| # taz.de -- Politiker Patrick Hennings über die Neuen Liberalen: „Ich bin Ge… | |
| > Der gehörlose Politiker Patrick Hennings betreut den Aufbau der Neuen | |
| > Liberalen in Bremen. Er will die Inklusion ganz nach vorn bringen. | |
| Bild: Will Chancengleichheit: Patrick Hennings. | |
| taz: Herr Hennings, warum wollen Sie jetzt in Norddeutschland Politik | |
| machen? | |
| Patrick Hennings: Das hat zum Teil auch private Gründe. | |
| Welche? | |
| Nun, ich sag das mal so: einmal Fischkopp, immer Fischkopp. | |
| Sie meinen, weil Sie in Hamburg geboren sind? | |
| Ja, da bin ich geboren und aufgewachsen und auch bis zum Schulabschluss | |
| dort geblieben. Durch die Ausbildung und durchs Studium bin ich dann viel | |
| rumgekommen – aber jetzt ist meine Mutter seit etwa einem halben Jahr | |
| Witwe. Und ich habe gemerkt, es tut ihr gut, wenn ich sie häufiger besuche. | |
| Natürlich hätte ich dafür auch nach Hamburg ziehen können. Aber hier gab es | |
| eben diese Herausforderung. | |
| Sie koordinieren vom Bundesvorstand der Neuen Liberalen die Gründung eines | |
| Bremer Landesverbandes? | |
| Ja, und auch den Aufbau der Partei in Nordrhein-Westfalen. Ich bin | |
| Ombudsmann im Bundesvorstand, und das gehört zu meinen Aufgaben. Und dann | |
| habe ich gedacht, Bremen, warum nicht. Das ist mal was ganz anderes. | |
| Aber Hamburger und Bremer sind sich doch oft gar nicht so grün? | |
| Das verstehe ich eben nicht, warum das so ist. Ich verstehe auch nicht, | |
| warum man in Hamburg nicht mit der Lederhose rumlaufen kann, ohne dass | |
| einen die Menschen dort gleich abwertend beurteilen. Warum nicht? Finde ich | |
| schade. Ich meine: Ich würde es nicht tun, aber wenn es ihnen Spaß macht – | |
| sollen sie doch! | |
| Und jetzt werden Sie Bremerhavener Spitzenkandidat der Neuen Liberalen bei | |
| der Bürgerschaftswahl 2015? | |
| Das muss die Basis entscheiden. Es steht auch noch nicht fest, ob und wann | |
| wir einen Landesverband gründen. Aber als Basisdemokrat hätte ich | |
| persönlich ohnehin ein Problem damit, zu kandidieren: Ich finde doppelte | |
| Ämter fragwürdig. Es käme mir so vor, als würde ich meine Arbeit im | |
| Bundesvorstand ausnutzen, um hier vorne auf der Liste zu landen. Das will | |
| ich nicht. | |
| Lässt sich das in der Gründungsphase einer Partei überhaupt vermeiden? | |
| Wenn die Basis das so sagen würde, wäre das in Ordnung. Ich bin | |
| Pragmatiker. Aber ich werde mich nicht aufstellen. Ich bin auch nicht von | |
| mir aus bei der Wahl zum Bundesvorstand angetreten – sondern vorgeschlagen | |
| worden. Und das Gleiche war bei der Europawahl: Da bin ich auch erst | |
| angetreten, trat ich erst an, nachdem ich je ein Votum vom Arbeitskreis | |
| Inklusion im Land Nordrhein Westfalen, dessen Sprecher ich war, der | |
| Landesarbeitsgemeinschaft Soziales und der Bundesarbeitsgemeinschaft | |
| Behindertenpolitik bekommen hatte. | |
| … aber der Bundesparteitag hat Sie im Februar nicht auf die Liste gewählt. | |
| Das ist richtig: Insgesamt hatten sich drei SozialpolitikerInnen beworben, | |
| eine gehörlose Frau, Christine Linnartz, damals Vizepräsidentin für den | |
| Deutschen Gehörlosenbund, dann Elisabeth Schroedter aus Brandenburg, die zu | |
| der Zeit noch Mitglied im Europaparlament war – und ich. Frau Schroedter | |
| trat nach zwei verlorenen Wahlgängen gar nicht mehr an, Frau Linnartz | |
| schaffte es zwar noch auf einen Listenplatz, der jedoch von vornherein | |
| aussichtslos war, und ich schaffte gar keinen Listenplatz, trotz der Voten. | |
| Ich habe aber danach Ämter bekommen … | |
| Sie haben, statt nach Brüssel zu gehen, ein Mandat im Rat der Stadt | |
| Stolberg bei Aachen gewonnen: Sind Sie aus Frust bei den Grünen | |
| ausgetreten? | |
| Ich bin überhaupt nicht bei den Grünen ausgetreten. | |
| Sie sitzen als Grüner im Bundesvorstand der Neuen Liberalen?! | |
| Nein, aber das liegt daran, dass die Grünen, anders als wir, ein Problem | |
| mit Doppelmitgliedschaften haben. | |
| Was heißt das? | |
| Ich darf bei denen nicht Mitglied sein, wenn ich gleichzeitig in einer | |
| anderen Partei Mitglied bin. Das war aber nicht meine Entscheidung. Was | |
