# taz.de -- Antisemitismus in Frankreich: „Eine permanente Baustelle“ | |
> In Frankreich kam es zu schweren Verbrechen gegen Juden. Der Soziologe | |
> Michel Wieviorka über den neuen Antisemitismus. | |
Bild: „Vor zwanzig Jahren hätten nach einem antisemitischen Überfall wie in… | |
taz: Herr Wieviorka, antijüdische Aggressionen machen Schlagzeilen in | |
Frankreich. Ist der Antisemitismus in Frankreich auf dem Vormarsch? | |
Michel Wieviorka: Das Phänomen existiert eindeutig, man kann die Zunahme | |
statistisch erfassen. In der jüngeren Vergangenheit haben vor allem die | |
Entführung und Ermordung von Ilan Halimi durch die „Gang der Barbaren“ | |
Aufsehen erregt, die terroristischen Attentate von Mohammed Merah in | |
Toulouse und Montauban sowie der blutige Terroranschlag des Franzosen Mehdi | |
Nemmouche in Brüssel. Dramatisch, auch wenn keine Todesopfer zu beklagen | |
waren, sind danach die Angriffe auf jüdische Geschäfte in Sarcelles und | |
schließlich der kürzliche Überfall auf ein [1][jüdisches Paar in Créteil]. | |
In wenigen Jahren gab es sehr schwere und zum Teil mörderische | |
antisemitische Verbrechen. Hinzu kommen aber jedes Jahr Hunderte von | |
weniger schweren Aggressionen, die von den Behörden in Zusammenarbeit mit | |
jüdischen Organisationen registriert werden. | |
Reden wir von demselben Begriff des Antisemitismus, wenn einerseits | |
islamistische Terroristen gezielt Attentate gegen Juden verüben, wenn in | |
Sarcelles antiisraelische Demonstranten jüdische Geschäfte verwüsten oder | |
diese „Gang der Barbaren“ aus Geldgier einen jüdischen Verkäufer entführ… | |
Bei der Entführung von Halimi oder beim Überfall von Créteil beschränkt | |
sich die antisemitische Dimension der Verbrechen auf ein rassistisches | |
Vorurteil: „Juden haben Geld“. Der Bandenchef der „Barbaren“, Youssef | |
Fofana, wechselte nach seiner Verhaftung die Rolle, der Vorstadtgangster | |
begann, politische Reden wie ein Dschihadist zu halten. Merah und Nemmouche | |
dagegen handelten von Beginn an aus wirklichem Judenhass, sie wollen Juden | |
töten, weil es Juden sind. Und dann gibt es die dritte Variante des | |
Antisemitismus, der den Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern | |
auf die französische Gesellschaft projiziert. Dafür wären die | |
Ausschreitungen in Sarcelles ein Beispiel. Die drei Phänomene unterscheiden | |
sich, doch in allen Fällen ist der Jude Zielscheibe der rassistischen | |
Gewalt. | |
Heute ist der Antisemitismus in Frankreich gerade unter Jugendlichen aus | |
muslimischen Familien verbreitet. Haben diese einfach alte antijüdische | |
Klischees übernommen? | |
Meiner Beobachtung nach ist das eine permanente Baustelle. Es handelt sich | |
da nicht etwa um eine Fortsetzung einer Familientradition. Es ist mehr eine | |
Produktion als eine Reproduktion. | |
Zwischen alten Vorurteilen und antisemitischen Klischees scheint aber | |
gerade in der Vorstadtjugend der Banlieue der Übergang zu einem | |
konstruierten politischen Diskurs oft fließend zu sein. | |
Diese Vorurteile haben tatsächlich eine lange Geschichte, sie wurden | |
weitergereicht, transformiert, angepasst. Mit dem Internet und den sozialen | |
Netzwerken zirkulieren sie unheimlich schnell. Selbst die vom russischen | |
Geheimdienst im 19. Jahrhundert fabrizierten „Protokolle der Weisen von | |
Zion“ findet man auf Arabisch auf unzähligen Blogs und Websites. Wenn in | |
der antisemitischen Propaganda von Israel die Rede ist, was nicht immer der | |
Fall ist, ist nicht immer klar, ob der Ausgangspunkt der Hass auf Israel | |
oder der Hass auf die Juden ist. | |
Oft gilt der zeitgenössische Antisemitismus als französische Erfindung, die | |
auf den „Theoretiker“ Edouard Drumont und dessen Buch „La France juive“ | |
zurückgehe. Auch die Zeitung „Le Monde“ sieht im Antisemitismus „eine nur | |
allzu französische Pathologie“. Zu Recht? | |
Der Antisemitismus ist keine französische Erfindung. Der Begriff wurde Ende | |
