| # taz.de -- Spitzelschutz im NSU-Umfeld: Die wissende Quelle | |
| > Carsten Sz. soll dichter als jeder andere am NSU-Trio gewesen sein. | |
| > Brandenburgs Verfassungsschutz erschwert die Vernehmung beim NSU-Prozess. | |
| Bild: Darf Carsten Sz. hier aussagen? Mit oder ohne Maske? Der Gerichtssaal bei… | |
| Wenn es nach dem Verfassungsschutz Brandenburg geht, soll der V-Mann | |
| Carsten Sz. alias „Piatto“ vor dem OLG München allenfalls anonymisiert | |
| vernommen werden: mit Mütze, falschem Bart, verstellter Stimme, begleitet | |
| von einem Anwalt des Verfassungsschutzes, per Videoschaltung und unter | |
| Ausschluss der Öffentlichkeit. | |
| So will es eine sogenannte Sperrerklärung des Brandenburger | |
| Innenministeriums. Ansonsten will das Ministerium dem früheren V-Mann keine | |
| Aussagegenehmigung erteilen. Gehört werden sollte er eigentlich wie alle | |
| anderen Zeugen auch im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre vier | |
| Mitangeklagten in München am 4. November. | |
| Doch zu groß sei die Gefahr, dass „Links- oder Rechtsextremisten“ im | |
| Gerichtssaal Fotos des Zeugen machen würden, der seit der Enttarnung seiner | |
| V-Mann-Tätigkeit im Juni 2000 im Zeugenschutzprogramm lebt, behauptet die | |
| Behörde. „Am Beispiel Carsten Sz. alias Piatto zeigt sich, wie mit dem | |
| Geheimdienstprinzip ’Quellenschutz statt Strafverfolgung‘ die Aufklärung | |
| von Mord und Totschlag blockiert wird“, sagt Rechtsanwalt Sebastian | |
| Scharmer. Der Anwalt vertritt die Tochter des in Dortmund vom NSU | |
| ermordeten Kioskbesitzers Mehmet Kubasik und hatte mit anderen | |
| Nebenklägervertretern die Ladung von Carsten Sz. als Zeugen beantragt. Er | |
| verweist darauf, dass mit einer Videoübertragung unter Ausschluss der | |
| Öffentlichkeit die Chancen für eine mögliche Revision der Angeklagten gegen | |
| ein Urteil größer würden. Er hält das für einen „Akt der Sabotage“. | |
| Der ehemalige Postazubi Carsten Sz. hatte sich schon als 19-Jähriger in | |
| Westberlin der „Nationalistischen Front“ angeschlossen und die „Weißen | |
| Ritter des Ku-Klux-Klan“ in Deutschland aufgebaut. Im Dezember 1991 fanden | |
| Polizeibeamte unter anderem vier Rohrbombenrohlinge, Sprengstoff und fremde | |
| Reisepässe in einer von Carsten Sz. genutzten Wohnung. Als der | |
| Generalbundesanwalt im Februar 1992 ein Ermittlungsverfahren wegen | |
| Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gegen 33 mutmaßliche | |
| „Weiße Ritter des KKK“ einleitete – darunter auch Carsten Sz. –, macht… | |
| gegenüber den BKA-Vernehmern umfangreiche Aussagen. | |
| Drei Monate später, am 8. Mai 1992, ist Carsten Sz. der Anführer einer | |
| Gruppe von Naziskins, die in einer Diskothek im brandenburgischen Dorfs | |
| Wendisch-Rietz unter lauten „Ku-Klux-Klan“- und „White Power“-Rufen üb… | |
| den nigerianischen Lehrer Steve Erenhi herfallen. Obwohl Zeugen nach dem | |
| Angriff, den das Opfer mit schwersten Kopfverletzungen nur knapp überlebt, | |
| Carsten Sz. als den Rädelsführer benennen, gibt es keine Fahndung nach ihm. | |
| ## Unbehelliigter Propagandist | |
| In den folgenden zwei Jahren wird zwar der Haupttäter des Überfalls auf | |