| stimmt, ist: Ich habe gemerkt, dass ich mit meinem Thema bei den Grünen in | |
| NRW einfach nicht weiterkomme. Das liegt nicht am Landesvorstand, der hat | |
| mich immer sehr gut unterstützt. Und es liegt auch nicht am Bundesvorstand. | |
| Sondern: Die Basis der Partei interessiert sich dafür nicht mehr so sehr. | |
| Die Kreis- und Ortsverbände haben oft ganz andere Schwerpunkte als | |
| Sozialpolitik. | |
| Und mit einer neuen noch in Gründung befindlichen Partei glauben Sie, Ihr | |
| Thema besser voranbringen zu können? | |
| Oh ja: Schauen Sie doch einfach drauf. Bei den Grünen in NRW war ich | |
| Sprecher einer LAG und hatte ein lokalpolitisches Mandat. Jetzt sitze ich | |
| im Bundesvorstand. Das ist doch eine bessere Ausgangsposition. Über dieses | |
| Amt kann ich mein Thema ganz nach vorne bringen und kann das bundesweit | |
| tun, es gibt auch schon ein ganzes Team, und wir haben den Konsens: | |
| Sozialpolitik ist Inklusion. | |
| Und dafür haben Sie die Partei mitgegründet und ziehen von Stolberg nach | |
| Bremerhaven? | |
| Ich denke, wenn man ein Anliegen hat, eine eigene Vision, dann sollte man | |
| immer den Weg gehen, auf dem man ihrer Verwirklichung am bequemsten näher | |
| kommt: Ich komme in NRW nicht weiter mit meinem Thema, höchstens auf | |
| kommunaler Ebene … | |
| … und da ließ sich zu wenig bewirken …? | |
| Ach, das war schon ein guter Start: Ich saß als einziger Grüner im | |
| Ausschuss für Kultur, Bildung Sport und habe mich da eigentlich gut | |
| durchsetzen können. Einmal habe ich sogar einen echten Wutanfall gekriegt. | |
| Wobei denn? | |
| Es ging um das Thema Förderschulen. Da bin ich ja dagegen: Förderschule ist | |
| Rassismus. | |
| Rassismus? | |
| Sozusagen, ja. Förderschulen bedeuten strukturelle Diskriminierung. Wir | |
| separieren da Menschen. Und in Stolberg gab es zwei Förderschulen. Der | |
| Ausschuss wollte beide beibehalten, da habe ich den Kompromiss erschrieen, | |
| sozusagen, dass wenigstens nur eine erhalten bleibt. Das war ein harter | |
| Kampf. | |
| Sie haben den Kompromiss erschrieen? | |
| Natürlich nicht! Ich habe argumentiert. | |
| Aber beharrlich? | |
| So kann man es ausdrücken. | |
| In Bremen ist man da aber schon weiter. | |
| Genau. Deshalb versuche ich, hier Politik zu machen, weil ich das weiß. | |
| Bremen ist da auch weiter gekommen als Hamburg: Hier gibt es einfach schon | |
| mehr Menschen, mit denen ich das Thema parteiübergreifend voranbringen | |
| kann. Und die muss ich haben. | |
| Was genau ist denn Ihr Antrieb, um Politik zu machen? | |
| Ich glaube, ich bin von klein auf ein Gerechtigkeitsfanatiker. Es ging mir | |
| immer besser als den anderen. | |
| Inwiefern? | |
| Meine Familie hat mich sehr stark gefördert. Meine Eltern hatten die | |
| Mittel, mir die besten Hörgeräte zu besorgen und mir logopädische | |
| Unterstützung zu beschaffen. Das hatten meine Klassenkameraden nicht – und | |
| das fand ich immer schlimm. | |
| Schlimm? | |
| Richtig schlimm. Das ging für mich einfach nicht. Ich weiß nicht warum, das | |
| ist eine Veranlagung, das ging mir immer so. Das habe ich immer gehabt. Und | |
| das war auch der Grund, warum ich immer Klassensprecher sein wollte, weil | |
| ich wusste, ich kann, von der Sprache her, am besten vermitteln. Ich wollte | |
| nicht über meine Mitschüler bestimmen, sondern für sie etwas erreichen. Das | |
| ist heute noch immer so. | |
| Sie waren auf der Gehörlosenschule? | |
| Nein, ich kam auf die Integrationsschule – so hieß das früher. Da konnten | |
| auch Taube unterrichtet werden, wenn sie genügend Intellekt hatten. Darüber | |
| kann man sich bereits trefflich streiten – was ist das: „genügend | |
| Intellekt“? Das fand ich schon mal total unmöglich. Das ist ja auch eine | |
| Form der … | |
| … Etikettierung? | |
| Der Diskriminierung und Ausgrenzung! Du bist doof, du bist klug – | |
| furchtbar! Schlechte Schüler haben Charakter. Die tun nicht, was der Lehrer | |
| sagt. | |
| Und Sie sind trotzdem auf die Integrationsschule gekommen? | |
| Die Behörde hielt mich für bekloppt. Die wollte mich aussortieren – und auf | |
