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# taz.de -- Literatur aus Finnland: Schwieriges Erbe
> Die Romane von Katja Kettu, Sofi Oksanen oder Kjell Westö sprechen von
> einer Geschichte, die viel mit den totalitären Blöcken zu tun hat.
Bild: Damit wurde Tove Jansson zur nationalen Ikone: die Mumins.
Bei einem Streifzug durch die Straßen Helsinkis zeigt sich bereits in der
Architektur die wechselhafte jüngere Geschichte Finnlands. Hier die im
Stile des nordischen Minimalismus und Funktionalismus errichteten
Nachkriegsgebäude, dort die mächtige byzantinisch-russische
Uspenski-Kathedrale aus dem 19. Jahrhundert oder der zur Zeit der
Unabhängigkeit Finnlands (1917) im neoklassizistischen Jugendstil
modernisierte Hauptbahnhof.
Neben dem skurrilen Humor der Finnen – man denke etwa an den Musiker und
Tangointerpreten MA Numinnen oder den Filmemacher Aki Kaurismäki – dürfte
es gerade die sich in dieser Kulisse abzeichnende Geschichte sein, die das
Ehrengastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse so interessant macht.
In einer Rede letzte Woche vor der Körber-Stiftung in Berlin verwies
Finnlands Premierminister Alexander Stubb auf einen Zusammenhang, den auch
viele der Schriftsteller seines Landes derzeit bewegt: die aktuellen
Entwicklungen in und mit Russland, die Vorgänge auf der Krim und in der
Ukraine. Finnland teilt als nordöstlichstes Land der Europäischen Union
eine 1.300 Kilometer lange Grenze mit Russland und eine nicht immer sehr
glückliche Geschichte.
Auffällig viele der finnischen Schriftstellerinnen beschäftigen sich heute
mit den Hinterlassenschaften der wechselnden Besatzungs- und
Kollaborationsregime (Nazis und Bolschewiken, Zweiter Weltkrieg). Romane
von Sofi Oksanen, Kjell Westö oder Katja Kettu handeln davon. Finnland
exportiert zur Buchmesse aber auch Kriminalautorinnen wie Leena Lehtolainen
(„Wer ohne Schande ist. Maria Kallio ermittelt“, Kindler), besser als der
gemeine deutsche Fernsehkrimi. Man gewährt zudem Einblicke in die Ursprünge
der finnischen Nationalliteratur.
## Traditionell und gemütlich
Aleksis Kivis „Sieben Brüder (Verlag Jung & Jung) erscheint in neuer
Übersetzung, sein 1870 publiziertes Buch etablierte das Finnische gegenüber
dem Schwedischen als Literatursprache. Johanna Sinisalos sciencefictionhaft
gestaltete Parodie auf den nordischen Überwachungsstaat („Finnisches
Feuer“, Klett-Cotta) spielt hingegen in der Zukunft, moderne
Beziehungsdramen wie Philip Teirs „Winterkrieg“ (Blessing Verlag) könnten
auch an anderen Orten der westlichen Welt ähnlich gedacht und geschrieben
werden.
Eigenartiger wird es bei den Finnen an den Rändern, die mitunter das
Zentrum bilden können. Die Schriftstellerinnen Ulla-Lena Lundberg spricht
ungezwungen von den schönen, hochgewachsenen Frauen auf den Alandinseln.
Hochgewachsen und schön sind sie, weil sie so viel Fisch essen. Lundberg,
geboren 1947 auf der Insel Kökar, ist Tochter eines Pfarrerehepaars. Ihr
autobiografisch angelegter Roman „Eis“ (Mare Verlag) erzählt ein
Familiendrama, in dessen ruhigen Fluss sich im nordischen Winter so
plötzlich wie unerbittlich ein Unglück hineinschleicht.
Damit gewann sie 2012 den Finlandia-Preis und wurde mit über 130.000
verkauften Exemplaren zur Bestsellerautorin (Finnland hat 5,4 Millionen
Einwohner). „Wir Finnen lieben das Lesen“, sagt Paavo Arhinmäki,
Linkspolitiker und bis April Kultusminister Finnlands. Auch die Dichte
hervorragend ausgestatteter Bibliotheken ist weltweit einzigartig. Bücher
wie Lundbergs „Eis“ markieren kollektive Ereignisse. Erstaunlich dabei: Der
Markt für elektronische Bücher ist bislang marginal geblieben, obwohl es
keine Buchpreisbindung wie in Deutschland gibt. Die Finnen lieben es
traditionell und gemütlich.
Aber nicht unbedingt niedlich, wie Tove Janssons Künstlerbiografie zeigt.
Als Erfinderin der Mumin-Trolle ist sie eine nationale Ikone (die
Comic-Strips verlegt auf Deutsch der Verlag Reprodukt). Die 2001
verstorbene Malerin und Schriftstellerin war eine herausragende
Boheme-Figur, wie auch das Buch der Kunsthistorikerin Tuula Karjalainen
zeigt („Tove Jansson: Die Biografie“, Verlag Freies Geistesleben).
## Die Weißen und die Roten
Die Figur Tove Janssons könnte auch Kjell Westö zu einer Szene in seinem
aktuellen Roman „Das Trugbild“ motiviert haben. In dieser paddelt eine für
die 1930er Jahre auffallend kurzhaarige schlanke Frau über die Ostsee,
vorbei an einem schüchternen Hauptstädter. Er, mittleren Alters, hat
Liebeskummer, liegt ermattet von Kabeljaudiät in der prallen Sommersonne am
Ufer der Schereninsel. Paddlerin und Mann unterhalten sich. Er findet die
Frau fast furchterregend, aber auch attraktiv und macht sich komplexbeladen
vor ihr klein. Sie schenkt ihm ein Sandwich.
