# taz.de -- Neue Proteste in Istanbul: Anderer Park, bewährter Protest | |
> Der Validebag-Park in Istanbul soll bebaut werden, die Anwohner wehren | |
> sich. Wiederholt sich der Protest vom Gezipark? | |
Bild: Mehrere tausend Demonstranten protestierten am vergangenen Samstag gegen … | |
ISTANBUL taz | Der erste Eindruck ist: Das sieht ja aus wie am Gezipark vor | |
einem Jahr. Zwar sind es weniger Demonstranten als im Mai letzten Jahres | |
auf dem zentralen Istanbuler Taksimplatz, aber wieder geht es um die | |
Erhaltung eines Parks und das Recht auf die Gestaltung des Lebensumfeldes. | |
Junge Leute sitzen in provisorischen Zelten, reden, lachen, basteln an | |
Transparenten oder verteilen Tee an Besucher. Die Zelte stehen entlang | |
einer kleinen Straße, die eigentlich in den Validebag-Park führt. | |
Doch der Zugang zum Park ist gesperrt. Absperrgitter der Polizei trennen | |
die Protestierer von einer Baustelle, auf der mit großem Gerät gerade eine | |
Baugrube vorbereitet wird. Zwischen hunderten Menschen und einer Handvoll | |
Bauarbeitern stehen Polizeieinheiten der „Cevik Kuvvet Polis“, der | |
Antiterror-Einheiten der Istanbuler Polizei, die es seit den brutalen | |
Einsätzen rund um den Taksimplatz und Gezipark im letzten Jahr zu einem | |
traurigen Ruhm gebracht haben. Wasserwerfer sind auf das Camp gerichtet, | |
zwischen den Gittern stehen Polizisten mit Maschinenpistolen im Arm. | |
„Wir wollen verhindern, dass hier gebaut wird“, sagt Ayhan, Anfang zwanzig, | |
ein schmächtiger Student der Literatur. Er hat einen leichten Infekt. Seit | |
fünf Tagen und Nächten hält er die Stellung, obwohl Istanbul schon tagelang | |
unter Dauerregen liegt und es nachts inzwischen ungemütlich kalt wird. | |
Die jungen Leute, die trotzdem teilweise bereits seit zwölf Tagen hier | |
campieren, haben ihre Zelte mit zusätzlichen Plastikplanen abgedichtet und | |
nach und nach Decken und Matratzen herangeschafft. Selbst Teile einer | |
ausrangierten Couchgarnitur haben sie organisiert. | |
## Nachbarn bringen Tee und Gebäck | |
Doch es ist trotzdem hart, bei den Bedingungen durchzuhalten. In einem Zelt | |
ist ein Infotisch aufgebaut, nebenan entstand ein Küchenzelt. Dort wird Tee | |
zubereitet, Gebäck steht bereit. „Das kommt von den Nachbarn aus den | |
umliegenden Häusern“, sagt Semra, die am Teeausschank steht. „Die bringen | |
uns so viel vorbei, dass wir gar nicht alles essen können.“ | |
Denn der Protest am Eingang des Validebag-Parks im Istanbuler Stadtteil | |
Üsküdar erfreut sich größter Unterstützung der Anwohner. „Wir brauchen h… | |
keine neue Moschee“, sagte eine Frau, die aus einem der Häuser hinter den | |
Zelten kommt, es gebe genug in der Umgebung. | |
Offiziell geht es um den Bau einer neuen Moschee in einer eher säkularen | |
Oase am Rande des konservativen Bezirks Üsküdar auf der asiatischen Seite | |
Istanbuls. Die Moschee soll genau am Eingang des Validebag-Parks gebaut | |
werden, mit gut 35 Hektar eine der größten verbliebenen Grünflächen im | |
Häusermeer Istanbuls. | |
## Die Moschee ist erst der Anfang | |
Doch die protestierenden jungen Leute befürchten genauso wie die Anwohner, | |
dass mit dem Bau der Moschee nur ein Anfang gemacht werden soll, um den | |
Park mit dem fantastischen Bosporus-Blick für eine weitere Bebauung zu | |
öffnen. | |
Schon ein erster Augenschein bestätigt dies. Der Park ist ein Filetstück. | |
Auf der dem Moscheebauplatz gegenüberliegenden Seite wird das Grün bereits | |
von Neubauten bedrängt. Die Stadtverwaltung lässt den Park absichtlich | |
verwildern, um später sogenannte Umbaumaßnahmen besser begründen zu können. | |
Der Validebag-Park ist deshalb im Moment ein ökologisches Traumrevier, ein | |
Paradies für Vögel und Lebensraum für andere Tiere, die die Großstadt | |
verdrängt hat. | |
Als vor drei Wochen am Eingang zum Park ein erster Bautrupp auftauchte, | |
waren die Bewohner der umliegenden Häuser sofort alarmiert. Eine | |
Stadtteilinitiative trommelte in den sozialen Netzen für Unterstützung und | |
in wenigen Tagen entstand direkt vor dem Bauplatz ein Protestcamp, dessen | |
Bewohner seitdem ständig Zuwachs bekommen. „Es gibt genug Leute, die sich | |
hier engagieren“, erzählt Ayhan, „wenn es jemandem zu kalt wird, geht er | |
für ein paar Nächte nach Hause, und jemand anderes nimmt seinen Platz ein.“ | |
## Ein Etappensieg vor Gericht | |
Es ist dieser Geist des Widerstands, den die Regierung von Präsident | |
Erdogan trotz aller Repression nicht brechen kann. Auch angesichts von acht | |
Demonstranten, die im letzten Jahr infolge der Proteste um den Gezipark | |
durch Polizeigewalt umkamen, trotz Hunderter Verletzter und vieler Prozesse | |