| die Gehörlosenschule schicken. Ich hatte allerdings das Glück, dass meine | |
| Eltern sich stark gemacht haben für mich – und als Journalisten auch | |
| wussten, wie man da Druck machen kann. Ich kam also auf die | |
| Integrationsschule, habe dann dort mittlere Reife gemacht, bin von da mit | |
| sieben Mitschülern aufs Gymnasium rübergekommen, wo ich am Ende Abitur | |
| gemacht habe. Und wenn ich mir jetzt so die sieben anschaue und mit den | |
| anderen vergleiche, dann sieht man: Diese sieben, die sind integriert. Die | |
| leben nicht im Gehörlosen-Verein, die bewegen sich wie jeder andere auch in | |
| der Gesellschaft, die sind selbst auch offen für Andere. Denn Inklusion | |
| erfordert ja Offenheit von beiden Seiten. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Ich muss ja schließlich auch Rücksicht auf Sie nehmen. Natürlich brauche | |
| ich mein Gerät als Hilfe. Sie tragen ja auch eine Brille: Sie sehen | |
| schlecht, ich höre schlecht, wir kommunizieren beide sehr gut. Ich könnte | |
| auch gebärden. | |
| Dann säße ich dumm da – und mein Rekorder wäre völlig unnütz! | |
| Keine Angst. Ich tu’s nicht. Aber es wäre für mich bequemer. Also muss ich | |
| mit mir selber Koalitionen bilden, mein Bedürfnis nach Bequemlichkeit | |
| zurückstellen, damit Sie mich besser verstehen. Das ist Fairness, das ist | |
| Rücksichtnahme: Das bedeutet Inklusion. Das geht. Und das versuche ich | |
| überall zu kommunizieren. Es geht um die Einstellung. | |
| Was machen Sie wenn’s schief geht, wenn die Partei bei den | |
| Bürgerschaftswahlen in Hamburg und in Bremen scheitert …? | |
| Scheitern? Das Wort finde ich ohnehin zweideutig. Was soll denn scheitern | |
| heißen? Es wäre doch schon eine Riesensensation, wenn wir in einen der | |
| Landtage überhaupt einzögen. | |
| Aber ein Dämpfer wäre es doch schon? | |
| Nein, das wäre kein Dämpfer: Selbst wenn wir beim ersten Anlauf drei | |
| Prozent bekämen, und laut Umfragen haben wir darauf Aussichten, wäre das | |
| doch sensationell, ein großer Erfolg, eben weil es der erste Anlauf ist, | |
| und die Partei existiert doch erst seit September. | |
| Seit dem Gründungsparteitag? | |
| Der war am 28. September, aber wir hatten 14 Tage vorher schon eine | |
| Gründungsversammlung mit 24 Leuten. Da war ich auch dabei. Ich bin ein | |
| echtes Gründungsmitglied. | |
| Aber einen Bremer Landesverband gibt es noch nicht. | |
| Das stimmt. Für die Wahl ist das aber gar nicht so wichtig. Wahllisten | |
| können auch über den Bundesvorstand aufgestellt werden. Wir werden hier | |
| jetzt erst mal einen Ortsverband gründen. Für einen Landesverband braucht | |
| man schon ganz schön viel Manpower, also aktive Leute plus ihre | |
| Stellvertreter, und die müssen nicht nur da sein und bereit, sich zu | |
| engagieren, sondern eben auch gut zusammenarbeiten können. Ich bin insofern | |
| eher überrascht, dass das in Hamburg so gut funktioniert. Ich hätte nicht | |
| damit gerechnet. | |
| In Bremen sind Ihre Chancen nach allgemeiner Einschätzung deutlich geringer | |
| als beispielsweise in Hamburg … | |
| Ach, mich interessiert nicht, was die anderen Leute sagen – ich habe da so | |
| meine Meinung. Ich würde sogar sagen, ganz im Gegenteil, Bremen ist | |
| vielleicht besonders reizvoll, weil die FDP hier schon so lange tot ist. | |
| Die Position des Liberalismus ist vakant, und das schiefe Bild vom | |
| Liberalismus, das die FDP geprägt hatte, ist hier schon viel stärker | |
| verblasst. | |
| Wenn man’s so angeht, okay, aber … | |
| Das sieht in Hamburg ja anders aus. Die waren ja in der Bürgerschaft, die | |
| FDP hatte dort mehr Stimmen als Die Linke, was ja erstaunlich ist. Das ist | |
| in Bremen anders, weil die FDP gar nicht mehr da ist. Hier kann man freier | |
| darüber nachdenken, wie lässt sich der Liberalismus nach vorne bringen – | |
| aber so, wie wir ihn verstehen. Und wie gesagt: Wir sind jetzt nicht unter | |
| Zeitdruck. Wenn es diesmal nicht klappt, klappt es eben in vier Jahren. | |
| 2 Jan 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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