„Nie zuvor hatte ein Ei in Scheiben so gut geschmeckt“, denkt er und sagt,
er sei ein missratener Anwalt. „Ich bin Malerin“, erwidert sie. „Ich
zeichne. Ich beobachte gerne Menschen und glaube ganz und gar nicht, dass
Sie missraten sind. Vielleicht versuchen Sie ja nur, Ihre Probleme auf die
falsche Art zu lösen.“ Verabschiedet sich und paddelt weiter. Eine
Unterhaltung auf Finnisch (oder Finnlandschwedisch).
Eine Therapeutin könnte der gesamte Kreis gebrauchen, den Kjell Westö für
seinen spannenden Roman entwirft. Westö ist ein Meister des subtilen Humors
und des psychologischen Erzählens. „Das Trugbild“ (btb) beleuchtet die Zeit
zwischen den beiden Weltkriegen. Die junge Republik sieht sich im Osten von
den Bolschewiki bedroht, sucht die Nähe zu (Nazi-)Deutschland. Westö
versammelt eine finnisch-schwedische Herrenrunde in der Hauptstadt Helsinki
Mitte der 1930er Jahre. Er spiegelt deren Verhalten aus der Perspektive der
Anwaltsgehilfin Mathilda Wiik.
Was die Herren nicht ahnen: Die 37-jährige Frau Wiik verbindet ein
furchtbares Geheimnis aus der Zeit des Finnischen Bürgerkriegs mit einem
der Herren. Es geht um die Jahre 1917/1918, als die Weißen (mit Hilfe der
Deutschen), die Roten besiegten und Taten begingen, an die sich die
damaligen Akteure nicht gerne erinnern. Westös „Das Trugbild“ ist ein
großes episches Sittengemälde des früheren Klassenstaats und seiner
kleinkarierten Konventionen. Eine Erinnerung an Klassenkrieg und
anschwellenden Antisemitismus, der auch vor der offenen Manipulation von
Sportwettkämpfen im Helsinki der 30er Jahre nicht haltmachte.
## Vom Wechsel der Seiten
Auch Katja Kettus „Wildauge“ (Galiani Verlag) erzählt von verdrängter
Geschichte. Die junge Lappin Kettu berichtet von einer Liebesbeziehung
zwischen einem deutschen Soldaten und einer finnischen Frau.
Nazi-Deutschland hatte 200.000 Männer in Finnland stationiert, viele davon
im Norden. Und wo die finnischen Männer an der Front gegen die Bolschewiken
kämpften, mischten sich Frauen und Besatzer im Hinterland. Als dann der
Zusammenbruch des Dritten Reichs naht, wechselten die Finnen die Seite und
kämpften 1944/45 gegen ihre vorherigen deutschen Verbündeten.
Nach dem Krieg wurden ausgerechnet die Frauen, die sich mit den Deutschen
eingelassen hatten, diskriminiert, misshandelt und enteignet. Erst dieses
Jahr beschloss das finnische Parlament, die damaligen Opfer und deren Erben
zumindest teilweise zu entschädigen.
Vom Wechsel der Seiten, Nazis, Finnen, Antisemiten und Bolschewiken handelt
auch Sofi Oksanens neues Buch. Über den Umweg Estlands – Oksanens Mutter
ist estnischer, ihr Vater finnischer Herkunft – gelingt der 1977 in
Finnland geborenen Autorin mit „Als die Tauben verschwanden“ (Kiepenheuer &
Witsch, gute Hörbuchfassung auch bei Hörbuch Hamburg) ein großer, aber
umstrittener Wurf. Manche werfen ihr Nationalismus vor. Oksanen verbindet
die Geschichte Finnlands mit der des Baltikums.
Ihr Roman „Als die Tauben verschwanden“ beschreibt die weibliche
Hauptperson Juudit, die in Beziehungen hineingerät, die sie bald selber
nicht mehr überblickt. Ein estnischer Widerstandskämpfer, ein
SS-Hauptsturmführer und ihr zeitweise verschwundener Ehemann Edgar – „die
Hochzeitsnacht verlief unerfreulich“. Der maskenhafte Edgar, ein
Nazi-Kollaborateur und Judenvernichter, wird beim Abzug der Deutschen seine
alten Kleider abstreifen und in die Legende eines ermordeten
Widerstandskämpfers schlüpfen. Er fälscht die Geschichte und beseitigt
alle, die ihm gefährlich werden könnten.
Doch Mitte der 1960er Jahre scheint sich die Schlinge um den Spitzel und
Mörder im sowjetisch kontrollierten Tallinn langsam selbst zuzuziehen,
während Juudit „ihre Wandlung von der Taube zur Schlange“ immerhin
reflektiert. Oksanen thematisiert eine Geschichte von fortdauerndem
Opportunismus und Verrat. Mit Abzug der Deutschen rücken wieder die Sowjets
ein. Es herrscht eine Mentalität, die Oksanen an Figuren wir Edgar und
Juudit gesellschaftlich geschickt umreißt. Eben noch ermordet Edgar Juden,
verfasst antisemitische Studien, 1945 schlüpft er in die Identität eines
Opfers, tyrannisiert fortan im Auftrag der Sowjets seine Umgebung.
Von Estland ist es ein Katzensprung über das Meer nach Finnland. Wer
Oksanens „Als die Tauben verschwanden“ wie manch Kritiker als Kitsch abtut,
hat nicht begriffen, worum es hier geht. Gerade angesichts der expansiven
neuen russischen Politik ist es dringend geboten, sich auch im Westen
vorurteilsfrei mit der Hinterlassenschaft des östlichen Totalitarismus zu
beschäftigen. Oksanen stößt dazu literarisch die Tür weit auf.
7 Oct 2014
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
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