# taz.de -- Tunesien stellt sich der Vergangenheit: Sechs Bände Wahrheit | |
> Die tunesische Wahrheitskommission hat ihren Abschlussbericht vorgelegt. | |
> Sie erhebt schwere Vorwürfe gegen Staatschef Essebsi. | |
Bild: Knapp drei Jahre nach dem „Arabischen Frühling“ wurde die Wahrheitsk… | |
MADRID taz | Der tunesische Präsident Béji Caïd Essebsi war Teil des | |
„Systems der Tyrannei“. Zu diesem Schluss kommt die sogenannte tunesische | |
Wahrheitskommission Instanz für Wahrheit und Würde (IVD) in ihrem | |
sechsbändigen Abschlussbericht, der am Dienstagabend öffentlich vorgestellt | |
und anschließend [1][online veröffentlicht] wurde. Essebsi soll Folter und | |
Repression „befohlen, vorbereitet und vertuscht“ haben. | |
Der 92-jährige Staatschef gehört zu den Veteranen des Regimes, zuerst unter | |
Habib Bourguiba und dann unter seinem 2011 gestürzten Nachfolger Zine | |
el-Abidine Ben Ali. Er hatte das Amt des Sicherheitschefs inne, war später | |
Innen-, Außen- und Verteidigungsminister. Erst in den letzten Jahren der | |
Herrschaft Ben Alis ging Essebsi auf Distanz. Das ermöglichte ihm nach der | |
Revolution ein Comeback als Staatspräsident. | |
Die Ende 2013 unter dem Vorsitz der bekannten Oppositionellen und | |
Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine gegründete IVD fordert von | |
Essebsi eine Entschuldigung. Inwieweit aus dem, was im Bericht aufgeführt | |
ist, juristische Schritte folgen, wird sich zeigen müssen. Essebsi ist der | |
Ranghöchste unter den Politikern, die heute noch im Amt sind, obwohl sie in | |
die dunkle Vergangenheit ihres Landes verstrickt waren. | |
Die IVD hat insgesamt Material über 62.720 Fälle gesammelt. 14 Sitzungen | |
der IVD wurden live im Fernsehen übertragen. Der Untersuchungszeitraum | |
reichte von 1955, einem Jahr vor der Unabhängigkeit von Frankreich, bis | |
2013, zwei Jahre nach der Revolution. 173 Fälle werden mittlerweile | |
strafrechtlich untersucht, weitere werden folgen. Bisher wurden umgerechnet | |
rund eine Million Euro Entschädigung an Opfer und deren Familien | |
ausbezahlt. | |
„Wir arbeiteten in einer feindlichen Umgebung“, beschwerte sich | |
IVD-Vorsitzende Bensedrine immer wieder. Auch im Bericht wird die mangelnde | |
Kooperation seitens staatlicher Stellen bedauert. So blieben der Kommission | |
mehrere Archive verschlossen, unter anderem das des Präsidialamtes. | |
Staatschef Essebsi hatte sich immer wieder gegen die IVD ausgesprochen. Sie | |
sei „ein Staat im Staate“. Es sei „falsch, alte Rechnungen zu begleichen�… | |
sagte er über die Kommission, die eigentlich der Aussöhnung dienen sollte. | |
## Unternehmer zahlen in Fonds ein | |
Neben Menschenrechtsverletzungen untersuchte die IVD auch das Geflecht der | |
Korruption, das Ben Ali aufgebaut hatte. Mehrere Unternehmer zahlten unter | |
Druck der IVD hohe Beträge an den sogenannten Würde-Fonds, aus dem Opfer | |
entschädigt werden sollen. Bis zu 25.000 Menschen könnten darauf einen | |
Anspruch haben. | |
„Wir haben aufgedeckt, wie die Maschinerie funktionierte und wie wir | |
handeln müssen, um zu verhindern, dass das wieder passiert“, erklärte | |
Bensedrine bei der Vorstellung des Berichts, in dem der Regierung | |
unterschiedliche Maßnahmen empfohlen werden: unter anderem eine unabhängige | |
Instanz zur Überwachung und Umstrukturierung der Polizei, sowie ein Gesetz, | |
dass die Unabhängigkeit des Rechnungshofs garantieren soll, der bisher | |
direkt der Regierung untersteht. | |
Bislang haben sich weder Regierung noch Präsidialamt zum Bericht und den | |
Anschuldigungen gegen Essebsi geäußert. Die Regierung müsse „konkrete | |
Maßnahmen ergreifen und das Modell der Straflosigkeit durchbrechen, das den | |
Fortschritt der Menschenrechte seit Jahrzehnten behindert hat“, verlangt | |
die für Tunesien zuständige Sprecherin von Amnesty International, Fida | |
Hammami. | |
29 Mar 2019 | |
## LINKS | |
[1] http://www.ivd.tn/?lang=fr | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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