| Steve Erenhi zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt, doch Carsten Sz. | |
| bleibt unbehelligt. Er nutzt die Zeit, um ein neues Naziheft namens „United | |
| Skins“ herauszubringen und intensive Kontakte im Netzwerk von „Blood & | |
| Honour“ aufzubauen. Die Gruppe versteht sich als politische Soldaten in der | |
| Tradition der Waffen-SS. Um die NS-Ideologie zu verbreiten, setzt „Blood & | |
| Honour“ auf bewaffnete, führerlose Terrorzellen gegen „Rote, Ausländer und | |
| Asoziale“ und auf Rechtsrock, um eine flächendeckende Neonazi-Bewegung | |
| aufzubauen. Mittendrin Carsten Sz. | |
| Erst im Mai 1994 erlässt die zuständige Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) | |
| auf Drängen des Berliner Rechtsanwalts Christoph Kliesing, der Steve Erenhi | |
| vertritt, Haftbefehl gegen Carsten Sz. Noch während er in Untersuchungshaft | |
| sitzt, wird er als V-Mann „Piatto“ verpflichtet. Anfang 1995 wird er zu | |
| acht Jahren Haft wegen versuchten Totschlags im Fall Erenhi verurteilt. | |
| Vor dem NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss schwärmte „Piattos“ ehemaliger | |
| V-Mann-Führer Gordian Meyer-Plath von dem „Quantensprung“ im Wissen über | |
| die Neonaziszene, den der Verfassungsschutz durch die redselige Quelle | |
| „Piatto“ gemacht hätte. Entsprechend kümmern sich die V-Mann-Führer um d… | |
| in der JVA Brandenburg einsitzenden Neonazi: Schon Ende 1997 kommt Sz. in | |
| den offenen Vollzug. Alle 14 Tage wird er von seinen V-Mann-Führern vor der | |
| JVA abgeholt und mit dem Auto zu Neonazitreffen und -konzerten gefahren, | |
| über die er dann Bericht erstattet. Fahrdienste, die selbst nach | |
| Geheimdienstmaßstäben als ungewöhnlich gelten. Am 9. September 1998 hatte | |
| „Piatto“ seinem V-Mann-Führer gemeldet: | |
| „Einen persönlichen Kontakt zu den drei Skinheads soll Jan W. haben. Jan W. | |
| soll zur Zeit den Auftrag haben, die drei Skinheads mit Waffen zu | |
| versorgen. Gelder für diese Beschaffungsmaßnahmen soll die ’Blood & | |
| Honour‘-Sektion Sachsen bereitgestellt haben. Die Gelder stammen aus | |
| Einnahmen aus Konzerten und dem CD-Verkauf. Vor ihrer beabsichtigten Flucht | |
| nach Südafrika soll das Trio einen weiteren Überfall nach dem Erhalt der | |
| Waffen planen, um mit dem Geld sofort Deutschland verlassen zu können. Der | |
| weiblichen Person des Trios will Antje P. ihren Pass zur Verfügung stellen. | |
| […].“ | |
| Zu diesem Zeitpunkt wurde das NSU-Trio aus Jena gerade einmal sechs Monate | |
| wegen Sprengstoffbesitzes und Rohrbombenbau per Haftbefehl gesucht und war | |
| in Chemnitz bei Kameraden aus dem Neonazinetzwerk „Blood & Honour“ | |
| untergekommen. Nahezu unbehelligt kann Carsten Sz. auch das Heft „United | |
| Skins“ aus der Haftanstalt herausgeben. Das entwickelt sich schnell zum | |
| bundesweiten Sprachrohr für „Blood & Honour“ und dessen Terrornetzwerk | |
| „Combat 18“ – versehen mit ausführlichen Grüßen an die „Chemnitzer | |
| Kameraden“. Insbesondere Jan W., Antje und Michael P. werden namentlich | |
| genannt. Die vorzeitige Haftentlassung auf Bewährung Ende 1999 für Carsten | |