des 19. Jahrhunderts in Deutschland oder Österreich geprägt. Auch finde ich | |
es höchst gefährlich, von einer „Pathologie“ zu sprechen. Das verweist ein | |
politisches und gesellschaftliches Problem in den Bereich der Medizin oder | |
Psychiatrie. Das wäre eine irreführende Erklärung. | |
Die antisemitische Ideologie, die den Nazis als Grundlage diente, stammt | |
aus dem 19. Jahrhundert, als in Europa die Nationalstaaten entstanden. Wie | |
ist der Zusammenhang mit dem Nationalismus? Muss man befürchten, dass | |
nationalistische Abwehrreflexe gegen die Globalisierung oder Europa erneut | |
einen Nährboden für den Antisemitismus schaffen? | |
Hüten wir uns vor allzu deterministischen Betrachtungen! Denn erstens ist | |
der Antisemitismus ja viel älter als die europäischen Nationalstaaten. | |
Lange vorher gab es den religiösen Judenhass des Christentums, das die | |
Juden für die Kreuzigung von Jesus verantwortlich machte. Bei der | |
Nationenkonstituierung herrschen allerdings günstige Bedingungen für | |
diverse rassistische Phänomene. Auch hieß es oft, jede Nation müsse ihre | |
Religion haben. Dennoch möchte ich die Bedeutung des Nationalismus für den | |
Antisemitismus nicht überbewerten. | |
Das Christentum hat eine historische Schuld an der Entstehung des | |
Antisemitismus in Europa. Wie steht es mit dem Islam? | |
Das ist sehr verschieden. In der islamischen Welt hatten Christen wie Juden | |
stets das Recht zu existieren. Die Differenzen mit dem Islam sind mehr | |
religiöser Natur, sie betreffen die Auslegung der heiligen Schriften oder | |
den Vorwurf an die Juden, nicht konvertieren zu wollen. Traditionell wurden | |
die Juden in der islamischen Welt als Religion toleriert, aber in sozialer | |
Hinsicht wurden sie als „Dhimmi“, als untergeordnete Menschen behandelt. Ab | |
dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sich mit dem Beginn der | |
Massenkommunikation und mit der Gründung von Israel alles dramatisch | |
verändert. | |
In Frankreich ist es dem Front National gelungen, das rechtsextreme | |
Gedankengut zu banalisieren, zu dem traditionellerweise auch der | |
Antisemitismus gehörte. Heute schwört Marine Le Pen, das sei passé. | |
Die Leute, die den FN gegründet haben, waren meistens sehr antisemitisch | |
eingestellt, gerade mit der Annäherung an die Thesen des Holocaustleugners | |
Faurisson hat der FN in Frankreich für den Antisemitismus eine Bresche | |
geschlagen und trägt somit eine enorme historische Verantwortung. Mit | |
Marine Le Pen an der Parteispitze hat sich etwas geändert. Der | |
Antisemitismus existiert weiterhin im FN, steht aber in Konflikt mit der | |
offiziellen Parteilinie. Marine Le Pen will nicht mehr, dass der FN als | |
antisemitisch gilt. | |
Jean-Paul Sartre hat gesagt, der Antisemitismus sei keine Meinung, sondern | |
eine „Passion criminelle“ (kriminelle Leidenschaft). Wo endet die | |
Meinungsfreiheit? | |
Wir leben in einer Gesellschaft mit einer Kultur der freien und sofortigen | |
Meinungsäußerung. Für einige Leute nun stellen die Juden eine Barriere für | |
die Verbreitung gewisser Ideen dar. Sie protestieren: „Ich will sagen, was | |
ich will. Die Juden wollen nicht, dass ich im Internet zu den Gaskammern | |
andere Thesen verbreite“ etc. Und schließlich sollen die Juden als ein | |
Hindernis für diese freie Internetkultur und Meinungsäußerung gelten. | |
Häufig berufen sich Antisemiten auf ihr Recht, Israel zu kritisieren. Und | |
umgekehrt werden Israelgegner als Antisemiten bezeichnet. Wie wollen Sie | |
das Amalgam zwischen Antisemitismus und Antizionismus vermeiden? | |
Man kann gegen die Siedlungspolitik sein, gegen den Krieg in Gaza, das ist | |
eine Kritik an der Politik. Andere gehen viel weiter und stellen das Recht | |
Israels zu existieren infrage. Ich denke, man muss eine klare Grenzlinie | |
ziehen zwischen der legitimen und demokratischen Kritik an der Politik, die | |
ja auch in Israel selbst zum Ausdruck kommt, und der Forderung, Israel zu | |
