| # taz.de -- Wahrheitskommission in Tunesien: Immer wieder misshandelt | |
| > Seit dem 1. Dezember arbeitet eine Kommission Menschenrechtsverletzungen | |
| > seit 1955 auf. Zwei Opfer sprechen über ihre Erwartungen. | |
| Bild: Demonstration gegen Folter: Tunis, 15. Oktober 2014. | |
| TUNIS taz | Tunesien möchte seine Wunden schließen. Im Sommer wurde von der | |
| Verfassunggebenden Versammlung eine 15-köpfige Instanz für Wahrheit und | |
| Würde (IVD) ins Leben gerufen. Diese hat nach mehreren Monaten Vorbereitung | |
| am 1. Dezember ihre Arbeit aufgenommen. Die Wahrheitskommission wird sich | |
| der rund 50.000 Opfer von Menschenrechtsverletzungen im Zeitraum von 1955 – | |
| einem Jahr vor der Unabhängigkeit des Landes von Frankreich – bis 2013 | |
| annehmen. | |
| 600 Mitarbeiter in 24 Regionalbüros werden Anhörungen durchführen und | |
| Dossiers erstellen. Vorsitzende des IVD ist die 64-jährige Journalistin | |
| Sihem Bensedrine, eine der bekanntesten Menschenrechtlerinnen Tunesiens – | |
| dem Land, in dem am 14. Januar 2011 mit dem Sturz des langjährigen | |
| Diktators Zine el-Abidine Ben Ali der Arabische Frühling eingeleitet wurde. | |
| Die Kommission hat voraussichtlich vier Jahre Zeit, um diese Arbeit zu | |
| bewältigen. | |
| „Ich wünsche der Kommission viel Erfolg“, erklärt Najet Ichéwi. Die 1969 | |
| geborene Frau aus der Hauptstadt Tunis gehört zu den Opfern der dunkelsten | |
| Jahre der Repression. Sie war Ende der 1980er Jahre Pressesprecherin der | |
| Studentengewerkschaft UGTE. 1994 wurde sie wegen ihrer Aktivität zu einem | |
| Jahr Haft verurteilt. Ichéwi erinnert sich: „Auf dem Kommissariat wurde ich | |
| zwei Wochen lang verhört.“ Die junge Frau wurde geschlagen und musste sich | |
| vor rund 50 Polizisten ausziehen. | |
| Dann kam, woran sich die meisten Gefangenen aus jener Zeit mit Grauen | |
| erinnern, das „poulet rôti“ – zu deutsch „Brathähnchen“. Ichéwi wu… | |
| hockender Stellung an Händen und Füßen gefesselt und an einer Stange | |
| kopfüber aufgehängt. Stundenlang wurde sie in dieser Stellung gehalten. | |
| Auch später im Gefängnis wurde die Frau immer wieder misshandelt. Ihre | |
| Stimme stockt, wenn sie davon berichtet. | |
| ## Verfolgung der Täter gefordert | |
| Auch nach Ende der Haft war das Leiden nicht vorbei. „Ich durfte mich nicht | |
| frei bewegen, musste mich ständig bei den Behörden melden“, sagt Ichéwi. | |
| Neun Jahre dauerte es, bis sie ihren Uniabschluss machen konnte. „Die | |
| Behörden verhinderten dies immer wieder“, erinnert sie sich. Als sie 1995 | |
| heiratete, wurde sie zusammen mit ihrem Mann, einem Tunesier aus | |
| Frankreich, erneut festgenommen. „Wir hatten nicht um Erlaubnis | |
| nachgefragt“, erklärt sie. An der ständigen Überwachung ging ihre | |
| Beziehung, aus der sie zwei Kinder hat, letztendlich kaputt. Erst seit der | |
| Amnestie, unmittelbar nach dem Sturz Ben Alis, darf sie wieder arbeiten. | |
| Ichéwi unterrichtet an einem Gymnasium Geschichte und Erdkunde. | |
| Nicht allen Gefangenen aus jener Zeit gelang es, wieder Fuß zu fassen. „Ich | |
| wurde mitten aus dem Studium gerissen und habe bis heute keinerlei | |
| Ausbildung“, berichtet Hamrouni Saber, der arbeitslos ist. Er war gerade | |
| einmal 20 Jahre alt, als er 1991 bei einer großen Razzia gegen die | |
| Islamisten der heute zweitstärksten Partei Tunesiens, Ennahda, verhaftet | |
| und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Saber wurde 2006 freigelassen | |
| und 2011 wie all die anderen amnestiert. „Sie haben uns zwar endlich die | |
| Arbeitserlaubnis gegeben, aber keiner kümmert sich darum, dass wir eine | |
| Ausbildung oder einen Job erhalten“, erklärt Saber, warum es seiner Ansicht | |
| nach mit der Amnestie allein nicht getan ist. | |
| „Allein hier betreuen wir 1.800 ehemalige politische Gefangene“, berichtet | |
| die Vorsitzende der Internationalen Vereinigung zur Unterstützung | |
| Politischer Gefangener (AISPP), Saïda Akrimi. Nach der Machtübernahme Ben | |
| Alis 1987 wurden 35.000 Islamisten aus dem Umfeld Ennahdas sowie rund 1.000 | |
| Linke und Gewerkschafter zu Haftstrafen verurteilt. „Nach den Anschlägen | |
| auf das World Trade Center in New York machte Ben Ali Jagd auf Salafisten“, | |
| berichtet Akrimi. Rund 3.500 wurden verhaftet und zu langjährigen Strafen | |
| verurteilt. | |
| ## Im Kreuzfeuer der Kritik | |
| Ben Ali sah in jedem eine Gefahr, der nach Ansicht der politischen Polizei | |
| zu orthodox gläubig war. Internetcafés wurden überwacht. Wer entsprechende | |
| Seiten anklickte, galt automatisch als Terrorist. Es handelte sich meist um | |
| Studenten. „Der Staat muss an all diesen Opfern Wiedergutmachung leisten“, | |
| fordert Akrimi. Dazu gehöre auch, dass die Täter verfolgt werden. | |
| Das wird nicht leicht. Denn die Wahrheitskommission ist, obwohl sie bisher | |
| noch nicht einmal die eigentliche Untersuchungsarbeit aufgenommen hat, im | |
| Kreuzfeuer der Kritik. Der Vorsitzende der Nidaa Tounes und der mögliche | |
| Staatspräsident Béji Caïd Essebsi beschimpfte nach dem Sieg seiner Partei | |
| bei den Parlamentswahlen vergangenen Oktober die IVD als „Rachemaschinerie“ | |
| und kündigte an, die Kommission auflösen zu wollen. Er selbst ist 88 Jahre | |
| alt und war Innen- und Außenminister unter dem ersten Präsidenten des | |
| unabhängigen Tunesien, Habib Bourguiba. Unter Ben Ali stand er eine Zeit | |
| lang dem völlig machtlosen Parlament vor und gehörte der Einheitspartei RCD | |
| an. | |
| „Essebsi hat kein Interesse an der Aufarbeitung der Vergangenheit“, erklärt | |
| die IVD-Vorsitzende Bensedrine. „Er kann uns allerdings nicht so einfach | |
| auflösen, dazu bräuchte er eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die wird | |
| er nicht bekommen“, ist sich Bensedrine sicher. Sie will die vier Jahre | |
| nutzen und vor nichts und niemandem Halt machen: „Auch nicht vor einem | |
| Staatspräsidenten“, wenn dies nötig sei. | |
| 12 Dec 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Reiner Wandler | |
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