| Sz. begründet ein Gericht ausgerechnet mit dessen Anstellung im | |
| Neonaziladen von Antje und Michael P. V-Mann „Piatto“ erfährt von den | |
| Chemnitzern, welche Pläne das dort untergetauchte Trio hat. | |
| „Wir gehen davon aus, dass bei ’Blood & Honour‘-Treffen im September und | |
| Oktober 1998 mehrere Chemnitzer Unterstützer des Trios mit Piatto sowie | |
| zwei weiteren Neonazis aus Thüringen über die Finanzierung und die weitere | |
| Unterbringung der drei gesprochen haben“, sagt Nebenklagevertreter | |
| Scharmer. „Daher halten wir es für absolut notwendig, Carsten Sz. in | |
| München als Zeuge zu hören.“ | |
| ## Brandenburg pocht auf Quellenschutz | |
| Doch genau das will das Innenministerium Brandenburg offensichtlich nicht. | |
| Denn dessen Vernehmung in München birgt viele Unwägbarkeiten. So war im | |
| Bundestagsuntersuchungsausschuss offen geblieben, ob und wie die Fahnder | |
| des Thüringer Landeskriminalamts von Verfassungsschützern über die | |
| Meldungen von „Piatto“ zum gesuchten Trio informiert wurden. | |
| Denn schon 1998 hatte der Verfassungsschutz Brandenburg auf absoluten | |
| „Quellenschutz“ für „Piatto“ bestanden. In Bedrängnis geraten könnte… | |
| der damalige V-Mann-Führer Gordian Meyer-Plath, der seit eineinhalb Jahren | |
| den Verfassungsschutz in Sachsen als neuer Präsident reformieren soll. Und | |
| nicht zuletzt ist die Rolle von Carsten Sz. bei der Waffenbeschaffung für | |
| das Trio völlig offen. | |
| So existiert eine Meldung eines Berliner Neonazis und V-Mannes, wonach | |
| Carsten Sz. ebenjenem Jan W. aus Chemnitz Waffen angeboten haben soll. Dazu | |
| passt eine SMS von Jan W. am 25. August 1998 an das von Carsten Sz. | |
| genutzte Handy mit der Frage „Wo bleibt der BUMS?“, die die Polizei | |
| abgefangen hatte. Und nicht zuletzt wurde Carsten Sz. im Sommer 2000 als | |
| Quelle „Piatto“ abgeschaltet, weil er gemeinsam mit anderen Neonazis unter | |
| dem Label „Nationalrevolutionäre Zellen“ an der Planung von Anschlägen mit | |
| Rohrbomben und Präzisionsgewehren auf Linke beteiligt war. Bis dahin hatte | |
| er 50.000 Euro als steuerfreie Prämien kassiert – genau die Summe, der er | |
| Steve Erenhi an Schmerzensgeld schuldig blieb. | |
| Christoph Kliesing geht inzwischen davon aus, dass sowohl ihm als | |
| Nebenklägervertreter als auch dem NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss | |
| umfangreiche Akten vorenthalten worden sind. Das Motiv: Wahrscheinlich sei | |
| Carsten Sz., anders als bislang immer behauptet, schon seit Februar 1992 | |
| Quelle einer Sicherheitsbehörde gewesen. Ein weiterer Grund, warum seine | |
| Vernehmung vor dem OLG München von den Behörden verhindert werden soll. Ob, | |
| wann und wie Carsten Sz. nun als Zeuge vor dem OLG München aussagen wird, | |
| ist unklar. Das Gericht hat sich bisher noch nicht geäußert. Die | |
| Nebenklägervertreter haben Richter Götzl geben, beim Ministerium zu | |
| intervenieren. Letztendlich ist es eine Entscheidung, die die rot-rote | |
| Landesregierung in Brandenburg treffen muss. | |
| 27 Oct 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Heike Kleffner | |
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