vernichten. Bei denjenigen, welche die Existenz Israels infrage stellen, | |
weiß man zudem nicht immer klar, was ausschlaggebend ist. Waren sie zuerst | |
gegen Israel oder waren sie einfach Antisemiten, und Israel wird bloß ein | |
Vorwand für den Judenhass? Viele Juden leben außerhalb von Israel, diese | |
Diaspora ist nicht für die israelische Politik verantwortlich zu machen. | |
Gefährlich ist gerade das Amalgam zwischen Juden der Diaspora und der | |
Existenz von Israel. | |
In Frankreich hat sich laut dem Jahresbericht der Konsultativen Kommission | |
für die Menschenrechte die Akzeptanz sowohl der Muslime wie der Juden | |
verschlechtert. Wie kommt das zum Ausdruck? | |
Vor allem in einer gewissen Gleichgültigkeit. Rassistische Angriffe sind in | |
der französischen Gesellschaft banal geworden. Die Leute fühlen sich | |
weniger betroffen. Vor zwanzig Jahren hätten nach einem antisemitischen | |
Überfall wie in Créteil sehr viel mehr Leute auf der Straße demonstriert. | |
Umgekehrt ist der Antisemitismus zwar sehr aggressiv, aber letztlich doch | |
auf bestimmte Sektoren der Gesellschaft beschränkt. | |
13 Dec 2014 | |
## LINKS | |
[1] /Ueberfall-auf-juedisches-Paar-bei-Paris/!150687/ | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
## TAGS | |
Antisemitismus | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Soziologie | |
Gaza | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Juden | |
Benjamin Netanjahu | |
Islamismus | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Israel | |
Israel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte Israel und Palästina: Der vergessene Konflikt | |
Der Syrienkrieg und die Diktatur in Ägypten lähmen den | |
israelisch-palästinensischen Friedensprozess. Doch der Konflikt ist nicht | |
lange nicht gelöst. | |
Antisemitismus in Frankreich: Die Hälfte der rassistischen Vorfälle | |
Frankreich hat die drittgrößte jüdische Gemeinde weltweit. Im vergangenen | |
Jahr hat sich die Zahl der antisemitischen Übergriffe verdoppelt. | |
Kommentar Antisemitismus in Frankreich: Die Verteidigung der Republik | |
Der Schutz der Juden muss zur Sache aller republikanisch Denkenden werden. | |
Erst dann können das Land und seine Traditionen gerettet werden. | |
Antisemitismus in Frankreich: In der Heimat nicht mehr sicher | |
Die Regierung verspricht Schutz, doch der Antisemitismus in Frankreich | |
nimmt zu. Immer mehr französische Juden emigrieren nach Israel. | |
Mutmaßlicher Anschlag in Frankreich: Mann rast in Menschenmenge | |
Ein Mann hat gezielt Passanten angefahren. Er soll sich auf „Allah“ berufen | |
haben. Dass er wirklich „geistesgestört“ war, können viele nicht glauben. | |
Rechtsruck in Frankreich: Die Mitte fehlt | |
Viele Linke und Bürgerliche sind von Hollande und Sarkozy enttäuscht. Sie | |
wählen aus Protest rechts – so naiv das auch scheint. | |
Krippen-Streit in Frankreich: Ochs und Esel im Hôtel de ville? | |
Der Streit um religiöse Symbole in öffentlichen Räumen hat etwas | |
Operettenhaftes. Und doch geht es in Frankreich um Grundsätzliches. | |
Kommentar Antisemitismus in Frankreich: Angriff auf die „Brüderlichkeit“ | |
Die schockierende Gewalt gegen Juden ist ein Affront für Frankreich. Es ist | |
inakzeptabel, sie mit einer Projektion des Nahostkonflikts zu | |
rechtfertigen. | |
Überfall auf jüdisches Paar bei Paris: Brutaler Angriff schockiert Frankreich | |
Antisemitische Übergriffe haben in Frankreich jüngst stark zugenommen. Nach | |
dem jüngsten Überfall auf ein Paar bei Paris zeigen sich Politiker | |
bestürzt. | |
Linke distanziert sich von „Israel-Kritik“: Der Existenz Israels verpflicht… | |
Der Linke-Vorstand hat sich von israelkritischen Positionen innerhalb der | |
Partei distanziert. Zugleich verwahrte er sich gegen „pauschalisierenden | |
Antisemitismusvorwurf“. | |
Zentralrat der Juden über Antisemitismus: Kein Tabu mehr | |
Am Sonntag gibt Dieter Graumann sein Amt als Chef des Zentralrats der Juden | |
ab. Antisemitismus wird in Deutschland wieder offener ausgelebt, sagt er. |