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# taz.de -- Tunesische Physikerin Faouzia Charfi: „Die jungen Leute hören“
> Tunesien nach den Wahlen – ein Gespräch über die Frau als
> Hoffnungsträgerin, Erfolge der Zivilgesellschaft und die Enttäuschung der
> Jugend.
Bild: Die Hoffnung Tunesiens liegt in ihren Händen: junge Frauen bei einer Wah…
taz: Frau Charfi, Tunesien gilt als einziger Hoffnungsträger des Arabischen
Frühlings. Was macht Ihnen Hoffnung in Ihrem Land?
Faouzia Charfi: Zwei Ereignisse: Zum einen die Verabschiedung unserer neuen
Verfassung nach langem, zähem Ringen. Außerdem die Tatsache, dass wir zum
ersten Mal wirklich demokratisch gewählt haben.
Ein Erfolg der Revolution?
Ich würde sagen, vor allem ein Erfolg der Zivilgesellschaft, die den
Prozess zu einer neuen Verfassung wachsam begleitet hat. Immerhin ging es
ums Wesentliche: um die Stärkung der republikanischen Rechte und
individuellen Freiheiten statt der Übernahme von Elementen der Scharia. Wir
haben nun eine Verfassung, die – bei manchen Schwächen – einen großen
Fortschritt in unserer Geschichte und Kultur bedeutet.
Welche Rolle spielte dabei die Politik?
Nach Meinung vieler BürgerInnen haben nicht die politischen Parteien die
jetzige Verfassung gerettet, sondern die Zivilgesellschaft. Es ist
bemerkenswert, dass sich die Zivilgesellschaft als Partnerin im Prozess des
revolutionären Umbruchs etabliert hat, dass Demokratie sich auf neue Weise
manifestiert.
Als es etwa darum ging, ob Frauen den Männern gleichgestellt sind, hat die
Zivilgesellschaft mit wochenlangen Demonstrationen die Festlegung der Frau
auf Tradition und Familie verhindert. Nach der Ermordung des linken
Politikers Chokri Belaïd ging eine Million TunesierInnen wochenlang auf die
Straße – weil sie sich für den Aufbau der Demokratie verantwortlich
fühlten.
Das hat auch die damals regierenden Islamisten überzeugt?
Auch die islamistische Partei Ennahda mit ihrem konservativen Frauenbild
kam beispielsweise an der Tatsache, dass tunesische Frauen in der
Öffentlichkeit mitspielen, nicht vorbei. Vor allem, da sie ja immer so
demokratisch erscheinen will. Ennadha musste sogar paritätische Wahllisten
akzeptieren. Wissen Sie eigentlich, dass an der tunesischen Universität
mehr Frauen als Männer studieren? Es sind 63 Prozent Frauen. Selbst an den
Ingenieursschulen in Tunesien gibt es 40 Prozent Frauen.
Sind für Sie Frauen die Hoffnungsträgerinnen?
Unbedingt. Schon seit 1956 wird die tunesische Frau im Personenstandrecht
ermutigt, am politischen Leben teilzunehmen. Frauen müssen sich dieses
Recht jedoch nehmen. Sie müssen stärker in den politischen Prozessen
mitmachen. Damit Frauen aktiv an den politischen Entscheidungsprozessen
teilhaben können, müssen aber die sozialen Strukturen dafür geschaffen
werden. Man braucht mehr und gute Kindergärten, bessere öffentliche
Verkehrsmittel.
Viele junge Tunesier und Tunesierinnen haben nicht an den Wahlen
teilgenommen. Die Sieger der Wahlen sind vor allem Männer der älteren
Generation. Haben die jungen RevolutionärInnen jetzt die Hoffnung verloren?
Das ist tatsächlich die dunkle Seite der Entwicklung der letzten drei
Jahre: Dass die Politik die jungen Leute nicht hört, ihnen keinen Raum
lässt. Dabei gibt es viele neue Initiativen und Projekte von jungen
TunesierInnen: in der Kunst, der Ökologie, der Regionalentwicklung. Aber
anstatt sie zu unterstützen, wurden sie, wie manche Künstler, für ihre
Kreativität eingesperrt. Nicht alle sind enttäuscht – aber selbst die, die
sich immer noch engagieren, werfen den regierenden Politkern vor, dass sie
nur kurzfristigen Ziele und eigenen Ambitionen folgen.
Die Herrschaft der alten Männer?
Ja, wir müssen noch viel stärker mit unserer patriarchalen Traditionen
brechen. Wir müssen die Autorität zwischen Jüngeren und Älteren in Frage
stellen. Nicht nur der Lehrer hat Autorität, auch der Schüler ist
verantwortlich. Die junge Generation ist bei uns viel zu lange entmündigt
worden.
Was ist Ihr dringlichster Wunsch für Tunesien?
Dass die jungen Leute endlich gehört werden. Und dass sie in unserem Land
ohne Gewalt leben können. Aber auch, dass sie durch Bildung und Kultur zu
eigenen Lebensprojekten ermutigt werden – gerade dort, wo sie lernen und
studieren. Kulturelle Leere ist genauso zerstörerisch wie die ökonomische
Perspektivlosigkeit für viele. Es ist diese kulturelle Leere, die viele
Jugendliche in die Arme islamistischer Sekten treibt.
23 Dec 2014
## AUTOREN
Renate Fisseler-Skandrani
Edith Kresta
## TAGS
Tunesien
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Olga Grjasnowa
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