Sie schrieben es in ihren Büchern. Gelehrte kamen extra
dafür angereist, maßen alle Schädel.“
Die durch die westlichen Forscher vorgenommene „Biologisierung“ der
traditionell durch Sozialverhältnisse bestimmten Unterscheidung von Tutsi
(Rinderbesitzer) und Hutu (Ackerbauern) wird hier mit ironisch-naivem
Unterton von einer gebildeten, jungen Ruanderin aufgegriffen. Dass die
einzelnen Romanfiguren angesichts dieser großen Würfe eher flach bleiben
und auch die Dialoge über historische Entwicklungen der Tutsi und Hutu
bisweilen etwas schulmeisterlich daherkommen, ist zu verzeihen. Denn
Mukasonga gelingt es letztendlich, der ebenso grausamen wie abstrakten
Vorstellung eines von mörderischem Hass getriebenen Konfliktes ein
alltägliches und an Situationen festgemachtes Gesicht zu geben.
Für „Die Heilige Jungfrau vom Nil“ wurde sie 2012 mit dem renommierten Prix
Renaudot ausgezeichnet. Mukasonga ist, wie sie selbst in einem Interview
sagte, überhaupt erst Schriftstellerin geworden, um die Erfahrung des
Genozids zu verarbeiten. 1994 hat sie einen Großteil ihrer ruandischen
Familie verloren. Ihr Roman ist damit auch Zeugnis eines mutigen Umgangs
mit der eigenen Vergangenheit.
26 Sep 2014
## AUTOREN
Carla Baum
## TAGS
Ruanda
Literatur
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