gegen Angehörige der Gezi-Bewegung, die die Staatsanwaltschaft jetzt für | |
Jahre ins Gefängnis bringen will, lassen sich viele Leute nicht | |
einschüchtern. | |
Dabei wissen die Protestler am Validebag-Park genau, womit sie seitens der | |
Staatsgewalt zu rechnen haben. Anfang letzter Woche war die Situation | |
bereits eskaliert. Ein Anwalt der Bürgerinitiative hatte beim | |
Verwaltungsgericht eine Klage eingereicht und die Anordnung eines | |
vorläufigen Baustopps beantragt. | |
Wenige Tage später gab das Gericht dem Bürgerbegehren recht und verhängte | |
einen Stopp bis zur Klärung der Klage in der Hauptverhandlung. Doch die | |
Bauarbeiten gingen unverändert weiter. Die Stadtverwaltung behauptete, bei | |
der einstweiligen Anordnung sei ein anderer Platz gemeint als der, auf dem | |
der Moscheebau vorbereitet würde. | |
## Mit Wasserwerfern und Tränengas | |
Der Anwalt der Initiative wendete sich daraufhin wieder an das Gericht und | |
dies bestätigte, dass seine Anordnung genau den Moscheebau betrifft. Als | |
trotzdem weitergebaut wurde, legten sich die Demonstranten quer – im | |
wahrsten Sinne des Wortes. Sie begannen, die Einfahrt zur Baustelle zu | |
blockieren. Das war das Signal für die „Cevik Kuvvet“ einzugreifen. | |
Mit Wasserwerfern und Tränengas gingen sie gegen die Demonstranten vor. | |
Blockierer wurden an den Haaren weggeschleift, es gab Verletzte, und am | |
Ende zerstörte die Polizei die Zelte, die dem Bauplatz am nächsten standen. | |
Das Protestlager wurde abgedrängt, die Zufahrt für Baufahrzeuge polizeilich | |
gesichert. | |
Jetzt ging auch die von der Regierungspartei AKP gestellte Stadtverwaltung | |
von Üsküdar an die Öffentlichkeit. „Es scheint so“, sagte Hilmi Türkmen, | |
Bezirksbürgermeister von Üsküdar, „dass zu viel Toleranz die Leute wild | |
macht und sie glauben lässt, sie könnten tun und lassen, was sie wollen.“ | |
Auch Präsident Erdogan, dessen Privathaus ebenfalls in Üsküdar liegt, | |
schaltete sich ein und behauptete, den Demonstranten gehe es lediglich | |
darum, aus ideologischen Gründen den Bau einer Moschee zu verhindern. | |
## Die regierungsnahe Presse legt los | |
## | |
Das wiederum war das Signal für die regierungsnahe Presse, eine | |
Diffamierungskampagne gegen die Demonstranten zu starten. Die Unruhestifter | |
seien „Ungläubige“, denen es nicht um die Natur gehe, sondern die gegen die | |
Religion seien, hieß es im regierungsnahen Blatt Yeni Safak. Eine andere | |
Zeitung wollte eine Anwohnerin ausgemacht haben, die gesagt haben soll, sie | |
hätte einfach keine Lust auf den Lärm des Gebetsrufes. | |
Tatsächlich gibt es in der näheren Umgebung des Validebag-Parks bereits 26 | |
Moscheen, weshalb die meisten Anwohner der Meinung sind, für eine weitere | |
Moschee bestehe kein Bedarf. „Sie wollen eine Moschee bauen“, meint Ayhan, | |
„weil sie glauben, wir würden uns nicht trauen, gegen einen Moscheebau zu | |
protestieren.“ Nur deshalb würden sie mit einer Moschee beginnen. „Danach | |
bauen sie Luxuswohnungen und Veranstaltungssäle für Hochzeitsfeiern.“ | |
Ende letzter Woche schien es dann zunächst so, als hätten die Parkschützer | |
einen Teilerfolg errungen. Am Donnerstagfrüh verbreitete sich im Camp die | |
Nachricht, die Bezirksverwaltung hätte die Entscheidung des Gerichts | |
akzeptiert und sei jetzt bereit, die Bauarbeiten einzustellen, bis das | |
Gericht in ordentlicher Verhandlung über die Klage entschieden hat. Der | |
Bürgermeister hatte das am Abend zuvor mitgeteilt. | |
## Erdogans Vertrauter greift ein | |
## | |
Doch die Freude währte nur kurz. Am Freitag sah alles wieder ganz anders | |
aus. Da meldete sich Kadir Topbas, Oberbürgermeister von Istanbul und enger | |
Vertrauter Erdogans, zu Wort. Er sagte, auf Bitten der Istanbuler | |
Moscheenverwaltung hätte die Stadt bei Gericht erfolgreich Beschwerde | |
eingelegt. „Das 7. Istanbuler Verwaltungsgericht hat den Baustopp | |
aufgehoben. Die Moschee wird gebaut.“ | |
Unter den Demonstranten machte sich zunächst Niedergeschlagenheit breit. | |
Der Dauerregen, die Kälte und der Frust über die letzte juristische Wendung | |
führte dazu, dass einige Zelt in der Nacht leer bleiben. Doch ein Teil der | |
Besetzer will trotzdem weitermachen. „Wir bleiben“, sagt Ayhan, „sobald d… | |
Wetter besser wird, kommen die Leute auch zurück.“ Ayhan sollte recht | |
behalten. Zu einer Demonstration waren am Sonntag wieder Hunderte Leute | |
gekommen. Das Wetter spielte mit. Nach zwei Wochen schien endlich wieder | |
die Sonne. | |
4 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Dilek Zaptcioglu | |
Jürgen Gottschlich | |
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